Es gab einmal eine Zeit, da war die evangelische Kirche für ihre Streitkultur bekannt und geschätzt. Da wurde heftig darüber gestritten, wie der christliche Glaube sich in der modernen Welt bewahren lässt, welche Geltung der Bibel noch zukommt, welchen Stellenwert Tradition und Kultur für die Kirche haben, und natürlich wie politisch Kirche sein darf. Da gab es Theologen, die auch über kirchliche Zirkel hinaus der Öffentlichkeit bekannt waren und die Debatte prägten, da gab es Karl Barth, Rudolf Bultmann, Ernst Troeltsch, Paul Althaus, Dietrich Bonhoeffer und viele andere.
Diese Zeiten sind lange vorbei. Seit Jahrzehnten scheint die Streitkultur des Protestantismus eingeschlafen zu sein, streitet man sich meist nur über Unwichtiges, richtet sich im Niedergang der Volkskirche ein, steht achselzuckend vor einem beispiellosen Traditionsabbruch oder begrüßt diesen sogar.
Das Reformationsjubiläum 2017 wird vielleicht einmal als dasjenige Ereignis in die Geschichte eingehen, welches die eingeschlafene Kirche wieder aufgeweckt hat. Denn plötzlich stand sie wieder im Fokus der Öffentlichkeit, und plötzlich wurde wieder gestritten, wurden wieder die richtigen Fragen gestellt: Reicht es, wenn ein evangelischer Kirchentag sich zur Bühne für Politiker im Wahlkampf macht? Reicht es, wenn die Kirche sich auf Gesellschaftspolitik konzentriert und diese zudem so einseitig betreibt, dass ein Grünenpolitiker wie Volker Beck Schwierigkeiten hat, die öffentlichen Stellungnahmen der evangelischen Kirche von denen seiner eigenen Partei zu unterscheiden? Und ist es nicht bezeichnend, dass 2017 die historischen Lutherstätten Besucherrekorde verzeichneten, während die kirchlichen Großveranstaltungen hinter den Erwartungen zurückblieben? Gibt es nicht offensichtlich ein Bedürfnis nach Tradition, nach Vergewisserung über das eigene kulturelle und religiöse Erbe, das von der evangelischen Kirche nicht mehr bedient wird?
Kirche darf keine Partei sein
Klaus-Rüdiger Mai führt den Streit in seinem furiosen Buch „Geht der Kirche der Glaube aus?“ fort. Er betont, dass die Zukunft der Kirche auch denen am Herzen liegen sollte, die nicht oder nicht mehr christlich glauben. Denn die Kirche gehört zu jenen Institutionen, die die Bindekräfte der Gesellschaft stärken können, die der postmodernen Vereinzelung des Menschen etwas entgegensetzen und mit den Kirchengemeinden Bastionen der Verortung besitzen. Aber, und das ist entscheidend, um diesen Zweck zu erfüllen, muss die Kirche sich unbedingt auf den Glauben besinnen.
Mai empfiehlt den Kirchen eine Rückbesinnung auf den traditionellen christlichen Glauben. Nicht Kirche als Politbüro, die für die moralisch richtigen politischen Positionen Heiligenscheine verteilt, aber auch nicht Gott als Weisheitscoach für gelingendes Leben und als Guru der Selbstoptimierung. Sondern Glaube als ein ernstes Geschäft, das Christentum als „Religion für Erwachsene“ (Norbert Bolz), die die Sündhaftigkeit des Menschen nicht ignoriert, die aber auch eine Perspektive eröffnet „auf das Reich, das nicht von dieser Welt ist“ (Klaus-Rüdiger Mai).
„Nützliche Idioten“ einer politischen Klasse
Nur wenn die Kirche dies als ihre Kernaufgabe begreift, so Mai, kann sie sich auch sinnvoll in die politische Debatte einbringen. Nämlich als Sinnstifter, als Vermittler, als mäßigende Instanz. Momentan tue sie aber das genaue Gegenteil. Mai hält nichts von jenen EKD-Funktionären, die von „öffentlicher Theologie“ sprechen, der Kirche „prophetisches“ Reden zugestehen und sich damit in der Tradition des kirchlichen Widerstands im Dritten Reich wähnen. Denn in der Praxis würden genau jene Funktionäre mit ihren öffentlichen Stellungnahmen den Kurs der Regierenden und politisch-medial Tonangebenden stützen und diesem den Anschein der Alternativlosigkeit geben. Wer nicht argumentiert, sondern Wahrheiten verkündet, muss mit denen, die die Dinge anders sehen, nicht mehr diskutieren, sondern deklariert sie zu Ketzern, verpasst ihnen Etiketten, die sie als Ausgestoßene markieren, verzerrt ihre Auffassungen bis zur Unkenntlichkeit und gibt sich jede Mühe, zu verhindern, dass andere deren Positionen ungefiltert zur Kenntnis nehmen können. Was kürzlich in einer EKD-Denkschrift in vorsichtigem Tonfall zu lesen war, nämlich dass in den letzten Jahren innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland eine ungesunde Verengung des politischen Meinungsspektrums stattgefunden habe, sagt Mai gewissermaßen mit Lautsprecherverstärkung.
Die Kirchen, so Mai, werden dadurch zum „nützlichen Idioten“ einer politischen Klasse, an der er kaum ein gutes Haar lässt. Dabei, dies sei ausdrücklich gesagt, kommt Mais Kritik nicht aus konservativer Perspektive, zumindest nicht nur. Vieles liest sich eher wie klassische Sozialdemokratie, anderes wie klassischer Liberalismus. Hier argumentiert jemand, der an die demokratische deutsche Tradition von 1848 anknüpfen will. Die Kirche der Freiheit, wie die evangelische Kirche sich im Vorfeld des Reformationsjubiläums selbst genannt hat, habe zuerst die Freiheit zu verteidigen. Es fällt schwer, das nicht einleuchtend zu finden. Und da man nach evangelischer Lehre kein Amtsträger sein muss, um in Kirchenfragen mitzureden, empfiehlt Mai, Foren kritischer Christen zu bilden, die der Kirche ihre eigentlichen Aufgaben wieder ins Gedächtnis rufen und jene Streitkultur wiederaufleben lassen, die die evangelische Kirche verloren hat, aber dringend braucht.
Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn ist Theologe und Historiker. Er arbeitet als Kurator der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.
Klaus-Rüdiger Mai, Geht der Kirche der Glaube aus? Eine Streitschrift. Evangelische Verlagsanstalt, 200 Seiten, 15,00 Euro