Selten gibt es so viel Übereinstimmung wie in der Feststellung, dass alles immer schlimmer wird. Noch seltener melden sich einzelne zu Wort und weisen nach, dass das gar nicht stimmt. Nüchtern, akribisch und an Fakten orientiert. Immer wieder diese elendigen Fakten, z.B. über die Säuglingssterblichkeit, die weltweit sinkt. Über den Sachverhalt, dass heute fast alle Mädchen in der sogenannten Dritten Welt Schulen besuchen, weltweit fast alle Kinder gegen die schlimmsten Infektionskrankheiten geimpft werden, vom Aussterben bedrohte Tierarten sich wieder zu vermehren beginnen, die Armen wohlhabender werden, das Trinkwasser sauberer wird… Der schwedische Mediziner Hans Rosling hat Fakten gesammelt, analysiert und in seinem letzten Buch „Factfulness“ nachgewiesen, dass sich der Zustand der Welt beständig bessert. Nicht die Anzahl der in Armut lebenden wächst, sondern der Mittelstand; die Wohlstandsschere zwischen Arm und Reich öffnet sich nicht, sie schließt sich. Die Zahl der Kriegstoten ist auf einem historischen Tiefstand.
Ein aufregendes, anderes Buch
Es ist ein aufregendes Buch – nicht nur der Fakten wegen, die so im Kontrast zu den üblichen Horrornachrichten stehen. Es ist auch ein Buch für das gute Gewissen. Man kann nach der Lektüre wieder motiviert seinen Beitrag leisten: Der Fortschritt bricht sich unaufhaltsam Bahn. Gut, die meisten Fakten könnte man auch aus anderen Quellen zusammentragen, doch gewiss nicht in einer so komprimierten Darstellung. Was aber besonders an Roslings Buch fasziniert: Er führt uns Leser immer wieder in die Irre. Er prüft unser Wissen – und siehe da: Wir sind Schwarzseher. Wir fürchten das Fürchterlichste, statt uns über Fortschritte zu freuen.
Doch Rosling geht noch einen Schritt weiter: Er prüft auch das Wissen der Eliten. Er stellt die Fragen nach dem Zustand der Welt auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos, auf wissenschaftlichen Kongressen, er stellt sie Politikern ebenso wie Gewerkschaftsfunktionären: Wir sind in einem finsteren Pessimismus gefangen, weil es der Medienlogik entspricht, von Katastrophen, Kriegen und Verbrechen zu berichten. Und wir ziehen daraus den falschen Schluss, diese Ausschnitte würden die gesamte Realität wiedergeben.
Böse Manipulation der vermeintlich Guten
Vieles davon ist erkennbar Manipulation mit dem Ziel, uns ein schlechtes Gewissen einzureden und uns dann dazu zu verleiten, bestimmte politische Maßnahmen zu unterstützen: Mehr Geld für den Staat, für die Entwicklungshilfe usw. usf. Roslings zweiter Befund ist noch faszinierender als sein positiver Blick auf die Welt: Selbst intellektuelle Eliten verhalten sich so. Auch sie schätzen den Zustand der Welt viel schlechter ein, als er es ist. Das betrifft gleichermaßen die Eliten der Medizin wie der Wissenschaft, der Politik und der Wirtschaft. Und so werden nur allzu oft auf der Grundlage falscher Annahmen, die als Fakten ausgegeben werden, weichenstellende Entscheidungen getroffen.
Manches wirkt beinahe komisch, wenn es nicht so schrecklich wäre: Im Koreakrieg hat man festgestellt, dass angeschossene Soldaten, die auf dem Bauch liegend transportiert wurden, höhere Überlebenschancen hatten, weil sie nicht am eigenen Erbrochenen erstickt sind. Diese Erkenntnis wurde auf Babys übertragen, um den plötzlichen Kindstod und Ersticken zu vermeiden. Hundertmillionenfach.
Aber Babys, sagen Ärzte, haben einen sehr gesunden Schluckreflex. Sie sind nicht zu vergleichen mit jungen Männern, die durch eine Schusswunde verletzt wurden. Es ist viel besser, sie auf dem Rücken sanft schlummern zu lassen. Was ihnen weltweit jahrzehntelang nicht gestattet wurde. Ein düsteres Bild: Wie viele Millionen Kinder haben schlecht geschlafen und unausgeschlafen ihre Eltern genervt? Was wiederum mit der Kinderfeindlichkeit in Zusammenhang stehen dürfte. Folge falscher Annahmen, die als Fakten gelten.
Warum soll Sambia nicht werden wie Schweden?
Geradezu verstörend ist Roslings Analyse, warum wir diesen Fake-News Glauben schenken. Er führt eine Reihe von Gründen an: Es werden Modelle formuliert – und wir glauben ihnen blind, statt ihre fragwürdigen Annahmen zu hinterfragen, etwa in der Klimapolitik.
Und so entsteht eine Welt, in der Babys (und ihre Eltern) schlecht schlafen. Weil falsche Schlüsse aus irrigen Beobachtungen gezogen werden, müssen Kinder Spinat essen, der gar nicht so gesund ist, wie vermutet, es werden Gebote und Verbote aufgestellt, die völlig unbegründet sind: Rosling führt auf globaler Ebene vor, wie wir uns täuschen und getäuscht werden. Er zeigt auch, warum wir selber schlechten Nachrichten lieber glauben als guten.
Seine Botschaft ist verblüffend: die Welt wird besser. Die Bevölkerungszahlen steigen, aber die Kurve flacht ab und der Höhepunkt der Bevölkerungsexplosion ist erreicht. Die Befürchtungen des Club of Rome von exponentiellem Wachstum bestätigen sich nicht. Es gibt nur vorübergehend exponentielles Wachstum. Dann flacht es ab.
Das für mich verblüffendste Ergebnis: In allen Datenreihen war das heute so reiche, so gesunde, so tolle Schweden noch 1948 auf dem Zustand des heutigen Ägypten. 1921 stand Schweden da, wo heute Sambia steht, im Rufe eines der Shitholes des Globus. Nur 100 Jahre trennen Sambia und Schweden. Warum soll es Sambia nicht schaffen? Warum hat es Schweden geschafft – wer hat dort Entwicklungshilfe geleistet?
Die Zahlen sind frappierend: eine hohe Kindersterblichkeit, offene Abwassergräben, Analphabetismus, Alkoholismus – dennoch hat Schweden nur wenige Jahrzehnte gebraucht, um zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt zu werden. Indonesien, Indien, China, alle sind heute auf diesem Weg. Wir haben also Grund zum globalen Optimismus.
Factfulness ist ein spannendes Buch. Danach glauben Sie nicht mehr alles, was in der Zeitung steht.
Hans Rosling, Factfulness. Wie wir lernen die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ullstein Verlag, 400 Seiten, 24,- €.