Ich kann nicht mehr sicher sagen, wann ich das Manuskript «Auslöschung» geschrieben habe, vor oder nach dem Massaker der Hamas in Israel. Ich erinnere mich an die Nachrichten aus dem Gazastreifen. Ich glaube, in jenen Wochen hat mich Lichtenberger dazu überredet, mit ihm nach Berlin zu fliegen. Ich erinnere mich an den Abend im Haus der Kulturen, in dem das Erste Deutsche Fernsehen die prominenten Gäste gefilmt hat: Berühmtheiten aus Politik, Kultur und Medien.
Lichtenberger hat für unsere Reise die Kosten übernommen, weil er wusste, dass ich pleite bin. Er hat mir einen neuen Anzug gekauft, damit ich mich in der Berliner Gesellschaft nicht blamiere. Mehrmals hat er mich an solche Anlässe geschleppt, aus Mitleid und aus dem Drang heraus, seinen Einfluss geltend zu machen.
Lichtenberger feiert als Theaterregisseur Erfolge und wollte mich als Schriftsteller in der Szene etablieren und allen beweisen, dass er nicht nur ein guter Regisseur ist, sondern auch ein Literaturkenner. Aber Lichtenberger konnte schon damals, nach Veronikas Selbstmord – Lichtenbergers Schwester –, nicht verhindern, dass mich die Kulturszene zurückgewiesen hat. Weil ich es nach Veronikas Tod gewagt habe, eine eigene Religion zu haben unabhängig von der offiziellen, westeuropäischen Kulturreligion. Dafür hat man mich exkommuniziert, denn die Hohepriester, die auch in den Redaktionen und Regierungen sitzen, fordern den vollen moralischen Gehorsam für ihre Dogmen, und sie erwarten, dass du ihren Gesinnungscocktail täglich hinunterschluckst.
Lichtenberger, der als etablierter Regisseur solche Rituale gewohnt ist, bleibt während der ersten halben Stunde in meiner Nähe. Er versucht mich mit wichtigen Personen bekannt zu machen. Personen, die Lichtenberger alle zu respektieren scheinen, weil mein Freund immer so clever gewesen ist, die Dogmen der Kulturkirche niemals in Frage zu stellen. Deswegen gehört Lichtenberger längst selbst zur Oberklasse und wirkt an diesem Abend so geschmeidig und höflich wie die anderen.
Ich versuche mich von der «guten Stimmung» anstecken zu lassen, von der alle sprechen. Für eine kurze Zeit, nach dem zweiten Drink, gelingt es mir – sodass ich mir sage, dass es vielleicht doch kein Fehler gewesen ist, herzukommen. Dass ich nicht immer so streng mit mir und den anderen sein sollte, um nicht die totale Verbitterung zu riskieren, sondern dass ich lieber versuchen sollte, mich für die Menschen hier zu öffnen. Dass ich für diese Menschen empfänglich sein sollte, um mich von ihrer Leichtigkeit, wie ich mir vorstelle, tragen zu lassen.
Und vielleicht bedeuten mir solche Anlässe am Ende immer noch etwas. Weil ich immer noch, Jahre nach dem Glaubensabfall, die offiziellen Segnungen und Pontifikalämter der Kultur-Oberklasse begehre. Weil es mir an diesem Abend in Wahrheit gar nicht so schwerfällt, mit den Leuten anzustoßen, mit den Kristallgläsern und den weißgoldenen Champagnerperlen. Weil ich diese Leute in Wahrheit bewundere, ihre Herrenausstatter-Anzüge ebenso wie die enganliegende Vulgarität ihrer Seidenkleider.
Ich stehe mitten im Luxusgedränge, als es mir den Atem verschlägt, weil ich unter den Gästen plötzlich Veronika erblicke. Veronika, die seit sechs Jahren tot ist. Veronika, die sich vor sechs Jahren auf die Schienen gelegt hat, unter das pünktliche Tonnengewicht der Schweizerischen Bundesbahnen. Ich sehe die langen schwarzen Haare und die Augen. Die Augen, die mein Herz verschluckt und nie wieder herausgerückt haben. Wie kann Veronika hier sein? Unter diesen humanistischen Masken und Gesten, vor der großen hinteren Spiegelwand des Berliner Festsaals, in der alles doppelt und dreifach schön aussieht? Ich sage mir, dass ich mir das einbilde, dass es an meinen Nerven liegen muss. Diese Frau, die ich für Veronika halte, sieht Veronika nur ähnlich, und sobald ich mich nähere, werde ich die böse Täuschung durchschauen. Das geschieht aber nicht, als ich mich nähere, sondern ich denke, dass sie es doch ist, weil keine Frau eine solche Ähnlichkeit mit Veronika haben kann. Unmöglich.
Mein Atem stockt, und ich frage mich, ob ich sie berühren soll. Ich frage mich, ob ich ihre Hand nehmen und sie festhalten soll und dann – hineinsinken in den Augenblick. Es kommt nicht so weit. Veronika dreht sich um und entfernt sich schnell, als habe jemand dringend nach ihr verlangt. Ich folge ihr und verliere sie im Gedränge des Saals. Unterwegs frage ich den Shakespeare-Darsteller Z. und ein paar Geistesgrößen aus dem Feuilleton, die mir entgegenkommen, ob sie die langen schwarzen Haare gesehen haben. Niemand weiß, von wem ich spreche. Niemand weiß, wer Veronika ist, und wie könnten diese Leute auch wissen, wer sie ist und wie sie mich schon vor Jahren verfolgt hat, beim Schreiben und beim Schlafen, verfolgt bis in die Kirche, in die ich geflüchtet bin, um zu beten.
Ich habe das Gefühl, zu schwitzen, zugleich ist mir kalt. Dann bemerke ich, wie die Gäste beginnen, für den offiziellen Teil des Abends an ihren Tischen Platz zu nehmen: Ein Diner mit Vorträgen, Laudationen und Musik. Ist das alles nur eine Inszenierung? Die Gäste sehen jedenfalls genauso aus wie die Gäste am realen Abend in Berlin. Ich erinnere mich, wie die Gäste in Berlin an jenem Tag auf die exakt gleiche Weise in der exakt gleichen Reihenfolge auf den exakt gleichen Stühlen Platz genommen haben. Genau wie die Gäste hier, die sich vollkommen lebensecht bewegen, durch nichts als Schauspieler zu erkennen. Brav sitzen sie da und lauschen der Eröffnungsrede des Bundespolitikers W., die vom Team des Ersten Deutschen Fernsehens gefilmt wird.
Währenddessen frage ich mich, warum ich mich so gut an alles erinnere, selbst an die Rede des Bundespolitikers – wo ich mich doch sonst nie an die Rede eines Politikers erinnert habe: nicht an einen Satz, nicht an einen Gedanken, den je ein Politiker geäußert hat, vorausgesetzt, es wurden in den Sätzen dieser Politiker je Gedanken geäußert. Was geschieht als nächstes? Applaus, natürlich. Alle Gäste klatschen in die Hände, auch ich klatsche in die Hände, obwohl ich gar nicht in die Hände klatschen will und wahrscheinlich niemand hier in die Hände klatschen will.
Da erhebt sich der Literaturnobelpreisträger X. von seinem Platz und geht nach vorne ans Podium, um ebenfalls eine Rede zu halten, über die gemeinsamen Werte Europas, die wir «gegen jeden politischen und religiösen Radikalismus» verteidigen müssten. Werte, die schon lange nicht mehr existieren, falls sie je existiert haben, die der Literaturnobelpreisträger aber mit einer solchen Sprachkunst und Erhabenheit beschwört, dass für einen Moment alle daran glauben.
Dann fällt der erste Schuss. Die losgefeuerte Kugel fliegt in Richtung Podium und reißt ein Loch in den Gedankenteppich des Literaturnobelpreisträgers. Dieser hat noch Zeit, sich an die Brust zu fassen und zusammenzusinken, bevor weitere Kugeln abgefeuert werden und in der großen Spiegelwand hinter dem Podium Löcher hinterlassen, wie Spinnennetze aus Diamantsplittern.
Auszug aus:
Giuseppe Gracia, Auslöschung. Roman. Fontis, Paperback, 128 Seiten, 15,90 €.