Europa schwimmt im Geld, aber es ist deswegen nicht reich, denn Geld ist nur Papier oder eine Ziffer im Computer. Es kann gefährliche Illusionen wecken, wie eine Vielzahl von Inflationen in der Geschichte der Menschheit gezeigt hat. Ähnlich wie so viele Vorläufer in den vergangenen Jahrhunderten haben sich auch die Regierungen der Euroländer bei ihren Zentralbanken das Geld drucken lassen, das sie den Bürgern in der Eurokrise und der nachfolgenden Coronakrise nicht glaubten, abnehmen zu können. Das Geld haben die Staaten verwendet, um die von ihnen in Anspruch genommenen Arbeitsleistungen und die von ihnen erworbenen Güter zu bezahlen und auch um Sozialtransfers und Subventionen auszuschütten. Die Wirtschaft und die Bürger erhielten Ersatzeinkommen aus der Druckerpresse, die an die Stelle der nur noch zögerlich fließenden Markteinkommen traten. Es floss im Übrigen auch etwas neues Geld als Kredit an die private Wirtschaft inklusive der Bauherren, aber das war nur ein kleiner Teil des Geschehens.
Sicher, das Geld wurde von den Empfängern anschließend an andere weitergereicht, die ihre Leistungen nun besser verkaufen konnten. Es gab positive Multiplikatoreffekte auf den Wirtschaftskreislauf. Und es floss niemals direkt an die Staaten. Stets wurden private Geschäftsbanken als Kreditvermittler zwischengeschaltet. Sie besorgten sich bei den Zentralbanken neu gedrucktes Kreditgeld, das sie alsbald an die Staaten und zum Teil auch an die Firmen und Haushalte weiterverliehen. Von der Möglichkeit, zusätzlich auch noch Kreditgeld aus dem Bodensatz an Zentralbankgeld zu schaffen, das bei ihnen zirkulierte, machten die Banken wenig Gebrauch. Mit dem neuen Geld wurden Ansprüche auf Güter und Leistungen verteilt, die weit über das hinausgingen, was produziert werden konnte.
Während die Erlöse der Firmen und die Einnahmen der Staaten normalerweise aus dem bereits in Umlauf befindlichen Geld stammen, das beim Verkaufsakt und bei der Steuerzahlung nur den Besitzer wechselt, wird das von den Zentralbanken verliehene Geld zur Verfügung gestellt, ohne dass der staatliche Sektor dafür eine Leistung hätte erbringen oder das Geld jemandem hätte wegnehmen müssen. Scheinbar muss dafür niemand auf den Erwerb von Gütern verzichten, die er sonst mit seinem Geld hätte kaufen können. Manna scheint vom Himmel zu regnen.
Das spricht nicht grundsätzlich gegen eine Politik der temporären Geldvermehrung. Es gibt Situationen, in denen die Droge frischen Geldes eine lahmende Wirtschaft wieder ankurbeln oder vor den Kräften der internationalen Spekulation retten kann. So kann man vermuten, dass der Erwerb von Staatspapieren mit dem neuen Geld Finanzkrisen und Staatskonkurse in Europa kurzfristig hat vermeiden können, als die internationale Spekulation in den Jahren nach der Finanzkrise den Glauben an die Stabilität des Euroraums verloren hatte. Die Staaten und Banken blieben solvent, und ihre Gläubiger, die Anleger aus aller Welt, wurden vor Konkursen geschützt. Kettenreaktionen, die zu einem Finanzcrash führen, wurden vermieden. In Maßen lässt sich der Druck neuen Geldes tatsächlich rechtfertigen, wenn es dazu dient, vorübergehende Liquiditätsengpässe und nicht etwa eine echte Insolvenz aufgrund eines falschen Geschäftsmodells zu vermeiden. Danach müsste jedoch wieder eine Phase der Verringerung der Geldmenge folgen.
Die Geldmenge wurde im Euroraum vor allem durch umfangreiche Staatspapierkäufe aufgebläht, von denen die EZB behauptet, sie tätige sie, um damit eine mäßige Inflation zu erzeugen. Zu einer solchen Inflation verpflichte sie der Maastrichter Vertrag, denn sie sei gleichbedeutend mit Preisstabilität. Lange Jahre kam die Inflation aber nicht zustande, weil das neue Geld von den Banken und anderen Marktteilnehmern gehortet wurde. Die fehlende Wirkung nahm die EZB zum Anlass, immer mehr von den Staatspapieren mit frischem Geld aus den Druckerpressen zu erwerben.
Der Bestand an Zentralbankgeld im Euroraum hat sich seit dem Beginn der Finanzkrise im Sommer des Jahres 2008 bis zur letzten Überarbeitung des Manuskripts im September 2021 fast versiebenfacht, von 880 Milliarden auf ziemlich genau 6 Billionen Euro, viel schneller, als die Wirtschaftsleistung stieg. Davon sind 4,9 Billionen ein Geldüberhang über jenes Niveau der Geldmenge, das sich in Relation zur Wirtschaftsleistung vor der Lehman-Krise schon einmal als ausreichend für die Eurozone erwiesen hatte. Von diesem Geldüberhang waren bis zum September 2021 etwa vier Fünftel durch die Käufe staatlicher Papiere in Umlauf gekommen. Drei Viertel des Zuwachses der Schulden der Eurostaaten während der Krisenjahre seit Ende 2008 wurden auf dem Umweg über zwischengeschaltete Banken von den nationalen Notenbanken und der EZB-Zentrale finanziert. Dennoch fand nach Meinung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die vom Maastrichter Vertrag verbotene Monetisierung von Staatsschulden nicht statt. Alles entspreche den vereinbarten Regeln, erklärte er dem skeptischen Bundesverfassungsgericht (BVerfG).
Mittlerweile hat die Inflation aber begonnen. Da der Nachfrageeffekt staatlicher Defizite mit der Materialknappheit am Ausgang der Pandemie zusammentraf, kam es im Jahr 2021 zu einer Anstoßinflation. Perspektivisch sind in den nächsten Jahren weitere Anstoßeffekte in einem Kostenschub durch die Energiewende, in der Pensionierung der Babyboomer und in einer durch Zinsdifferenziale erzeugten Euroabwertung zu sehen. All diese Anstoßeffekte können zu einer Änderung der Inflationserwartungen führen, die eine sich selbst verstärkende Inflationsspirale in Gang setzt, bei der sich der Geldüberhang inflationär entlädt, ähnlich wie der Ketchup, der lange im Kühlschrank lag und nach dem Schütteln auf einmal aus der Flasche herausspritzt.
Wenn eine solche Situation droht, müssten die Zentralbanken das überschüssige Geld wieder einsammeln, indem sie die Staatspapiere, die sie in Besitz genommen haben, wieder verkaufen. Da die Staaten dabei erhebliche Schwierigkeiten in Form steigender Finanzierungslasten und die Banken, die ähnliche Papiere in ihren Büchern haben, gefährliche Abwertungsverluste auf ihre Anlageportfolios zu verkraften hätten, ist jedoch zu erwarten, dass der Rat der Europäischen Zentralbank die Geldmengenreduktion nur sehr zögerlich angehen wird, wenn überhaupt. Die Anstoßinflation trifft eine Ökonomie, deren Inflationsbremse zerstört ist.
Die Umverteilungseffekte, die von einer möglichen Inflation ausgelöst würden, sind bereits für sich genommen sehr problematisch, denn sie betreffen nicht nur die Geldhalter im engeren Sinne, sondern generell jene Teile der Bevölkerung, deren Einkommen nicht inflationsgesichert ist und die nicht reich genug sind, um Realkapital in Form von Immobilien oder Unternehmensbeteiligungen erwerben zu können. Wer Riester-Verträge, Sparbücher, Rentenpapiere oder Lebensversicherungspolicen besitzt, nämlich das Kleinbürgertum, gehört zu den Verlierern. Diese Sparer verlieren durch die lockere Geldpolitik bereits ihre Zinsen und sehen ihrem Rentenalter mit Bangen entgegen. Wenn sie eines Tages feststellen müssen, dass sie wegen einer Inflation außerdem noch das ersparte Kapital selbst verlieren, werden sie aufbegehren und ihren Unmut kundtun. Politische Konsequenzen erheblichen Ausmaßes sind nicht ausgeschlossen.
Der Ärger wäre ja auch nur zu verständlich. Da sind Millionen von Bürgern, die tagaus, tagein ihre mühsame Arbeit verrichten, um sich die Güter des täglichen Bedarfs zu kaufen und ein paar Euros für ihr Alter zusammenzusparen. Bevor sie einen Euro ausgeben, drehen sie ihn dreimal um. Und auf der anderen Seite stehen diejenigen, die direkt oder indirekt in den Genuss der zusätzlichen Geldschöpfung im Umfang von Tausenden von Milliarden Euro gekommen sind, für die sie eben solche Güter erwerben konnten. Das sind nicht nur diejenigen, deren Einkommen im Zuge der Coronamaßnahmen gestützt wurden, sondern auch die Inhaber großer Investmentportfolios aus aller Welt, deren Ansprüche gegen Staaten und private Schuldner, die sonst vielleicht in Konkurs gegangen wären, gerettet wurden.
Der eine schuftet, um ein bisschen Geld zusammenzukratzen, und der andere wird über politische Prozesse vor den Konsequenzen der eigenen Fehlinvestition geschützt, oder er kommt zu ungeahntem Geldsegen, ohne sich anstrengen zu müssen. Der Hinweis auf diesen Verteilungskonflikt klingt vielleicht populistisch, doch verdeutlicht er den Kern des gesellschaftlichen Problems. Jeder, der verantwortlich denkt, sollte diesen Sachverhalt zutiefst verinnerlichen.
Die Nonchalance, mit der in Brüssel und Berlin Hunderte von Milliarden Euro aus der Druckerpresse verteilt werden, damit Gläubiger vor dem Konkurs ihrer Schuldner geschützt oder Geschenke verteilt werden können, steht in einem erheblichen gedanklichen Widerspruch zu der Bedeutung, die das Geld für den Bürger hat, der es Tag für Tag durch seine Arbeitsleistung neu erwerben muss, um über die Runden zu kommen.
Die Verteilungsfrage stellt sich im Übrigen nicht nur innerhalb eines Landes, sondern auch international, denn, wie durch die sogenannten Targetsalden gemessen, landete besonders viel von dem neuen Geld im Austausch für Güter und Vermögensobjekte in Deutschland. Die Inflationsgefahr beinhaltet für die Bundesbank und damit für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bürger auch die Gefahr, Forderungen zu verlieren, die aus den Ungleichgewichten des innereuropäischen Zahlungsverkehrs resultieren.
Die Stabilität des Geldes ist eine Grundvoraussetzung der marktwirtschaftlichen Ordnung, denn erst sie ermöglicht einen reibungslosen Gütertausch innerhalb einer Zeitperiode und vor allem zwischen diesen Perioden. Der eine wagt es zu sparen, verzichtet heute und gibt dafür in Form von Geld seine Anspruchsrechte auf Güter anderen, die damit Investitionen finanzieren, die sie aus dem laufenden Einkommen nicht stemmen können. Aus den Investitionen entsteht ein realer Kapitalbestand, der, wenn er nicht durch Kriege zerstört wird, im Laufe der Zeit immer mehr Bedarf an Arbeitskräften bedeutet, so dass sich im Wettbewerb der Unternehmen immer höhere Löhne und ein höherer Lebensstandard der Massen ergeben. Der Prozess, mittels dessen Ersparnis in Investitionen und reales Kapital verwandelt wird, ist die Quelle des wirtschaftlichen Wachstums und des Wohlstands für alle. Bei einer Inflation besteht die Gefahr, dass die Sparer sich nicht mehr trauen, ihr Geld zu verleihen, denn eine Inflation ist grundsätzlich nicht kalkulierbar und schafft sowohl beim Gläubiger als auch beim Schuldner Unsicherheit bezüglich der Höhe der realen Tilgungs- und Zinslasten, die aus einem Kreditkontrakt zu erbringen sind. Diese Unsicherheit ist Sand im Getriebe der Marktwirtschaft und der Gesellschaft.
Bei einer Hyperinflation wie in Deutschland vor 100 Jahren kann sogar der normale Tausch von Gütern und Leistungen beeinträchtigt werden, weil bereits zwischen der Einnahme eines Geldbetrages und seiner Verausgabung für baldigen Konsum eine erhebliche Geldentwertung stattfindet. Dann verliert das Geld seine Funktion als Tauschmittel, und die Menschen müssen sich in den umständlichen Naturaltausch flüchten, wie er vor der Entwicklung des Geldwesens üblich war.
Stefan Zweig hat in seinen Lebenserinnerungen sehr plastisch beschrieben, wie sich die große deutsche Inflation der Jahre bis 1923 auf das tägliche Leben der Menschen auswirkte, wie das Kleinbürgertum verarmte und wie zermürbend es war, wenn die Frauen ihren Männern an den Werktoren die Lohntüten abnahmen, um sie vor der täglichen Entwertung durch die Inflation in Konsumgüter umzutauschen. Und er hat klargemacht, wie auch die politische Radikalisierung der Menschen in der Weimarer Republik durch die Inflation verursacht wurde:
»Nichts hat das deutsche Volk
– dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden –
so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.«
(Stefan Zweig, Die Welt von gestern.)
Auch ein nüchterner Ökonom, der die Inflation gerne in eine blasse mathematische Formel überführt, tut gut daran, die vielen plastischen Schilderungen des Autors über das Leben und die persönlichen Katastrophen in Zeiten der Inflation zu lesen, um auch einmal intuitiv zu begreifen, was auf dem Spiele steht, und um zu verstehen, welch hohes Gut die Stabilität des Geldwertes ist.
Ich prognostiziere nicht, dass sich eine Inflation wie vor 100 Jahren wiederholt. Dafür gibt es keine konkrete Veranlassung. Es zeigt aber, dass bezüglich der Anstoßeffekte Parallelen zu der Inflation der 1970er Jahre durchaus bestehen. Die durchschnittliche jährliche Inflationsrate in Deutschland lag damals bei etwa 5%. Deshalb ist es angebracht, wachsam zu sein. Tatsächlich lief die Geldmenge im Euroraum seit dem Jahr 2015 derart aus dem Ruder, dass man sich Sorgen um die Stabilität des Geldwertes machen muss. Das Buch diskutiert die Mechanismen und Bedingungen, unter denen eine Inflation schlummert, erwacht und dann möglicherweise nicht mehr gezähmt werden kann, verweist auf historische Parallelen und versucht den Weg zurück zu einem soliden Finanzwesen zu beschreiben, wie es in den Maastrichter Verträgen angedacht war, aber bislang noch nicht zustande gekommen ist.
Auszug aus: Hans-Werner Sinn, Die wundersame Geldvermehrung. Staatsverschuldung, Negativzins, Inflation. Herder Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 432 Seiten, 28,00 €.