„Folge deinem Herzen“, empfehlen uns zahlreiche Lebensratgeber – so, als ob das Vertrauen in die als kalt und gefühllos verfemte Vernunft Entscheidungen grundsätzlich in die falsche Richtung lenken würde. Dem Judentum war eine solche sachwidrige Entgegensetzung fremd, im Herzen findet sich für König Salomo die Stimme der Vernunft.
Vernunftverachtung prägt heute weite Teile des philosophischen Denkens. Das hat nachvollziehbare Gründe. Schließlich stand ein auf funktionale Rationalität verengter Vernunftbegriff Pate für die Logistik des Holocaust – unter Berufung auf eine „berechnende“ szientistische Vernunft, die nur noch zur Bestimmung der Mittel für einen vorgegebenen Zweck nützlich schien und die Überprüfung von Handlungszielen selbst nicht mehr zu ihren Aufgaben rechnete. Der Mensch unter der Herrschaft dieser instrumentellen Vernunft ist ein verlorenes Rädchen im Getriebe einer zweckblinden Rationalität, deren Ziele von beliebigen Interessen – Macht, Geld, Einfluss – vorgegeben sind. Vernunft scheint demnach in Verruf gekommen. Kann man ihr nicht mehr über den Weg trauen? Ist sie womöglich nur eine Hure der Macht? Teile der späten Moderne haben im Licht solcher Schreckenserfahrungen – der „rationalen“ Logik des Terrors – die Vernunftverachtung zu ihrer Glaubensüberzeugung werden lassen. Wo aber Vernunft nichts mehr gilt, beginnt die Herrschaft der Fake News. Kann ein Leben ohne Vernunftvertrauen gelingen?
Die Vernunft brachte Ratzinger und Habermas zusammen
Zwei bekannte Persönlichkeiten, geschätzt als Theologe der eine und als Philosoph der andere, haben jeder Form von Vernunftverachtung stets mit Nachdruck widersprochen – zwei Männer, die am 19. Januar 2004 zu einem denkwürdigen Gipfelreffen in der Katholischen Akademie in München zusammenfanden; beide darum bemüht, Vernunft trotz aller ihrer offenkundigen Schwächen als denk- und handlungsleitende Kraft zu verteidigen, auch wenn ihr Denken ansonsten durch einen tiefen Graben getrennt ist: Joseph Ratzinger und Jürgen Habermas. Beide verstehen ihr Nachdenken als eine Reflexion auf die Kraft wie auf die Grenzen der Vernunft: Sie ist der gemeinsam geteilte Bezugspunkt, ohne den die Münchener Debatte ins Leere gelaufen wäre.
Zu den häufig bei Joseph Ratzinger zu lesenden Feststellungen gehört der Satz: „Ohne Vernunft verfällt der Glaube“, jedenfalls der christliche. Allgemeine Menschenvernunft: Das ist die schlechterdings unverzichtbare Voraussetzung für die Mitteilung dieses Glaubens in eben diesem Medium, aber auch für die seiner Verbreitung notwendig vorangehende Vorbereitung und nachfolgende Grundlegung. Warum? Die Enzyklika „Fides et Ratio“ von Papst Johannes Paul II. gibt in Ziffer 48 eine unmissverständliche Antwort: „Der Glauben, dem die Vernunft fehlt, hat Empfindung und Erfahrung betont und steht damit in Gefahr, kein universales Angebot mehr zu sein.“ In einer Zeit, die so ganz auf Empfindung, Gefühl und Erfahrung setzt, ist dieser Satz von ungeheurer Sprengkraft. Denn nicht die heute so beliebte Frage: „Was macht das mit mir“? steht im Vordergrund. Es geht nicht um das eigene Ich und seine Befindlichkeit, es geht es um den Glauben und seine Wahrheit, genauer: Es geht um die Vernünftigkeit des Glaubens um seiner Universalität willen. Denn was wahr ist, gilt immer universal.
Ohne Vernunft kein tiefer Glauben
Die Universalität des Glaubens bedarf der Universalität der Vernunft. Sicher, zum Glauben kommt man nicht durch Klugheit und Wissen, man erfährt ihn als eine Berufung. Doch was ist das für ein Glaube, zu dem ein Christ berufen wird? Die Berufungs- und Glaubensgeschichte, die Paulus von Tarsus bezeugt, macht das beispielhaft deutlich. Seine Berufung – eine grundstürzende Gotteserfahrung – ist noch nicht der Glaube, sondern nur das Tor, das man durchschreitet, um anschließend zum Glauben zu finden. Damit eine Erfahrung zu einem Glauben gerinnt, also habituell wird, muss sie gedeutet und begriffen werden. Das vollzieht sich im Licht der Vernunft. Ansonsten bleiben nur Verwirrung und Bestürzung – denn ohne die sinndeutende Kraft der Vernunft bleibt eine Erfahrung unverstanden und blind. Nur die Vernunft vermag eine Erfahrung so zu deuten, dass sie wirksam fortlebt.
Paulus selbst ist dafür das beste Beispiel. Seine Bekehrungsgeschichte folgte mindestens drei Schritten: dem Weckruf – der Gotteserfahrung, die ihn zu Boden stürzen ließ -, der sich daran anschließenden Blindheit und Verwirrung samt der Erfahrung der heilenden Kraft Gottes in Gestalt des Hananias (Apg 9, 10 19), sowie schließlich der grundlegenden Umdeutung seines bisherigen Glaubens unter gänzlich neuen Vorzeichen, aber im Bekenntnis des gleichen, einen und einzigen Gottes Jahwe. Diese Kehre ist eine so unbedingte, das ganze Denken und Leben umfassende, dass sie grundstürzender nicht sein könnte: Es ist die Kehre vom Verfolger zum Verfolgten. Die Perspektive, unter der Gott, der zuvor wie danach als der eine und einzige begriffen wird, hat sich ausschlaggebend verändert. Wie jeder Mensch, der eine Berufung erfährt, hat auch Paulus diese Erfahrung deuten müssen, um sie zu verstehen. Jede Deutung ist ein Wirken der Vernunft. Ihre Bewährung findet sie im Experiment des „bestandenen Menschseins“.
Wider eine überhebliche Vernunft und Aberglauben
Mit anderen Worten: Vom Schicksal der Vernunft hängt entscheidend das Schicksal des Glaubens ab. Stolpert die Vernunft, wankt der Glaube; ermüdet sie, so verwelkt dieser. Denn Glaube bedarf der Vernunft, um in sich Stand zu gewinnen, wie diese des Glaubens bedarf, um sich nicht zu überheben. Eine überhebliche Vernunft, die meint, das Geschäft des Glaubens mitbesorgen zu können, ist gefährlich blind gegenüber den eigenen Schwächen. Nur eine – weder hochmütig sich selbst überschätzende noch missmutig sich selbst verachtende – Vernunft, die ihre Grenzen kennt, bekommt für den Glauben Platz – und nur ein Glaube, der auf die Vernunft hört, schützt sich vor dem Absturz in den Aberglauben.
Die These, dass dem Verfall des Glaubens die Ermüdung der Vernunft vorangeht, mag auf den ersten Blick manch einem so überraschend wie erläuterungsbedürftig erscheinen. Aber verhält es sich bei näherem Hinsehen nicht tatsächlich so? Weil die postmoderne Misologie – Vernunftverachtung – jener Boden ist, auf dem die Unfähigkeit zu glauben gedeiht, insofern diese Unfähigkeit eine Folge der Selbstverachtung der Vernunft ist? Mir scheint, dass viele gute Gründe für die Behauptung eines solchen Zusammenhangs sprechen.
Soweit ich sehen kann, ist diese These Ratzingers nie gründlich rezipiert worden. Aber wenn es so ist, dass die heute so ausgeprägte Haltung, den Maßstab der Vernunft zu entmachten, eine entscheidende Voraussetzung für ein Verklingen des Glaubens ist, kann kaum überraschen, dass sich Surrogate des Glaubens, die jeder Vernunft Hohn sprechen – vielleicht gerade deshalb, weil sie bar jeder Vernünftigkeit sind – größter Beliebtheit erfreuen. Esoterische Rituale treten an die Stelle liturgischer Sakramentalität. Die Grenze zwischen Gott und Abgott verwischt. Wenn die begriffliche wie sachliche Unterscheidung zwischen Glauben und Vernunft verblasst und allmählich in Vergessenheit gerät, bürgert sich ein ganz anderer, von aller Vernunft abgelöster Begriff von Glauben ein.
Ratzingers und Habermas Dialog muss weitergeführt werden
Dem würde Jürgen Habermas wohl kaum widersprechen. Auch er ist auf der Suche nach der rechten Vernunft und deren Allgemeingültigkeit. Doch sein Begriff kommunikativer Rationalität kann bestenfalls eine Vorstufe sein zu jenem Begriff von Vernunft, der seine Scheuklappen ablegt und bereit ist, sich an die Grenzen des Denkens vorzutasten. Denn dass eine sich allzu ängstlich selbst beschränkende Vernunft ins Elend führt, hat Kant scharfsinnig bemerkt, indem er darauf hinwies, dass unsere Sehnsucht nach dem, was unser Denken am Ende übersteigt, aus der Vernunft selbst kommt, also gerade nicht unvernünftig ist. Die Vernunft läuft vor sich selbst davon, wenn sie zu müde wird, um diese Frage noch zuzulassen.
Die Vernunft in neue Weite führen
Wie es scheint, ahnt Habermas diese Schwierigkeit selbst, wenn er sein Alterswerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ mit einer aporetischen – ja, melancholischen – Feststellung beendet: „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern.“ Der Widerstreit zwischen einer verengten und einer geweiteten Vernunft lässt sich unter der Vorgabe postmetaphysischen Denkens nicht auflösen. Wenn der Glaube versandet, weil die Vernunft ermüdet, dann verweist uns Ratzinger auf die Aufgabe, wieder neu deren „Weite“ zu entdecken. Nur unter dieser Voraussetzung kann es – wenn überhaupt – eine Übersetzung im Sinne von Habermas geben.
Mir scheint, Ratzinger hat diesen Zusammenhang schon sehr früh – geradezu hellsichtig – erkannt, wenn er treffend von einer „rationalitätsmüden europäischen Situation“ in unserer Gegenwart spricht. In immer neuen Anläufen, unzähligen Reden und Ansprachen, unternimmt der den Versuch, die in Europa sich selbst als ermüdet wahrnehmende Vernunft aufzuwecken und in eine Weite zu führen, die ihrem Vermögen entspricht: indem sie nicht nur die Mittel, sondern stets auch die Zwecke prüft. Angesichts des schwindenden Vertrauens in die Kraft der Vernunft setzte zuletzt die „Regensburger Vorlesung“ einen vernehmbaren, unüberhörbaren Kontrapunkt.: Vernunft gehört unabdingbar zum Wesen Gottes.
Der Text folgt in Teilen dem aus der Feder des Verfassers Anfang des Jahres erschienenen Buches „Leidenschaft für die Vernunft. Denken und Glauben – Erkundungen auf den Spuren von Joseph Ratzinger“, Heiligenkreuz 2024, Verlag be+be wissenschaft.
Dieser Beitrag von Christoph Böhr erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Ein historisches Zeitdokument:
Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Verlag Herder, kartoniert, 64 Seiten, 10,00 €.
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