Für das Thema Überhangmandate und Ausgleichsmandate wie den Zusammenhang von parteilicher Richterauswahl und Rechtssprechung interessieren sich Journalisten und Leser gleichermaßen ungern oder gar nicht, weil es viel zu kompliziert ist. Leicht begreifbar macht Hans Herbert von Arnim es an ganz praktischen Folgen.
- Ohne Überhangmandate hätten Helmut Kohl 1994 und Angela Merkel 2009 keine Kanzlermehrheit gehabt.
- Als Kohl den Überhangmandaten seine erneute Kanzlerschaft verdankte, wollte die Opposition das Institut Überhangmandate zu Fall bringen: Beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu 1997 beurteilten die vier von der SPD vorgeschlagenen Richter Überhangmandate als verfassungswidrig, die vier von Union und FDP vorgeschlagenen Richter für verfassungsgemäß.
Multiple Verfassungswidrigkeit
„Multiple Verfassungswidrigkeit“ lautet von Arnims „Resümee der Politikfinanzierung“. Im einzelnen nennt er als verfassungswidrig:
- Abgeordneten-Kostenpauschale
- Abgeordneten-Mitarbeiterpauschale
- Fraktionsfinanzierung
- Stiftungsfinanzierung
Von Arnim wörtlich:
„Den Fraktionen wird Öffentlichkeitsarbeit – entgegen der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts – durch ein Gesetz erlaubt, bei dessen Erlass die Initiatoren den Widerspruch zur Rechtssprechung gezielt unterdrückten.“
„Bei Fraktionen und Abgeordnetenmitarbeitern erfolgen Erhöhungen – entgegen der Rechtssprechung – durch bloße Änderung eines Haushaltstitels und ohne jede nachvollziebare Begründung, also in einem öffentlichkeitsscheuen Verfahren. Die Gesetze, welche das gestatten, wurden ebenfalls in einem Camouflage-Verfahren erlassen, in welchem die Rechtssprechung und die gegenteiligen Empfehlungen einer Sachverständigenkommission übergangen wurden, ohne sich damit auseinanderzusetzen.“
„Für parteinahe Stiftungen existiert – entgegen der Rechtssprechung – überhaupt keine gesetzliche Grundlage.“
„Die Finanzkontrolle der Fraktionen ist – entgegen der Rechtssprechung – massiv eingeschränkt. Das Gesetz, welches dies scheinbar rechtfertigt, erging wiederum ohne Auseinandersetzung mit der Rechtssprechung. Die Prüfung der Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten wird dem Bundesrechnungshof vom Bundestag verfassungswidrigerweise gänzlich vorenthalten.“
Auf der Fraktionsfinanzierung, der Besoldung der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter beruht heute der allergrößte Teil der tatsächlichen Parteienfinanzierung, nicht in der direkten Parteienfinanzierung durch Euro-Beträge pro abgegebener gültiger Stimmen. Macht die Gerichtsbarkeit hier Ernst, bricht die Organisation der Parteien vor allem in der Fläche ein.
Echternacher Springprozession
Schuld an der staatlichen Parteienfinanzierung ist das Bundesverfassungsgericht, das seit 1958 in einem abenteuerlichen Zick-Zack-Kurs mal Antreiber, mal Bremser ist. Die Fehlentwicklung eingeleitet hat Verfassungsrichter Gerhard Leibholz, federführender Berichterstatter, der mit seiner „‚Parteienstaats’lehre, die die Parteien auch normativ mit dem Staat gleichsetzt und damit dem rechtlichen Widerstand gegen eine Usurpation des Staates durch die Parteien die Grundlage entzieht, wird heute zwar allgemein verworfen, auch vom Bundesverfassungsgericht selbst (von Arnim).“ Leibholz gilt heute als überholt. Aber er hat damals den Weg freigemacht und wirklich umgekehrt hat ihn das Gericht bis heute nicht.
Die Folge kann nicht überraschen: „Nach zwei durch das Bundesverfassungsgericht erzwungenen Schritten der Parteien zurück folgten häufig drei (und mehr) Schritte nach vorn.“ Gingen dann die Parteien bei der nächsten Neuregelung weit über das Erlaubte hinaus, riskierten sie nichts, weil das Bundesverfassungsgericht „selbst in Fällen eindeutiger Verfassungswidrigkeit bisher regelmäßig keien Rückzahlung verlangt hat, der politischen Klasse also sozusagen die für verfassungswidrig erklärte ‚Beute‘ belassen hat.“
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte in einem ZEIT-Gespräch 1992 die Parteienfinzierung auf schlaraffenländisches Niveau gehoben, als „machtversessen und machtvergessen zugleich“ beschrieben. Was dann die Parteien auf den Präsidenten losließen, würde man heute Shitstorm nennen. Die Wirkung trat ein. Von Weizsäcker ließ vom Thema ab. Heute reden wir bei den Steuermitteln für den Parteienstaat insgesamt von 1.200 Millionen Euro jährlich.
Das Gift Ämterpatronage
War die Staatsfinanzierung der Einstieg in den Parteienstaat, blähte er sich durch Ämterpatronage erst so richtig auf. Der spätere Bundespräsident Roman Herzog – selbst Präsident des Bundesvefassungsgerichts gewesen – war so unabhängig, sachkundig zu sagen – zitiert von Arnim – parteipolitische Ämterpatronage sei der „wichtigste und zugleich wundeste Punkt in der Diskussion um den Parteienstaat“.
Von Arnim:
- „Die Professionalisierung der Politik lässt eine immer größere Zahl von Personen von der Politik leben. Damit werden sie einerseits von den Parteien abhängig, andererseits prägen ihre Interessen auch die der Parteien, das heißt innerhalb der Parteien dominiert die sogenannte politische Klasse immer mehr.
- Hinzu kommt, dass die Parteien auch fast alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen und ihrem strategischen Denken unterwerfen.“
Wer was werden will in Verwaltungen, Gerichten, Rechnungshöfen, Fernseh- und Rundfunkanstalten (Verfassungsrichter Mahrenholz: „cuius regio,eius radio“), Wissenschaftseinrichtungen, und so weiter und so fort, braucht ein Parteibuch und schuldet der Patronage-Partei Treue und Gehorsam. Wer es wagt, aus diesem Korsett auszubrechen, riskiert seine bürgerliche Existenz. Ich weiß, wovon ich da rede.
Damit das alles geschehen konnte und weiter geschieht, braucht es „eine Art Nährboden für die Entwicklung hin zum exzessiven Parteienstaat“, sagt von Arnim, „die rein repräsentative Ausgestaltung, die Verhältniswahl und der Föderalismus“ in der bundesdeutschen Ausprägung.
An diesem Zustand nichts zu ändern, liegt natürlich im Interesse aller Amtsinhaber, derer, die es werden wollen, der vom System Parteienstaat Beschäftigten und Begünstigten. Nur noch Hamburg hat eine Feierabendparlament. Von Arnim: „Diäten und Altersversorgung von Mitgliedern der Hambuger Bürgerschaft betragen rund ein Drittel etwa der Abgeordneten von Thüringen oder des Saarlandes.“ Er schildert ausführlich, wie die finanzielle Überausstattung und Überversorgung der Parlamentarier und Regierungsmitglieder in den Bundesländern mit negativen Mustern in Bayern und Hessen ihren Ausgang nahm. Sein Zwischenfazit:
Das Niveau der Renten normaler Bürger sinke immer weiter ab, der Rentenbeginn werde immer weiter hinausgeschoben: „Vor diesem Hintergrund wird die ausgesprochen üppige Altersversorgung von Abgeordneten, die oft schon vor dem normalen Rentenalter zu laufen beginnt, immer mehr zum öffentlichen Ärgernis.“
Gewaltenteilung und Politikwettbewerb ausgehebelt
Es ist nicht übertrieben von einer Verbeamtung von Parlamenten und Parteien zu sprechen. Von einer Gewaltenteilung zwischen Politik und Öffentlichem Dienst kann nicht mehr die Rede sein. Inzwischen fördert Parteimitgliedschaft nicht nur die Karriere von Beamten, sondern Parteifunktionäre werden immer öfter zu Beamten gemacht, vorzugsweise in den höheren und höchsten Rängen. Anders als über diesen Weg Staatssekretär und Abteilungseiter zu werden, wird bald nicht mehr möglich sein. Die interessantesten Positionen in den Leitungs- und Pressestäben werden ohnedies rein parteipolitisch rekrutiert – Presse gerne aus dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Der Wechsel aus dem Öffentlichen Dienst in die Politik ist besonders beliebt, weil es kein Berufs- und Versorgungsrisiko gibt.
Von Arnim: „Aus einem freien Mandat wird Fraktionsdisziplin, aus Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament wird Gewaltenverbindung von Regierung und Mehrheitsfraktionen. Schon der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hatte 1930 festgestellt: ‚Der Kampf zwischen den Parteien ist kein Meinungskampf, sondern ein Machtkampf. Dass gilt für den Wahlkampf wie für die Parlamentsverhandlungen.'“
Verfassungsrichter Leibholz, erklärt von Arnim, schwebte eine demokratische Willensbildung innerhalb der Parteien vor. Das ist doppelt gescheitert. Erstens, weil nicht einmal zwei Prozent der Wahlberechtigten – Tendenz abnehmend – Parteimitlieder sind (der Unterschied zwischen aktiven und passiven Mitgliedern mal vernachlässigt). Zweitens, weil von parteiinterner Demokratie nicht wirklich die Rede sein kann. Die zwingende Schlussfolgerung: Die demokratische Willensbildung muss als außerhalb der Parteien stattfinden.
Parlamentarische Demokratie lässt sich auf die Regierung verantwortlicher Parteien gründen oder auf die Regierung verantwortlicher Personen. Was dafür spricht,
- vom Verhältniswahlrecht zum Direktwahlrecht zu wechseln,
- direkte Demokratie auf allen Ebenen der staatlichen Organisation zu installieren,
- wo der Staat den Bürgern zur Selbstorganisation den Raum ganz überlassen sollte,
davon in der vierten und letzten Folge der Besprechung des Buches von Hans Herbert von Arnim.
Die kommenden Wahlen dieses Jahres werden erneut demonstrieren, warum es beim derzeitigen Zustand nicht bleiben kann: Die Kurfürsten der Fraktionen halten sich Regierungen und Parteien, die tun, was sie wollen, sichern ihre Macht durch Verteilung von Privilegien in allen Bereichen von Gesellschaft, Staat und Medien – und rekrutieren ihren Nachwuchs selbst.