Tichys Einblick
»Ein unverbrüchlich menschliches Buch«

George Orwell: Auf der Suche nach Wahrheit in einer Welt voller Lügen

»An eine Zeit, in der das Denken frei ist und die Menschen verschieden voneinander sind und nicht allein leben – an eine Zeit, in der es Wahrheit gibt und Getanes nicht ungetan gemacht werden kann: Aus der Zeit der Gleichförmigkeit, aus der Zeit der Einsamkeit, aus der Zeit des Großen Bruders, aus der Zeit von Doppeldenk – Grüße!«

Wer war dieser Autor, der nach drei Reportagebänden und vier mäßig beachteten Romanen binnen weniger Jahre zwei der wirkmächtigsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts schrieb? Mit Farm der Tiere trat Orwell in die Fußstapfen von Swifts Gullivers Reisen (1726), mit 1984 hinterließ er der Nachwelt eine Vision, deren zeitlose Authentizität bis heute erstaunt und die im Gegensatz zu sämtlichen zuvor oder danach entstandenen Romandystopien sogar immer brisanter wird. (…)

Wer aber war der Mensch hinter dem Pseudonym George Orwell, der testamentarisch verfügte, dass nach seinem Ableben keine Biografie über ihn veröffentlicht werden dürfe?

Bertrand Russell: «Menschen wie Orwell, die dem Satan seine Hörner und Hufe geben, ohne die er eine Abstraktion bleibt, kann ich nur dankbar sein.»

Cyril Connolly, Eton-Kommilitone und Macher des Magazins Horizon, für das neben T. S. Eliot, Dylan Thomas und Virginia Woolf auch Orwell schrieb: «Er war nicht fähig, sich die Nase zu putzen, ohne über die in der Taschentucherzeugung herrschenden Bedingungen zu dozieren.»

Susan Watson, Orwells Haushälterin und Kindermädchen des Adoptivsohns Richard: «Für meine Begriffe war er eine seltsame Mischung aus Anteilnahme und Empfindungslosigkeit den Motiven und Verletzlichkeiten anderer Menschen gegenüber.»

„Who controls the past, controls the future.“
Eine Vision, die immer realer wird: »1984« von George Orwell
Als zweites von drei Kindern eines Kolonialbeamten und einer englisch-französischen Kaufmannstochter wird Orwell 1903 im damals noch zu Britisch-Indien gehörenden Motihari unweit der Grenze zu Nepal als Eric Arthur Blair geboren. Bereits im Jahr darauf lässt sich die Mutter mit den Kindern nahe London nieder. «Das Goldene Land», von dem Winston Smith träumt und von dem auch O’Brien zu sprechen scheint, wenn er sagt: «Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt», dürfte seine Ursprünge in der ländlichen Idylle in Oxfordshire haben, wo Orwell aufwächst.

Prägende zehn Jahre verbringt der junge Blair ab 1911 in Internaten. Über seine Zeit als Zögling der Privatschule St. Cyprian’s in Eastbourne, Sussex, am Ärmelkanal verfasst Orwell später eine kompromisslose Abrechnung. Als «King’s Scholar»-Stipendiat lernt er von 1917 bis 1921 am Eton College. Er ist neunzehn, als er nach Britisch-Indien zurückkehrt, um als Polizeioffizier in den Kolonialdienst einzutreten.

Der Lulatsch, hager, über 1,90 m groß, bleibt in jeder Beziehung ein Außenseiter. Während seiner fünf Jahre in Birma, heute Myanmar, beginnt er zu schreiben und fasst den Plan, der Kluft zwischen snobistischer Erziehung und engster Nähe zu Unterdrückten und Ausgebeuteten ein authentisches Wirken entgegenzusetzen. 1927 quittiert er den Dienst und schließt sich den Tramps im Londoner East End an. Er durchwandert ganz England, jobbt in Paris als Lehrer, Reporter und Tellerwäscher, wird Hopfenpflücker in Kent, schreibt Artikel, unterrichtet an einer Privatschule. Es sind diese zugleich entbehrungsreichen und selbstbestimmten Jahre, die Orwell in den darauffolgenden als schriftstellerisches Fundament nutzt.

Dass er sich über die Motive des Bücherschreibens nichts vormachte, zeigt ein Auszug aus Why I Write, in dem er sich kritisch Rechenschaft ablegt:

«Alle Schriftsteller sind eitel, egozentrisch und faul, und der tiefste Grund ihres Schaffens liegt in geheimnisvollem Dunkel. Ein Buch zu schreiben ist ein grausamer, aufreibender Kampf, wie eine lange schmerzhafte Krankheit. Man würde es auch niemals tun, wenn man nicht von einem Dämon angetrieben würde, der stärker ist als man selbst und der einem unverständlich bleibt. Man weiß nur, dass dieser Dämon identisch ist mit dem Instinkt eines Babys, das durch Schreien die Aufmerksamkeit auf sich lenken möchte. Aber ebenso wahr ist, dass man nichts Lesbares schreiben kann, wenn man nicht fortgesetzt gegen seine eigene Persönlichkeit ankämpft. Gute Prosa ist wie eine Fensterscheibe. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welcher meiner Gründe am stärksten ist, dagegen weiß ich genau, welchem zu folgen sich lohnt.»

In den politisch sich rasant zuspitzenden 1930er-Jahren veröffentlicht er jedes Jahr ein Buch: Down and Out in Paris and London (1933), Burmese Days (1934), A Clergyman’s Daughter (1935), Keep the Aspidistra Flying (1936), The Road to Wigan Pier (1937), Homage to Catalonia (1938) und Coming Up for Air (1939) – jedes Lebensstation, jedes ein Meilenstein auf dem Weg zu Animal Farm und Nineteen Eighty-Four.

Ebenso erhellender wie grimmiger Lesegenuss
Sprachregime - Die Macht der politischen Wahrheitssysteme
In dieselbe Zeit fallen existenzielle Ereignisse. Orwell verliebt sich in die Psychologiestudentin Eileen O’Shaughnessy, heiratet sie und zieht mit ihr aufs Land. Obwohl bei ihm Tuberkulose diagnostiziert wird, reist er 1936 nach Spanien und kämpft in einer anarcho-trotzkistischen Miliz im Bürgerkrieg gegen Franco. Nach einem Halsdurchschuss schwer verwundet, gelingt ihm mit Eileen knapp die Flucht vor stalinistischen Häschern aufseiten der Republikaner.

Orwells Bürgerkriegserlebnisse bilden den Glutkern seiner beiden großen Werke. In London verbittet man sich in den ersten Weltkriegsjahren jede Kritik an Stalins Säuberungen und belegt Orwell de facto mit einem Publikationsverbot. Sein Fazit ist bitter, benennt jedoch die neue Zielsetzung: «Das alles erschreckt mich, weil es mir das Gefühl gibt, dass schon der bloße Begriff der objektiven Wahrheit aus der Welt verschwindet. Lügen sind es, die in die Geschichte eingehen werden.» Infolge dieser Erkenntnis ist er nicht länger bereit, sein Selbstverständnis aufzuspalten – hier die eigenbestimmte, dort die gegebenen Machtstrukturen wehrlos ausgelieferte Persönlichkeit. Diese Entscheidung und ihre Konsequenzen sind es, die aus George Orwell den Lord Byron des 20. Jahrhunderts machen.

Vor diesem biografischen Hintergrund kann es kaum verwundern, wenn er bekennt, das reale Vorbild für Architektur, Hierarchie und Praktiken des Ministeriums der Wahrheit sei die BBC gewesen. Zur «Hass-Woche» mögen ihn antijapanische Propagandasendungen der BBC-Asien-Abteilung angeregt haben, wenn auch kaum im selben Maß wie Goebbels’ Hetztiraden.

Orwell bleibt BBC-Redakteur bis 1943. Weil er sich vorkommt «wie eine Apfelsine, die ein schmutziger Stiefel zertreten hat», kündigt er und schreibt fortan für die Tribune seine legendäre Wochenkolumne As I please. Auch seine Gesundheit macht ihm zu schaffen. Während in den letzten Kriegsjahren Animal Farm entsteht, adoptieren die Blairs ein Baby, ihren Sohn Richard. Als Eileen Blair wenige Wochen vor Kriegsende bei einer Operation stirbt, entschließt sich Orwell trotz zunehmend akuter TBC-Symptome, das Kind allein großzuziehen. Animal Farm macht ihn unterdessen zum gefeierten Sprachrohr eines gleichermaßen poetischen wie politischen Literaturverständnisses, das mit jeder Verbrämung totalitärer Denk- und Gesellschaftssysteme rigoros aufräumt. Nochmals der Autor von Why I Write:

Manche Tiere sind gleicher als andere
Mit Orwell im Schweinsgalopp zurück in die Sowjetunion
«Animal Farm war das erste Buch, in dem ich in vollem Bewusstsein dessen, was ich tat, versuchte, das Politische und das Künstlerische zu einem Ganzen zu verschmelzen. Seit sieben Jahren habe ich kein Buch mehr [korrekt: keinen Roman mehr – im Original: «not a novel» – M.B.] geschrieben, aber ich hoffe, es bald wieder zu tun. Es wird bestimmt ein Misserfolg. Jedes Buch ist ein Misserfolg. Aber ich bin mir ziemlich klar darüber, was für ein Buch ich schreiben möchte. Beim Durchlesen der letzten ein oder zwei Seiten fällt mir auf, dass sie den Eindruck hervorrufen könnten, die Gründe meines Schreibens seien ausschließlich gesellschaftlicher Natur. Ich möchte nicht, dass das der letzte Eindruck des Lesers ist. […] Bei einem Rückblick auf mein Werk stelle ich fest, dass die Bücher, die ich schrieb, immer dann leblos geworden sind, wenn ihnen eine politische Absicht fehlte und ich mich in gedrechselte Passagen, nichtssagende Sentenzen, schmückende Beiworte und ganz allgemein in Humbug verlor.»

Hätte Orwell 1984 nicht 1948 beendet, sondern erst im Jahr darauf, der Roman würde wohl 1994 heißen – basiert doch sein Titel vermutlich auf einem zugleich simplen und genialen Zahlendreher. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass Orwell seine Jahrhundertdystopie – die sich ebenso gut als schockierende Diagnose urbaner Kontaktarmut und Verkümmerung aller zwischenmenschlichen Bezüge im grauen Einerlei der durchfunktionalisierten Großstadt lesen lässt – nicht etwa in London, sondern in völliger Abgeschiedenheit auf einer schottischen Hebrideninsel schrieb.

Mehrmals zieht er sich nach Eileens Tod jeweils monatelang zusammen mit dem Jungen in das Farmhaus Barnhill auf Jura zurück. Der nächstgelegene Hof ist zehn Kilometer entfernt. Orwell bringt Richard Lesen, Schreiben, Rechnen und Angeln bei und arbeitet bis tief in die Nacht an seinem Buch. Barnhill wird sein archimedischer Punkt, hier findet er mußevolle Ruhe und gebührenden Abstand, um mit Vorstellungskraft und Erfindungsgabe ein so komplexes narratives Gebilde wie 1984 zu konstruieren. Ursprünglich sollte der Roman The Last Man in Europe heißen, und tatsächlich wird sich George Orwell auf Jura nicht selten wie der letzte Mensch in Europa vorgekommen sein.

Auch ein langer Sanatoriumsaufenthalt kann die Tuberkulose nicht eindämmen. Kurz nach Erscheinen von Nineteen Eighty-Four heiratet Orwell im Herbst 1949 Sonia Brownell, die er als Connollys Assistentin bei Horizon kennengelernt hatte und nach deren Vorbild er Winstons Geliebte und Komplizin formt: «das Mädchen aus der Prosa-Abteilung» – Julia.

Während der Vorbereitungen auf einen Sanatoriumsbesuch in der Schweiz erliegt Orwell am 21. Januar 1950 in einem Londoner Krankenhaus einer Lungenblutung. Wie Albert Camus, der fast auf den Tag genau ein Jahrzehnt später verunglücken sollte, wird Eric Blair nur sechsundvierzig Jahre alt. «Sein Leben war eine konsequente Folge von Revolten wider die soziale Tyrannei im Allgemeinen und die physische Tyrannei, die seinem Körper auferlegt war; wider die große Drift der Menschheit auf 1984 zu und wider seine eigene dem unausbleiblichen Zusammenbruch entgegen», schreibt Arthur Koestler in einem Nachruf. Nach George Orwells politischem Vermächtnis gefragt, antwortete Koestler: «Keiner sollte arm sein, und niemand sollte bestimmen können, was andere Menschen zu denken und zu tun haben.» (…)

Die Horrorvision „1984“ wird immer realer
Neue Lügen aus dem Ministerium für Wahrheit – Orwell gestern und heute
«Orwell ließ den Leser nicht im Unklaren darüber, dass die Existenz objektiver Wahrheit und historischer Fakten die Grundlage jeder sozialen Gerechtigkeit ist», schreibt Peter Lewis in George Orwell – The Road to 1984 (1982). «Wird die Ansicht der Partei, des Kollektivs nicht mehr infrage gestellt, so wird zur Realität, was immer der Große Bruder (die herrschende Oligarchie) als solche zu bezeichnen beliebt.» Orwell selbst hat die Vereinfachung und Instrumentalisierung seines Romans vorhergesehen und sich vorsorglich dagegen verwahrt: «Ich glaube nicht, dass es die Art Gesellschaft, die ich beschreibe, tatsächlich geben wird, aber ich glaube, dass es etwas Ähnliches geben könnte. Überall auf der Welt haben sich totalitäre Ideen in den Köpfen der Intellektuellen festgesetzt, und ich habe versucht, diese Ideen folgerichtig zu Ende zu denken.» (…)

Orwell gibt früh einen Hinweis darauf, dass 1984 möglicherweise von Winston Smith erzählt wird, und zwar rückblickend, sodass die titelgebende Jahreszahl auch für das Jahr stehen kann, in dem er seinen Bericht dem geheimen Tagebuch anvertraut. Am Ende des zweiten Kapitels – Winston ist zu Hause – kommt es zu folgender Szene: «Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit äußerte, die niemand je hören würde. Aber solange er sie äußerte, war auf geheimnisvolle Weise die Kontinuität gewahrt. Nicht indem man sich zu Gehör brachte, sondern indem man nicht wahnsinnig wurde, bewahrte man das Erbe der Menschheit. Er ging zum Tisch zurück, tunkte die Feder ein und schrieb: An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der das Denken frei ist und die Menschen verschieden voneinander sind und nicht allein leben – an eine Zeit, in der es Wahrheit gibt und Getanes nicht ungetan gemacht werden kann: Aus der Zeit der Gleichförmigkeit, aus der Zeit der Einsamkeit, aus der Zeit des Großen Bruders, aus der Zeit von Doppeldenk – Grüße!« (…)

Von Arroganz bis Zynismus, von Abscheulichkeit bis Zugrunderichten findet sich in Orwells Ur-Dystopie über einen ebenso grauen wie grausamen totalitären Staat alles, was man sich in den schlimmsten Albträumen ausmalt. Und dennoch gilt für 1984 dasselbe wie für Albert Camus’ Die Pest: Es ist in jeder Zeile ein unverbrüchlich menschliches Buch. Lautersten Motiven entsprungen, gelingt es auch George Orwells düsterer Versuchsanordnung nicht, den Glauben an die Unerschütterlichkeit der Menschenwürde vollends zu zertrümmern. Jede Leserin und Leser nimmt an dieser Rettung schöpferisch teil.

Gekürzte Fassung des Nachworts mit dem Titel »In einer Welt voller Lügen« von Mirko Bonné, erschienen in:
George Orwell, 1984. Neu übersetzt von Gisbert Haefs, mit einem Nachwort von Mirko Bonné. Manesse Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 448 Seiten, 22,00 €.


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