Tichys Einblick
KANTS KLASSIKER »ZUM EWIGEN FRIEDEN«

Europa hat sich im Krieg verwirrt

Nach den Koalitionskriegen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelten die Denker der Aufklärung ihre Konzepte vom „Ewigen Frieden“. Kants Traktat beinhaltet zahlreiche kluge Überlegungen, doch solange die Weltordnung nicht liberal ist, mangelt es an der Grundvoraussetzung.

Unvergessen die Szene in der UNO am 26. September 2018, als sich Deutschlands Außenminister Heiko Maas schier ausschütten wollte vor Lachen, weil der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, Deutschland vor der Energieabhängigkeit von Russland warnte. Der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin dozierte: „Die Idee, der Russe würde aus Jux und Tollerei eben mal den Gashahn zudrehen, ist deshalb absurd: Der Kreml würde sich vorsätzlich selbst schädigen. Das hat nicht einmal die Sowjetunion im Kalten Krieg getan.“ Im Januar 2021 schrieb Trittin: „Für Europas Souveränität ist nicht Russland das Problem.“ Nur 13 Monate später eröffnete Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine.

1808 erschien Goethes „Faust, I. Teil“. In der Szene „Vor dem Tor“ führen zwei Bürger folgendes Gespräch:

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
die Völker aufeinanderschlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“

Und die Antwort:

„Herr Nachbar, ja! so lass ich’s auch geschehn,
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinandergehen;
Doch nur zu Hause bleibt’s beim Alten.“

Goethe karikierte die guten Bürger, die Wohlmeinenden, die zwischen sich und die Welt ein dickes Polster Selbstgerechtigkeit schoben. Dabei tobte schon damals Krieg, eben nicht weit entfernt, sondern direkt in Mitteleuropa. Einige europäische Mächte – England, Österreich, Spanien, Russland, das Heilige Römische Reich – hatten sich zusammengeschlossen und führten zwischen 1792 und 1797 den Ersten, zwischen 1799 und 1801 den Zweiten Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich. Ganz Europa taumelte damals – politisch, wirtschaftlich, kulturell.

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Dass der Krieg so nah stattfand, befeuerte im ausgehenden 18. Jahrhundert eine große europäische Debatte: Wie kann Frieden möglich sein, und zwar nicht als bloße Abwesenheit von Krieg, sondern als „ewiger Frieden“, als Normzustand der Weltgesellschaft? Politik sollte nicht länger der Willkür des Herrschers obliegen, sondern rationalen Regeln folgen.

Verkürzt gesagt, kamen die Denker der Aufklärung auf einen inzwischen vergessenen Grundsatz: Nur ein in sich rational geordnetes Staatswesen kann zu anderen Staaten Beziehungen auf der Grundlage der Rationalität unterhalten.

Immanuel Kant legte in seinem ebenso hellsichtigen wie objektiv widersprüchlichen Friedensplan im Ersten Definitivartikel zum „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ (1795) fest: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“ Formal ist Kants Text in der Form eines Friedensvertrags gegliedert in Präliminarartikel, Definitivartikel sowie Zusätze und Anhänge zur näheren Erläuterung.

Schnell wird deutlich, dass sich ein ewiger Frieden nur verwirklichen lässt auf der Grundlage von Staaten, die einen Staatenbund eingehen und die nach liberalen Grundsätzen verfahren, sich gemeinsame und unabhängige Organe wie ein Oberstes Gericht geben. Wenn man so will, besteht Kants Realismus und Kants Utopie darin, dass sein Plan zu einem ewigen Frieden eine liberale Weltordnung voraussetzt. Auch klärt er Juvenals Frage nicht, wer die Wächter bewacht.

Die sechs Präliminarartikel lauten: Ewiger Frieden ist nur möglich, wenn erstens der Friedensschluss ohne Vorbehalt erfolgt, zweitens Staaten nicht wie Sachen behandelt und erworben werden, drittens keine stehenden Heere existieren, viertens keine Staatsschulden in Bezug auf Kriege gemacht werden, fünftens die Autonomie jedes Staates geachtet wird und sechstens Kriege nur so geführt werden, dass eine Grundlage gegenseitiger Gesprächsfähigkeit gewahrt bleibt.

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Die Definitivartikel verlangen, dass Staaten republikanisch verfasst sind. Darunter versteht Kant expressis verbis noch keine Demokratie, aber das Prinzip der Gewaltenteilung. Zweitens hat das Völkerrecht auf dem Föderalismus freier Staaten zu gründen, aus dem ein weltweit gültiger Friedensbund werden soll. Hier sind Kants Ideen in Gestalt der UNO und des Internationalen Strafgerichtshof anscheinend verwirklicht. Von den Staaten, die heute in den Vereinten Nationen vereinigt sind, besitzen allerdings nur die wenigsten eine im Kantischen Sinne republikanische Verfassung.

Im 3. Definitivartikel verfügt Kant ein allgemeines Hospitalitätsrecht, das darin besteht, dass die Erde gemeinschaftlicher Besitz aller Menschen ist. Kant nennt es Weltbürgerrecht. Heute könnte man es auch als das Recht auf Freizügigkeit bezeichnen – und genau hier kommt das Scheitern Kants zum Vorschein. Unterdrückung, positive Diskriminierung und die verschiedenen Facetten von Rassismus sind unter dem Vorwand der Emanzipation und der Wahrung immer neuer Minderheitenrechte, der Bekämpfung von Unterdrückung, von Diskriminierung und Rassismus zurückgekehrt. Die liberale Demokratie ist zu einem Projekt dysfunktionaler Eliten verkommen.

Der sympathische Grundfehler der Aufklärung bestand darin, zu glauben, dass ebenjenes Licht der Aufklärung in jeden Winkel der Welt leuchten und jeden Menschen, ganz gleich, wo er lebt, wie er lebt, woran er glaubt, wie er geprägt ist, erleuchten wird, weil es doch nur vernünftig ist, so zu denken. Dieses Denken ist spätestens seit Edward Saids „Orientalismus“, der der Aufklärung eine höhnische Absage erteilte, überholt.

Hinzu kommt der Aufstieg von Staaten, die auf anderen kulturellen und gesellschaftlichen Konzepten als der Aufklärung beruhen. Heute leben wir offensichtlich in einer Welt, in der die Normen der Aufklärung nur mittels wahrer Stärke durchgesetzt werden können. Der Universalismus als missverstandene Aufklärung ist gescheitert.

Namentlich in Europa hat man nach der langen Zeit des Friedens und des Erfolgs, besonders aber nach dem Fall der Berliner Mauer und der Teilung Europas vergessen, dass der Frieden kein Normzustand mit Ewigkeitsgarantie ist. Nur wenige gewahrten in den Jahren 1989 und 1990 das Paradoxon, das darin bestand, dass der Westen gesiegt, obwohl er nicht gekämpft, und dass der Osten zwar gekämpft, aber verloren hatte. Der Osten wollte Freiheit und ahnte doch nicht, dass die Freiheit im Westen mit steigendem Wohlstand an Wert verlor, er wollte nationale Selbstbestimmung und bekam eine EU-Administration vorgesetzt, er wollte am Wohlstand teilhaben, und doch blieb ihm Wohlstand versagt.

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All jener Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Eigenverantwortung, Demokratie, die der Osten ersehnt hatte, wurde der Westen überdrüssig und ersetzte Rationalismus und Aufklärung durch Irrationalismus und Postmodernismus, getrieben vom typischen Dekadenzphänomen der Lust am Selbsthass.

Der junge Rousseau spottete 1761 in seinen Gedanken zum Projekt des Abbé de Saint-Pierre zum ewigen Frieden, dass die natürliche Gemeinschaft des ganzen Menschengeschlechts eine gefährliche Illusion sei und man sich doch sehr vorsehen müsse vor den „Philosophen“ oder Ideologen, die vorgeben, die Tataren zu lieben, damit sie ihre Nachbarn nicht zu lieben brauchen. Im modernen Ablasshandel der westlichen Wohlstandskinder wird die konkrete Nächstenliebe zur abstrakten Fernstenliebe – auf Kosten des Nächsten übrigens.

Inzwischen zeigt sich, dass es starke Bewegungen hin zu einem Frieden in der Ukraine gibt. Der ukrainische Präsident Selenskyj deutet an, dass 2025 es zum Frieden kommen kann, Donald Trump hat sich den Frieden als Ziel gesetzt, in den englischsprachigen Medien zeigt sich ein Umschwung im Denken.

Immanuel Kant leitete seine Schrift mit folgender Clausula salvatoria ein: „Ob diese satirische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nicht satt werden können, oder wohl gar nur den Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahingestellt sein.“

Solange die von Kant beschriebene Föderation auf aufgeklärter Grundlage nicht existiert, solange kein Weltbürgertum existiert, muss der Frieden durchgesetzt werden – und man setzt ihn nur durch wahre Stärke durch. Putin hat die Ukraine angegriffen, als Europa schwach war. Durch die Deindustrialisierungspolitik der Grünen, durch die deutsche Traumtänzerei und durch Macrons Verschuldungspolitik ist Europa schwach geworden und daher unfähig, einen Frieden zu erzwingen.

Es liegt nun an uns, welcher Deutung des ewigen Friedens wir folgen wollen, der „jenes holländischen Gastwirts“ oder der des Philosophen Immanuel Kant, der der deutschen Grünen und Christdemokraten oder der einer neuen Liberalität, eines neuen Liberalismus in Anregung von und im Widerstreit mit dem großen Immanuel Kant.

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