Der Hype um »Tiger-Mamis« ist glücklicherweise wieder verflogen. Dazu beigetragen hat die Erkenntnis, dass Kleinkinder, die in die Fänge von überehrgeizigen Eltern und Privatlehrern geraten, spätestens in ihrer Pubertät zu Monstern und Totalverweigerern mutieren. Wenn extrinsische (also von außen herbeigeführte) Disziplin intrinsische Motivation ersetzt, fällt das Kartenhaus in dem Moment zusammen, in dem das Extrinsische nicht mehr wirkt (die intrinsische Motivationsfähigkeit ist nämlich zu diesem Zeitpunkt meist schon verkümmert). Wie aber erziehen wir unsere Kinder – und vor allem uns selbst – zu intrinsischer Motivation? Zur Fähigkeit, Dinge anzugehen, auf die wir keinen Bock haben?
Die Aufforderung fleißiger zu sein, also dazu, uns abends nicht mehr in Netflix zu verlieren und uns endlich liegen gebliebenen Aufgaben zu widmen, klingt wie die einer nervigen Gouvernante, ähnlich diesem Satz von Marie von Ebner-Eschenbach: »Müde macht uns die Arbeit, die wir liegen lassen, nicht die, die wir tun.« Jaja, das stimmt schon. Aber ist Prokrastination nicht die einzig mögliche Gegenwehr in Zeiten der kompletten Überforderung? Statt dies zu schreiben, müsste ich eigentlich meine längst überfällige Steuererklärung vorbereiten, für meinen Arbeitgeber die Bestätigung meiner Krankenversicherungsausgaben heraussuchen und mich um ein paar dringende Überweisungen kümmern. Stattdessen schreibe ich.
»Jeder Mensch kann beliebige Mengen Arbeit bewältigen, solange es nicht die Arbeit ist, die er eigentlich machen sollte«, schrieb Robert Benchley in seinem 1949 erschienenen Buch »How to Get Things Done«, und wenn man den Satz konsequent zu Ende denkt, folgt daraus eigentlich das exakte Gegenteil eines der wichtigsten Ratschläge aller modernen Anti-Aufschieberitis-Ratgeber: nämlich dem, sich immer nur einer Sache anzunehmen und nie eine lange To-do-Liste vor sich her zu schieben. Die Konsequenz daraus kann im Grunde nur sein, sich möglichst viel vorzunehmen, denn hat man zehn Sachen vor sich, wird man garantiert zwei oder drei davon erledigen (gegebenenfalls jedoch die weniger dringlichen und daher weniger bedrohlichen Dinge, es müssen ja nicht gleich eindeutige Ersatzbeschäftigungen wie Wäschefalten oder Sockensortieren sein). Getreu dem Motto: »If you want something done, give it to a busy man!« Leute, die viel um die Ohren haben, haben in der Regel auch einen ziemlich hohen Output.
Paul Graham unterscheidet in seinem Essay »Good and Bad Procrastination« zwischen drei Varianten der Aufschieberitis. Erstens: Arbeit vermeiden durch Nichtstun. Das ist sicher die dämlichste Variante. Da bewegt man sich etwa auf dem Niveau jenes Mädels im Tarantino-Film »Jackie Brown«, das auf die Vorhaltung des Waffenhändlers Ordell – »Kiffen und Fernsehen ruinieren jeden Ehrgeiz« – antwortet: »Nicht, wenn Kiffen und Fernsehen dein ganzer Ehrgeiz ist.« Die zweite Variante: Etwas weniger Wichtiges tun. Auf diesem Weg arbeitet man Stück für Stück die To-do-Liste ab und kommt, wenn auch mit Verspätung, irgendwann an die weniger angenehmen Aufgaben. Oder drittens: Man tut etwas, irgendwas, notfalls etwas, das einem Spaß macht. Letztere Form von Prokrastination kann überaus vorteilhaft sein, weil man, wie Kathrin Passig und Sascha Lobo in ihrem Buch »Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin« anhand eindrucksvoller Beispiele nachweisen, ja oft erst im Rückblick feststellen kann, wie wichtig welche Tätigkeit wirklich war: »Die Flickr-Gründer entwickelten die Foto-Sharing-Plattform, die sie später reich machen sollte, nebenbei und zum Spaß, während sie ein heute vergessenes Spiel für ihre ›eigentliche Arbeit‹ hielten. … Isaac Newton vernachlässigte die Arbeit auf der Farm seiner Mutter, weil er lieber Bücher las. Robert Schumann spielte Klavier, anstatt sich seinem Jurastudium zu widmen.«
»Ja. Die Welt ist zu kompliziert«, heißt es in ihrem wegweisenden Buch (in dem sich auch dieses grandiose Aperçu findet: »Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne«): »Es ist kompliziert, sich einen Studienplan zusammenzustellen, es ist kompliziert, einen Router zu installieren, es ist kompliziert, die Papiere für eine Wohnungsanmietung zusammenzustellen, es ist kompliziert, bei der Deutschen Bahn die gesammelten Bonus-Punkte einzulösen, es ist kompliziert, sich eine absetzbare Quittung korrekt ausstellen zu lassen, und für den gesamten Kontakt mit Administration und Apparat muss dringend ein beschreibendes Wort erfunden werden, weil ›kompliziert‹ nicht ausreichend die dahinterstehende Bedrohung für das seelische Wohlbefinden durch bunte Briefe wiedergibt.«
Alltagsüberforderung ist laut Passig und Lobo keine Schande, sondern die Normalität des Menschen im 21. Jahrhundert, und Aufgaben vor sich her zu schieben ist für sie kein Zeichen von Resignation oder Kapitulation, sondern im Gegenteil für viele Menschen die einzige Möglichkeit, überhaupt zu kämpfen – nämlich nicht an allen Fronten gleichzeitig. Wir tun das alle ständig. Unser Arbeitgeber will uns rund um die Uhr mit Haut und Haaren, unsere Familie verlangt das auch, nur mit größerem Recht, wir sind technisch, beruflich, informationell und sozial ständig überfordert – in dieser Situation Dinge aufzuschieben oder zu ignorieren ist schlicht Selbstschutz. Laut Passig und Lobo gibt es – außerhalb von Trappistenklostern – in der zivilisierten Welt überhaupt nur zwei Arten von Menschen: diejenigen, die überfordert sind, und diejenigen, die nicht merken, dass sie überfordert sind. Die verschiedenen Verantwortungsbereiche des Lebens einigermaßen im Griff zu haben erfordert heute ein Höchstmaß an Multitasking-Fähigkeit und distributive Aufmerksamkeit, unser aller Leben ist vergleichbar mit einem Computer, auf dem stets vier bis fünf Fenster gleichzeitig geöffnet sind, in denen wir parallel arbeiten. Dem modernen Menschen in so einer Situation mehr Fleiß einreden und neue Methoden zur Priorisierung aufschwatzen zu wollen ist daher abwegig.
Natürlich sind To-do-Listen hilfreich, die man priorisiert Stück für Stück abarbeitet (wenige Dinge wirken so befreiend wie das physische Durchstreichen von To-do-Punkten, und wenn es nur das besorgte Klopapier ist). Was wir allerdings heute sehr viel dringender benötigen als mehr Effizienz, ist die Einsicht, dass wir alle zu viel auf unserem Teller haben. Wirklich gut gebrauchen könnten wir ein ausgiebiges Durchatmen. Das Beste wäre, wir stellten zunächst einmal unsere Maschinen auf STOP.
Deshalb muss der erste Rat an alle, die wieder ein wenig Disziplin in ihr Leben bekommen und die Dinge wieder so auf die Reihe kriegen wollen, dass die bösen bunten Briefe fernbleiben, paradoxerweise zunächst einmal lauten: Relax! Mein Vater hat mir einmal erzählt, wie er reagierte, als der Ton der Mahnungen und der amtlichen Post zu rau wurde. Er schnappte sich einen der Briefe und schrieb sinngemäß zurück: »Vielen Dank für Ihr Schreiben, et cetera pp., aber wenn Sie so einen groben Ton anschlagen, werden Ihre Schreiben künftig aus der monatlichen Ziehung ausgeschlossen, bei der einer der Briefe ausgelost und bearbeitet wird.«
Ruhe bewahren, das ist heute die erste Bürgerpflicht. Ein indischer Arzt, in London gilt er als Fitnessguru, hat mir einmal gesagt, sein Lebensrezept ruhe auf vier Säulen: Entspannung, guter Schlaf, gute Ernährung und Bewegung. Wobei die ersten beiden die wichtigsten seien. »Früher war das Hauptproblem meiner Patienten schlechte Ernährung oder mangelnde Bewegung, heute ist es Stress. Sie wachen morgens auf und sind von da an gestresst, ab der ersten Minute heißt es ›Go! Go! Go!‹, sie sind ständig in fight-or-flight-mode, ihr System ist randvoll mit Cortisol, aber sie werden nicht von einem Löwen angegriffen, sondern von den Anforderungen des Alltags, sie bringen die Kinder in die Schule, jonglieren dabei ihre verschiedenen Pflichten übers Handy, am Abend, wenn die Kinder im Bett sind, geht’s geradewegs wieder an die E-Mails, und bevor man das Licht ausmacht, gibt es noch einen Blick auf die letzten Nachrichten.«
Faulheit kann große Effizienz bewirken, wenn man gezwungen wird, zwischen »dringlich« und nur »wichtig« zu unterscheiden, ohne Faulheit wäre das Rad nicht erfunden worden. Andererseits ist Faulheit, Trägheit, acedia, wie der Lateiner sagt, eine Urverführung (besonders für Männer). Das Wort acedia bedeutet »Nachlässigkeit, Sorglosigkeit, untätig sein«. Es beschreibt exakt die Haltung Adams, der ja dabei war, als die Schlange Eva verführte (Gen 3,6): »Und sie nahm von seiner Frucht und sie aß. Und sie gab davon auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.« Er hing also irgendwo unbeteiligt in der Nähe rum, nuckelte an seinem Bier oder daddelte auf seinem Handy, seine Rolle ist jedenfalls dezidiert passiv; es spricht nicht für ihn, dass er später alles auf seine Frau zu schieben versuchte. Hätte er ritterlich gehandelt, wäre es nicht so weit gekommen, er hätte Eva vor der Schlange beschützt, und, wenn schon Sündenfall, dann hätte er sich vor seine Frau gestellt und Verantwortung übernommen. Es wäre interessant gewesen, wie dann die Geschichte weitergegangen wäre, wahrscheinlich wäre die Bibel so kurz geworden wie das Take-away-Menü einer Pizzeria.
Wenn Trägheit zu den zentralen Motiven einer solch archetypischen Geschichte gehört, scheint sie doch ein sehr grundsätzliches Problem zu sein. Das englische Wort für »Faulheit« ist gemeinerweise sloth, was insofern ungerecht ist, als es im Englischen zugleich der Name für das Faultier ist. Diese niedlichen kleinen Viecher haben zwar einen extrem niedrigen Stoffwechsel (sie gehen nur einmal die Woche aufs Klo, weil die Wahrscheinlichkeit, beim Kacken von einem Raubtier erwischt zu werden, so hoch ist) und hängen ihr ganzes Leben in den Bäumen herum, aber sie sind viel zu sympathisch, um den Namen mit einer Todsünde zu teilen. Wenn man sich schon einer Anleihe aus dem Tierreich bedienen will, sollte man Wassergurken nehmen, Holothurien tun ihr ganzes Leben nichts als fressen, rumliegen und das Gefressene wieder ausscheiden. In der Tiefsee bestehen laut Wikipedia 90 Prozent der bodennahen Biomasse aus Wassergurken. Wenn es mit unserer Übertechnisierung so weitergeht, sind wir alle bald auch nur noch Biomasse, und den Rest nimmt uns die Technik ab.
Trägheit ist in unserer hochtechnisierten, durchgeplanten, komplexen Welt jedenfalls verführerischer als zu biblischen Zeiten, nicht nur, weil es mehr eskapistische Verführungen gibt, sondern weil man den Tag voller Termine haben und dennoch träge sein kann. Je weniger freie Zeit man hat, desto mehr wird man auch davon abgehalten, nach den letzten Dingen Ausschau zu halten. Man kann äußerlich höchst aktiv und zugleich geistig und spirituell träge sein.
Grob gesagt, gibt es vier Arten von Faulheit: Die offensichtlichste ist die rein körperliche. Morgens nicht aus den Federn kommen, jede körperliche Anstrengung meiden. Dann ist da die intellektuelle Trägheit. Sie ist weit verbreitet, es genügt heutzutage, sich dreißig Sekunden mit einem Thema zu befassen, um sich ein abschließendes festes Urteil zu bilden, das man dann mit Hashtag versehen kann. Es gibt moralische Trägheit, da wischt man moralische Fragen und Entscheidungen unter den Teppich, geht den Weg des geringsten Widerstands. Unsere relativistische Kultur macht es einem leicht, da ethische Fragen nicht mehr »schwarz und weiß« gesehen werden, wie es so schön heißt. Christen bedienen sich moralischer Trägheit gern, um nicht für die Wahrheiten einzustehen, an die sie eigentlich glauben. Sie ducken sich zum Beispiel bei Themen wie Abtreibung, Pornografie und Promiskuität lieber weg, weil sie nicht anecken wollen.
Die schlimmste Form von Trägheit ist die geistige und spirituelle. Die Seele bleibt ruhelos und leer, wenn sie sich nicht auf die Suche nach Mehr (großgeschrieben) macht. Zu den gängigsten Methoden, um diese Leere zu füllen, gehört der Konsum, das Essen, der Körper- und Selbstverwirklichungskult und der Sex. Wenn man dieser Form von Trägheit verfallen ist, erleidet man vermutlich den schlimmsten Schaden, weil man irgendwann der Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen aus dem Weg geht und sich nur noch seiner Selbstverwirklichung widmet.
Die Geschichte des Alan Turing ist unendlich traurig. Sie soll nicht ausgebreitet werden. Nur so viel: Der Mann, den viele als Vater der Künstlichen Intelligenz bezeichnen und der während des Zweiten Weltkrieges mit der Entschlüsselungsmaschine »Enigma« bei der Entzifferung der deutschen Funksprüche half, hatte einen konkreten Grund, sich in Gedanken von technischer Biologie zu verlieren. Er wünschte sich selbst weg. Turing litt zeitlebens unter Depressionen und unter seiner Homosexualität. 1952 wurde er wegen »grober Unzucht« verurteilt, er hatte einen Neunzehnjährigen zu sich nach Hause genommen, sein Haus wurde von einem Bekannten des Jungen ausgeraubt, bei der polizeilichen Untersuchung gab Turing den sexuellen Kontakt zu dem jungen Mann zu und wurde – homosexuelle Handlungen waren damals eine Straftat – verurteilt. Er willigte ein, sich einer chemischen Kastration zu unterziehen (es wurde ihm Diethylstilbestrol gespritzt), was seine latente Depression verschlimmerte, zwei Jahre später brachte er sich um. 2009 bat der damalige britische Premierminister Gordon Brown offiziell im Namen der Regierung um Vergebung für die »entsetzliche Behandlung« Turings, 2013 sprach ihm die Queen postum ein Royal Pardon aus, sie gewährte ihm eine Königliche Begnadigung. Man kann die Geschichte der Computertechnologie und des Transhumanismus nicht verstehen, wenn man die persönliche Geschichte Turings nicht kennt, der davon träumte, nur noch Geist, nur noch Maschine, alles, nur kein Körper, zu sein.
Es ist der alte Traum des Alexej Kirillow, einer der Nihilisten in Dostojewskis »Dämonen«, der den Atheismus zu Ende denkt und die These vertritt, dass die einzig logische Folge der Nichtexistenz Gottes die absolute Herrschaft des menschlichen Willens ist. »Wenn Gott nicht existiert«, sagt Kirillow, »dann gehört alles mir«, dann sei man geradezu dazu verpflichtet, der Welt seinen Willen aufzudrücken. Bis hin zum Tod. Deshalb ist er entschlossen, sich selbst zu töten, nur um einen Punkt zu machen: Dass man sich nicht vor dem Tod fürchten muss und dass die Überwindung dieser Angst gleichbedeutend mit der Befreiung von allem Glauben und mit dem Beginn einer Zeit ist, in der der Mensch sich endlich als Gott erkennt. »Die volle Freiheit«, sagt Kirillow in seinem berühmten Monolog, »wird dann sein, wenn es dem Menschen ganz egal sein wird, ob er lebt oder nicht. Das ist das Ziel für die Gesamtheit. (…) Es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen Menschen (…) Der Mensch wird ein Gott sein und er wird sich physisch umgestalten.«
Was ist die Antwort von uns Menschen? Brauchen wir in einer Zeit der Übertechnisierung überhaupt noch Fleiß, nehmen uns die Maschinen mittelfristig die Arbeit nicht ohnehin ab? Die Antwort kommt aus überraschender Richtung. Jack Ma, einer der reichsten und mächtigsten Männer Chinas, er ist Gründer und Vorstandsvorsitzender des Technologiekonzerns Alibaba, wurde einmal gefragt, was er als ehemaliger Lehrer zum Thema Bildung zu sagen habe. Menschen pures Wissen einzutrichtern sei Unsinn, sagte er, in puncto Wissen seien uns Computer schon bald voraus. Stattdessen sollten wir endlich unsere Kinder die Dinge lehren, die uns von Maschinen unterschieden: »Wir können unseren Kindern nicht beibringen, mit Maschinen zu konkurrieren. Maschinen sind schlauer. Lehrer müssen aufhören, lediglich Wissen zu vermitteln! Kinder sollten etwas Einzigartiges lernen, dann können Maschinen sie nicht einholen.« Dann zählte er die Dinge auf, auf die wir bauen sollten: »Zuallererst Werte. Dann Überzeugung, unabhängiges Denken, Teamwork, Mitgefühl – Dinge, die nicht durch reines Wissen vermittelt werden. Wichtig sind Dinge wie Sport, Musik, Kunst. Wir müssen auf die Dinge bauen, die uns von Maschinen abheben!« Fleiß kann auch bedeuten, dass man sich endlich zu grundlegenden Dingen Gedanken macht.
Auszug aus: Alexander von Schönburg, Die Kunst des lässigen Anstands. 27 altmodische Tugenden für heute. Piper Verlag, 368 Seiten, 20,00 €.