Tichys Einblick
Von der Vielfalt des Wurstigen

Es geht um die Wurst – eine deutsche Kulturgeschichte

Wolfger Pöhlmanns Liebeserklärung an die weltweit berühmteste kulinarische Spezialität unseres Landes.

Wurst ist viel mehr als nur ein Nahrungsmittel, sie gehört zur deutschen Kultur – aber sie polarisiert in Zeiten von Veganismus und Tierschutz.

Der Kunsthistoriker Wolfger Pöhlmann hat eine jahrzehntelange Karriere als Ausstellungsmacher und Kulturmanager mit leitenden Positionen u.a. am Haus der Kulturen der Welt in Berlin und beim weltweit für die Präsentation deutscher Kultur im Ausland verantwortlichen Goethe-Institut hinter sich. Seit seiner Kindheit liebt er Würste, Wurstmacher und Wurstwissen leidenschaftlich. Als Kunsthistoriker und Wurst-Ethnologe rückt er dem Kunstwerk aus zerkleinertem Fleisch, Speck, Salz und Gewürzen kulturgeschichtlich, ästhetisch und geschmacklich auf die Pelle und reist der Wurst auf der Deutschlandkarte hinterher.

Bei statusorientierten Gourmets – besonders den deutschen – gehört es zum guten Ton, über die „kulinarische Wüste Deutschland“ die Nase zu rümpfen. Das gibt vermeintlich Extrapunkte für erlesenen Geschmack.

Wolfger Pöhlmann begegnete als langjährigem Mitarbeiter des Goethe-Instituts eine ganz andere Wahrnehmung deutsche Esskultur als vermutet. Ausländer schwärmen von deutschem Brot, deutschem Bier, rheinischem Wein und – der Vielfalt deutscher Würste.

Deshalb, und weil er als gebürtiger Bayer früh mit den Freuden des Wurstzipfels sozialisiert wurde, erweist er sich als idealer Anwalt für die Verteidigung der großartigsten kulinarischen Spezialität unseres Landes.

Wie der Autor empfand auch der Rezensent es als „Gipfel allen Glücks“, wenn er die Mutter beim Einkauf begleitete und von der reschen Metzgersfrau ein Rädchen Gelbwurst über die Theke gereicht bekam. Und der Höhepunkt des alljährlichen Volksfestes im August war für mich der Gang zum Pferdeknackerstand, wo die Tante auch schon mal zwei Portionen hintereinander spendierte.

Die Geschmackserziehung des kleinen Wolfger begann in Niederbayern mit Gelbwursträdchen, erfuhr aber eine Steigerung, als seine Familie nach Nürnberg übersiedelte: “Kulinarisch der Eintritt ins Paradies! Etwas Besseres als Nürnberger Bratwürste und überhaupt die fränkischen Wurstwaren hatte ich noch nie erlebt.“ Und flugs offenbarte sich ein wahrer Wurstkosmos: „Das Äquivalent zu den niederbayrischen ‚Wollwürsten‘ sind in Franken die ‚Nackerten‘. In Zwiebel und Essig eingelegte Bratwürste heißen gar ‚Saure Zipfel‘ – für einen pubertierenden Knaben recht anregende Assoziationen.“

Schon hier wird klar: Wurst ist viel mehr als ein Nahrungsmittel! Sie ist Leidenschaft, Heimat – oder wie der Frankfurter Professor für Kochkunst und gebürtige Oberösterreicher Peter Kubelka gerne sagte: „Würste sind die Tiere des Paradieses“. Ihr Genuß erfordert kein Knochenabfieseln, keine umständliche Entfernung von Gliedmaßen, keine schwierige Zubereitung, Würste warten verführerisch und hingabebereit darauf, vom Esser in den Mund gesteckt zu werden.

Dieses Bonmot enthält auch eine andere Wahrheit: Wurstmachen ist ein Verfahren, um möglichst viel von dem, was im Schlachtprozess abfällt, einer sinnvollen Verwertung zuzuführen. Im modischen Ökosprech: Würste sind Muster an Nachhaltigkeit.

„Es geht um die Wurst“ ist ein wunderbares, vielseitiges Werk, mit zahlreichen appetitanregenden Fotos illustriert. Und es ist ein Reiseführer durch die Produktionsstätten des weltweit populärsten deutschen Fastfood-Erzeugnisses, zugleich ein kulinarischer Ratgeber durch die Wurstspezialitäten aller deutschen Regionen. Und tatsächlich gibt es für fast jede deutsche Landschaft typische geräucherte oder gebrühte Delikatessen. Die deutsche Wurstkultur ist so kleinteilig wie die Regionen unseres Landes. Je weiter man sich von den Hauptrouten und Städten entfernt, desto eher stößt man noch auf Handwerksbetriebe, in denen die lokalen Traditionen noch unverfälscht gepflegt werden. Das schlägt sich schon in der Vielfalt der Kosenamen nieder: Spiralwürste aus Steindorf, Christbaumwürste und Mauwürste („Mau“ heißt im Allgäuer Dialekt der Mond) aus Memmingen, Raucherl aus Landsberg, St. Goarer Rheinbeißer, Oberpfälzer Bauernseufzer, Gamswurzen aus Bayrisch Zell und so weiter… Am originellsten, für Leute mit feinen Manieren allerdings gewöhnungsbedürftig, sind die Wiener. Da gibt es „Burenhäutl“, „Haße“ (Vom Imbißstand tönt es da im Winter: „Koit is, haße!“) oder „Eitrige“ (Käsekrainer) mit „Oarschpfeiferl“ (scharfe Peperoni).

Pöhlmanns mitreißende „sentimental journey“ durch Wurstdeutschland beginnt im Süden, wo das vom Aussterben bedrohte Metzgerhandwerk noch einige klassische Bastionen verteidigen kann. Mit einfühlsamen Verständnis interviewt der Autor die wackeren Verteidiger ihrer Zunft zu den Schwierigkeiten durch immer neue bürokratische Auflagen und den Nachwuchsproblemen dieses ehrbaren, aber vom einförmigen Massengeschmack nur stiefmütterlich geschätzten Gewerbes.

Besonders Bayern hat dennoch eine große Anzahl kleiner und mittlerer Geschäfte, die allemal einen Abstecher aufs Land lohnen. Wer von der Weißwursthauptstadt München oder von Augsburg aus Wursterkundungen in die nähere oder weitere Umgebung unternehmen will, der wird vom Autor mit einer ganzen Reihe Geheimtipps ausgestattet. Entdeckungen kann man machen in Schliersee, Bayrischzell, Meckenhausen in Oberbayern; Dingolfing und Landshut, Pfarrkirchen, Bad Birnbach, Anzenkirchen und Passau in Niederbayern. Ich verrate sie hier nicht, das muss jeder Leser selber im Buch nachschaun.

In der Oberpfalz konkurriert Regensburg mit Nürnberg darum, wer zuerst die Bratwurst erfunden hat (ist bis heute nicht entschieden). Die „Regensburger“ aber sind stark gewürzte Brühwürste aus grobem oder feinem Fleischbrät, ideal für Wurstsalat mit Essig, Öl, Senf und Zwiebeln. Über die Oberpfalz (wie übrigens auch über den Hessischen Vogelsberg) wird gerne gesagt, hier sei es im Jahr „zehn Monate Winter und zwei Monate kalt“. Deshalb klagen die Bauern über die kargen Erträge seit Jahrhunderten und suchen Trost bei ihren köstlichen Räucherwürsten, den „Bauernseufzern“. Die alte Reichsstadt Neumarkt/Opf. hat übrigens mit einem Weißwurstmuseum aufzuwarten, weshalb allein deshalb schon die Rede vom „Weißwurstäquator“ (der Donau ((ich dachte der Main???)) irrig ist. Weißwürste gibt es weltweit. Bei einer Blindverkostung auf der Frankfurter Internationalen Fleischermesse gewann unter 50 Sorten den Preis eine Weißwurst – eingesandt aus Japan. Und im Gegensatz zu den geographisch geschützten „Nürnberger Bratwürsten“ und „Frankfurter Würstchen“ hat es der Versuch, die „original Münchner Weißwurst“ patentieren zu lassen, nicht geschafft. So kann verblüffender Weise jeder Hersteller weltweit „original Münchner Weißwurst“ anbieten.

Das Kapitel Franken hat im Buch die Überschrift: „Im Wursthimmel“. Im Nürnberg des Hans Sachs war der Hanswurst bei den Fastnachtsschwänken die beliebteste Figur, und die Lieblingsbrotzeit des Franken ist die Nürnberger Bratwurst. Am liebsten in der Version „Drei Wärschtla im Weggla“. Früh legte der Magistrat der Dürerstadt Wert auf die Qualitätssicherung ihrer Spezialität. Einen Kontrolleur gab es schon seit 1302; ab 1470 ging die Aufgabe an das „Rugamt“ über, das richterliche Gewalt innehatte und Vergehen mit Geldstrafen, Beschlagnahmen, Sperren, Haft, Pranger oder Verbannung ahnden konnte.

Darüber, wo es in Franken die beste Bratwurst gibt, streiten natürlich die Experten. Neben Nürnberg, Fürth und Würzburg kommen auch Orte in Betracht wie Cadolzburg, Ansbach (Begründer eines speziellen Reinheitsgebotes und Meisterhort der „Sauren Zipfel“), Kronach und Coburg. Dort wollte der Stadtrat wegen einer EU-Verordnung zu Grenzwerten die althergebrachte Methode des Holzkohlengrills verbieten. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen zwanzig unbescholtene Brater.

Wellen der Empörung schlugen in der Bevölkerung hoch. Versuchten da wieder einmal übereifrige Bürokraten ein Stück Heimat zu vernichten? Die Rettung kam in Gestalt der CSU-Europaparlamentsabgeordneten und Straußtochter Monika Hohlmeier, die am Marktplatz demonstrativ eine über Kiefernzapfenglut gebratene „Coburger“ verzehrte. „Du mußt schon jeden Tag 11 völlig schwarze Bratwürste essen, um gesundheitsschädigende Grenzwerte zu überschreiten,“ erklärte sie. Im Internet wurde gejubelt: „Danke Monika, du hast Franken gerettet.“ Die Behörden machten einen Rückzieher und die Staatsanwaltschaft stellte die Verfahren wegen Geringfügigkeit ein.

Apropos Bratwurstkuriositäten: Der Japaner Takeru Kobayshi ist auch der Weltrekordhalter im Bratwürste essen. Er schaffte 58 Bratwürste in zehn Minuten. Dem Jausengenießer sind verständlicherweise solche Sperenzchen fremd.

Baden-Württemberg ist bundesweit nicht für eine besondere Wurstkultur bekannt. Doch Pöhlmann ist auch hier fündig geworden. Es gibt da originelle Kreationen wie die Zeppelinswurst aus Friedrichshafen, die aus Markenschutzgründen nur „Zeppelino“ heißen darf, die „Lutherwurst“ aus Balzheim und den erfolgreichen Weltrekord auf dem „Ulmer Saumarkt“, wo 2016 die Metzger und Bäcker mit einem 170 Meter langen Leberkäse die bis dahin geltende Marke von 100,20 Metern beträchtlich überboten. Der soll tatsächlich innerhalb eines Tages von den Festbesuchern verspeist worden sein…

Bei Rheinland-Pfalz fällt den meisten sofort der „Pfälzer Saumagen“ ein. Ahnungslose Snobs machen sich bis heute lustig über Helmut Kohls Liebe zur deftigen Delikatesse. Wie borniert! Von richtigen Metzger hergestellt, ist er ein Erlebnis für Feinschmecker. Der Altkanzler setzte sie bekanntlich allen wichtigen Staatsgästen vor – von Maggie Thatcher über König Juan Carlos bis Gorbatschow, der in dieser Zeit mit Kohl zum „Du“ wechselte. Ist womöglich deshalb die Wiedervereinigung ein Ergebnis des Saumagens? Sogar Thatcher, bekanntermaßen keine Freundin Kohls, bedankte sich überschwänglich in einem Brief.

Selbstverständlich ist die aromatische Pökelfleischbombe nicht jedermanns Geschmack. Von Mitterand gibt es die Anekdote, er habe im obligatorischen „Deidesheimer Hof“ nur unwillig auf dem Teller herumgestochert. Hannelore bemerkte das und wies ihren Helmut diskret darauf hin, worauf dieser Mitterand etwas ins Ohr flüsterte. Der war plötzlich wie verwandelt und verschlang mit scheinbar großen Appetit seine Portion. Als Hannelore später fragte, was Helmut denn mit dem Francois da gemacht habe, soll er geantwortet haben: „Ich habe ihm gesagt, wenn er nicht ordentlich aufisst, kriegt er das Saarland zurück.“

Das Saarland schmaust bei Wurstappetit am liebsten „den Lyoner“. An der Verwendung des richtigen Artikels erkennt man den Landsmann. Der „Saarländische Lyoner“ von Fleischer Steuer-Wagner aus Losheim hat auf der IFFA im internationalen Qualitätswettbewerb die Bestnote 50 Punkte von 50 möglichen gewonnen. Der Lyoner sieht aus wie eine Fleischwurst, ist aber weniger fett und hat zum Inhalt neben Schweine- auch Rindfleisch. Für die Saarländer mit ihrem Lebensmotto „Hauptsach, gudd gess“ ist er das identitätstiftende Zentrum, weshalb die Kinder beim Fleischer kein Rädchen Gelbwurst, sondern eine dicke Scheibe Lyoner bekommen.

Als ausgewiesener Experte und Mitstreiter des genialen Fettverehrers Beuys kann Wolfger Pöhlmann aus den Zentren der deutschen Gegenwartskunst Düsseldorf, Köln und Duisburg viele Exempel künstlerischer Wurstsensibilität anführen: Die Wurstskulpturen Erwin Wurms etwa, der Bockwürstel in grotesken Handlungsformen arrangiert, Thomas Schüttes Gemälde mit einer beschrifteten Bockwurst „Im Namen des Volkes“ , Inhoevens „Wurstzirkus“, Sigmar Polkes Wurstesser oder die begehbaren „Wurstteppiche“ von Thomas Heinz. Beuys selbst war wegen seiner selbstgemachten Blutwürste berühmt. Wer eher sachlich wie der vorher erwähnte Saarländer denkt, dem mögen solche Artefakte vielleicht wie Schabernack erscheinen. Für die Stillung des alltäglichen Appetits muß jedoch der Westfale und die Rheinländerin nicht erst Vernisagen aufsuchen. In jeder durchschnittlichen Gaststätte gibt es gebratene Blutwurst mit Kartoffelstampf und Apfelkompott. Derlei heißt dann auf der Karte „Kölsche Kaviar“ oder „Himmel und Ääd“.

Am Niederrhein hat sich eine bemerkenswerte Bioszene entwickelt, mit großen Hofmärkten, auf denen Landwürste auf der Basis eigener Tierhaltung und Hausschlachtung angeboten werden. Die charakteristische Spezialität der Region sind die Mettenden, sehr haltbare Rohwürste, die wie gute Salamis durch monatelange Lagerung ständig an Aroma zunehmen.

Den Hessen bescheinigt der Autor, sie seien Feinschmecker, „die für Qualität auch mal tief in die Tasche greifen“. Es hat da tatsächlich schon Bratwürste mit feinstem Fleisch vom japanischen Kobe-Rind gegeben, die dann als „teuerste Bratwürste der Welt“ Schlagzeilen machten. Der hessische Stammtisch würde derlei als „Ferz mit Gralle“ schelten. Liebhaber der wahren Wurstkultur war hingegen der berühmteste Sohn der Freien Reichsstadt. Goethe ließ sich gerne von seinen diversen Frauen mit Schwartenmagen und Bratwurst beschenken und schrieb etwa 1811 an die Gemahlin Christine Vulpius: „Die schönen Würste haben ein gar gutes Aussehen und so ist alles in der besten Ordnung.“

Für den gewöhnlichen Speisezettel teilt sich Hessen in Nord, wo die „Ahle Worschd“ beheimatet ist, und in Süd, wo Rindswürste und „Frankfurter“ dominieren, die bis vor wenigen Jahren allerdings noch „Wiener“ hießen (in Wien hingegen Frankfurter). Die Rindswürste sind der historischen Trennung von Rindermetzgern und Schweinemetzgern geschuldet, die Vermischung beider Fleischsorten war verboten. Zur Popularität der Rindswurst mag auch die große jüdische Gemeinde um 1900 beigetragen haben. Für uns heutige Verbraucher ist es merkwürdig, dass vor der Massentierhaltung Rindfleisch wesentlich preiswerter war als Schweinefleisch.

Deshalb galt das Wiener (also das Frankfurter) Würstchen edler als die Rindswurst. Diese hat dafür heute deutlich an Status gewonnen, obwohl inzwischen bei den meisten Rindswürsten Schweinefleisch zugesetzt wird. Die große Ausnahme ist der Lokalmatador Frankfurts, die 1894 gegründete Metzgerei Gref-Völsing, die eisern auf der 100-Prozent-Regel Rind beharrt. Das originale „Frankfurter Würstchen“ darf nur in Frankfurt und Neu-Isenburg hergestellt werden, besteht aus Schinken, Rind- und Schweinebrät, und verwendet einen Schafsaitling als Wursthaut. Fast die gleiche Rezeptur zeichnet die „Wiener Würstchen“ aus, die unter diesem Namen überall hergestellt werden dürfen.

Im hessischen Norden, in Kassel und Bebra, Bad Hersfeld und Eschwege ißt man „Ahle Worschd“, auch „Ahle Rote“ „Runde“, „ Stracke“ oder „Hammerstiel“ genannt. Sie besteht aus Muskelfleisch und Speck von älteren Schweinen mit mindestens 150 kg. Lebensgewicht, wobei das Fleisch grundsätzlich noch schlachtwarm verarbeitet werden muß. „Ahle Worschd“ erfordert zu ihrer Herstellung viel handwerkliches Geschick und schließt industrielle Fertigung aus. Im kargen Vogelsberg hat sich die Kartoffelwurst von der Arme-Leute-Nahrung durch stete Optimierung zur Spezialität entwickelt, die auf den Erzeugermärkten in Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden großen Anklang findet.

Beim Wort „Thüringer“ denkt jedermann sofort an die lange Rostbratwurst. Sie wird in Volksfesten und Museen gefeiert, zum Brauchtum gehören auch Wurstkönigin und Bratwurstkönig, Gotha ist stolz auf seine Cervelatkönigin. Durch die historische staatliche Zersplitterung Thüringens in Herzogtümer, fürstbischöfliche und gräfliche Länder vermischten sich fränkische, pfälzische und hessische Wurstkulturen zu einer produktiven Einheit. Das kann man studieren in Holzhausen bei Arnstadt, wo es in der größten begehbaren Bratwurst der Welt, einem Gebäude in Bratwurstform, ein Bratwursttheater gibt. Und im dazugehörigen Bratwurstmuseum erfährt man die Geschichte von Martin Luther, der seine Zeche prellte. Worauf die erzürnte Wirtin an die Tür schrieb: „Luther hat seine Bratwurst nicht bezahlt.“ Daher kommt das Wort ankreiden, sagt man…

Neben den Rostbratwürsten kann man im reichen Wurstschaffen der Region deftige Rotwürste, und eine Unzahl von Brühwurstvarianten entdecken: Pilzwurst, Eierwurst, Römerbraten, Fleisch- und Kalbskäse, Pepperdu und Kaiserjagdwurst.

Sachsen ist das Land der Knackwürste. Champion dieser Disziplin ist Meißen, dessen aromatische Würste von den Meißner Landschweinen herrühren. Diese Tiere dürfen über ein Jahr lang ihr Schweineleben genießen, sie haben viel Auslauf und bekommen Klee, Kartoffeln und Futtergetreide aus eigener Produktion. Pöhlmann verrät seinen Lesern mehrere einschlägige Fleischereien in und um Meißen.

In Sachsen-Anhalt ist das bestimmende Merkmal der regionalen Wurstküche der Kümmel. Der steckt in Kümmelringen und Knackern. Aber Sachsen-Anhalt ist auch das Mutterland der Konservierung mit Salz, Rauch und in Dosen. Archäologen stießen bei Ausgrabungen auf bronzezeitliche, über 3000 Jahre alte Herdgruben, deren Überreste als Pökel- und Räucherwerkstätten identifiziert wurden. Der ehemalige Straßenhändler Friedrich Heine fand bei Experimenten heraus, wie man durch die richtige Mischung aus Blechstärke, Rauch, Temperatur und Festigkeit der Einlagerung schmackhafte Dosenwürstchen herstellen kann. Schon 1901 produzierte Heine jeden Tag 10 000 Würste in der Dose und legte damit die Grundlage des längst auch in den alten Bundesländern beliebten „Halberstädter Würstchens“.

Die vielen politischen und wirtschaftlichen Umbrüche nach der Wende haben auch in punkto Wurstkultur das Aufkommen einer DDR-Nostalgie befördert. Marketingstrategen machten sich das zu Nutze und entwickelten vor allem im Feld der Onlineshops rege Aktivitäten. Da gibt es „DDR-Wiener“, DDR-Leberkäse“ und „Ossi-Partyschmalz“. Über das ganze Bundesgebiet verstreute Kunden signalisieren mit dem Kauf ganzer Fresspakete ihre Verbundheit mit der alten Heimat. Die Versandhändler Martina und Andreas Knopf aus Volkstedt sagen: „Zunge und Nase mögen das Essen, mit dem man aufgewachsen ist. Der Start unseres Online-Unternehmens fiel zusammen mit der wiedererwachten Sehnsucht nach unverwechselbaren Geschmackserlebnissen aus Kindheit und Jugend.“ Wie wahr!

Niedersachsens Wurstkulturhauptstädte sind seit alters her Braunschweig und Göttingen. In diesen Regionen hat man die Herstellung von Mettwürsten, Knoblauch- und Zervelatwürsten zur Meisterschaft entwickelt. Das Braunschweiger Metzgerhandwerk gelangte durch fleißige Auswanderer auch nach Übersee. Die ursprüngliche Braunschweiger Leberwurst ist als „Brunswicker“ die verbreitestste Streichwurst der USA geworden. Das Metzgerhandwerk mußte in Niedersachsen wie im benachbarten Westfalen allerdings den großen Fleischfabriken weichen, die von riesigen Massentierhaltungen beliefert werden und dadurch billige Ware liefern können. Die wird zum allergrößten Teil über Supermärkte vermarktet. Es gibt zahlreiche Orte in Niedersachsen und auch weiter im Norden, in der es keinen einzigen Fleischer mehr gibt. Beispiel Lüneburg: Dort hat ausschließlich ein Pferdemetzger überlebt. Gegen diese Tendenz des Metzgersterbens erhebt sich in jüngster Zeit zunehmend Kritik. Gelegentlich organisieren sich die wenigen verbliebenen Produzenten handwerklicher Fleischerkunst zu Erzeugermärkten.

Deren überzeugendes Verbraucherargument Nr. 1 ist die Geschmacksqualität, die gegenüber der Massenware durch aufwendige Rezepturen, lange Lagerung und auch durch eine schonendere Tierhaltung befördert wird. Die vereinzelten „Schlachter“ etwa im Harz, die die Vorherrschaft der Fleischindustrie überlebt haben, erfahren zunehmende Aufmerksamkeit von Seiten einkommensmäßig gehobener Zielgruppen. So erleben Spezialitäten wie die „Harzer Stracke“, die „Schmorwurst“ und der „Gebirgsknippel“ aus Wild- und Rindfleisch eine verdiente Renaissance.

Für Süddeutsche merkwürdige Wurstsitten werden in den Hansestädten geübt. In Hamburg etwa setzt man der Weißwurst Fischiges zu. Edmund Stoiber wurde einmal auf einem Empfang seines Kollegen Ole von Beust eine Hamburger Weißwurst vorgesetzt, der man zu Ehren des Gastes Kaviar beigemengt hatte. Nach dem ersten Bissen verschlug es dem Bayern die Sprache. Er verweigerte jeden Kommentar und ließ das Teil auf dem Teller liegen.

Immerhin hat der Hansestaat mit noch einer weiteren Seltenheit zu punkten.
Es gibt dort noch zwei Pferdemetzger, insgesamt sind von dieser ehrenwerten Profession nur 70 im ganzen Bundesgebiet übriggeblieben. Der Hamburger Rossschlachter Uwe Poggensee verteidigt sein Gewerbe mit den einleuchtenden Argumenten: Pferde hätten grundsätzlich ein besseres Leben als die üblichen Masttiere. Sie würden vom Menschen ganz anders betreut. Bei einem Pferd weiß man genau, ob und wann welche Medikamente dem Tier im Verlauf seines Lebens verabreicht wurden. All das muß in einen „Equipment Pass“ eingetragen werden. Poggensee prüft genau solche Pässe und entscheidet daran, ob er das Fleisch verarbeiten will. Mit dieser Methode expliziter Wachsamkeit für Tier und Herstellung weist der Hamburger Rossmetzger vielleicht auf die Chancen hin, die dem deutschen Metzgerhandwerk insgesamt noch eine Zukunft gewähren können.

Bremens Nationalgericht ist Pinkel mit Grünkohl. Pinkel besteht aus Speck, Hafer- oder Gerstengrütze, Rindertalg und Schweineschmalz, Zwiebeln, Salz, Pfeffer und Gewürzen.

Grünkohl ist ein Wintergemüse, im Dezember wird viel geschlachtet, weil man die Tiere nicht in den Wintermonaten durchfüttern muss; und so ist alles bereit für den derben Schmaus. Mit Bier und Schnaps ist es auch für süddeutsche Gaumen genießbar. Selbstverständlich gibt es in Bremen und an der gesamten Küste alle möglichen Versuche, Würste mit Fischen zu produzieren, aber das schätzen nur die Einheimischen.

Bleibt als großes Thema die Berliner Currywurstkultur. Darüber berichtet der Autor die vergnüglichsten Geschichten, die ich als Rezensent den Lesern des Buchs nicht vorwegnehmen will.

Es gibt ganz viele Gründe, dieses Buch zu lesen, zu verschenken, als Reiseführer und kulturgeschichtliche Fundgrube zu nutzen. Der Verlag Albrecht Knaus hat sich damit, wie der Autor Wolfger Pöhlmann, ein kulturliterarisches Denkmal gesetzt. Das Buch ist überdies liebevoll ausgestattet und mit zahlreichen vierfarbigen Illustrationen versehen: Ein Geschenk an alle, die ihren kulinarischen Genuss durch Kenntnis und Wissen verfeinern mögen.

Habe ich etwas vergessen? Vieles – bei 250 aufgeführten und beschriebenen Orten der Wurstkultur! Uli Hoeneß Wurstfabrik in Nürnberg etwa oder die denkwürdige Wandlung des Wurstfabrikanten Schweisfurt zum alternativen Ökometzger. Aber zum Schluß sei doch noch auf die Gefahren hingewiesen, die im Wurstgewerbe lauern:

Die seit 1825 bestehender Metzgerei Sieber im oberbayrischen Geretsried galt lange als vorbildlicher Musterbetrieb – bis zwischen 2012 und 2016 Listerien-Erkrankungen auftraten. 80 Personen infizierten sich, vier starben. Ursache war – ein vegetarischer Aufschnitt der Firma Sieber! Der Betrieb wurde geschlossen. 250 Mitarbeiter der Großmetzgerei verloren ihren Job. Leben ist gefährlich, sogar der Verzehr von Veggiewurst!


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