Tichys Einblick
Das Eigene und das Fremde

Es geht um die eigenen Privilegien, nicht um eine gerechtere Gesellschaft

Dass Prominente zu fußfälligen Ergebenheitsriten genötigt werden, wenn sie es mal am korrekten Sprachgebrauch haben fehlen lassen, dürfte den meisten Menschen, also den Normalos, egal sein.

Martin Luther King träumte in seiner berühmten Rede vor dem Lincoln Memorial 1963 von einer Gesellschaft freier Bürger, nicht von einem neuen Tribalismus, der sich Antirassismus nennt und das Gegenteil ist. Er wollte im Übrigen auch nicht 50 Prozent der Sitzplätze für Schwarze, sondern, dass sich jeder hinsetzen darf, wo er sich hinsetzen will. Doch wo sich der Staat zurückzieht, weil er sein Gewaltmonopol nicht mehr ausüben kann, entsteht genau das: die Auflösung der Gesellschaft in sich befehdende Stämme. Alain Finkielkraut hält den Antirassismus für den »Kommunismus des 21. Jahrhunderts«. »Das bürgerliche schlechte Gewissen hat eine Menge Intellektuelle dazu gebracht, sich auf die Seite der Arbeiterklasse zu schlagen. Sie büßten so für ihre Privilegien und sahen sich durch ihren Kampf für die Gleichberechtigung erlöst. In der heutigen extremen Linken ist nun diese Beschämung, weiß zu sein, an die Stelle des bürgerlichen schlechten Gewissens getreten – die Privilegien jedoch konnte sie nicht abstreifen. Es gibt also keine Sühne für ihr Schuldgefühl. Und auch keine Erlösung.«

Das hat, ebenso wie einst die Identifikation mit der Arbeiterklasse, mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun, mit der Realwelt der weißen Normalos, die sich wahrscheinlich keineswegs privilegiert fühlen. Im Gegenteil: Das Gerede von den angeblichen weißen Privilegien steigert eher den Zorn der Deplorables auf die moralisierende Klasse. Sie hegen schon längst den begründeten Verdacht, dass der permanente Appell an ihre Schuldgefühle nur dazu dient, sie ruhigzustellen. Eben noch waren sie schuld am Elend in der Dritten Welt, dann waren sie Auslöser einer Klimakatastrophe, jetzt werden die Denkmäler ihrer Vorfahren gestürzt, deren Errungenschaften nichts mehr bedeuten – es zählt nur noch, dass sie in einer Zeit lebten, in der andere Maßstäbe galten, die einem heute unsympathisch sein mögen. Und die weißen Eliten applaudieren auch noch der Entwertung weißen Lebens.

Dabei gilt auch hier der gute Historikerrat, keine »Rückschaufehler« zu begehen, die Vergangenheit also nicht nach heutigen Wertvorstellungen und mit dem heutigen Wissen zu beurteilen und zu verurteilen. Das empfiehlt auch die nigerianische Autorin Adaobi Tricia Nwaubani, deren Urgroßvater ein Sklavenhändler war. Er ließ sich von seinen Agenten schwarze Sklaven besorgen, die er verschiffte. »Es wäre ungerecht, einen Mann des 19. Jahrhunderts nach den Prinzipien des 21. Jahrhunderts zu beurteilen. Das würde uns zwingen, aus den Helden unserer Vergangenheit, die nicht von der westlichen Ideologie beeinflusst waren, Schurken zu machen. Sie wussten es damals nicht besser.« Und das gilt dann wohl auch für jene, die sich von Nwaubanis Urgroßvater mit Sklaven versorgen ließen.

Wann ist ein Rassist ein Rassist?
Identitätslinke Läuterungsagenda manipuliert Politik und Gesellschaft
Nicht zuletzt ist der Antirassismus in seinem Furor gegen Weiße selbst rassistisch, sowohl nach der Menschenrechtskonvention als auch dem Grundgesetz zufolge. Denn gemäß der neuen Ideologie darf niemand mitreden, der nicht selbst »Opfermerkmale« aufweist, und das heißt vor allem: kein Weißer, auch keine weiße Frau. Denn: »Wer unterdrückt wird, hat erstmal Recht.« Ob jemand sich unterdrückt fühlen darf, bestimmt er selbst. Das nennt man in der wirklichen Welt Meinungsdiktat.

Eine Kopfgeburt des akademischen Milieus, wo »intersektionales Denken« seit etwa 2010 »akademische Hochkonjunktur« hat, wie Christian Jacob schreibt? »Intersektional« heißt, dass eine Person mehr als ein Opfermerkmal auf sich vereint, also: dass etwa eine Frau nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihrer Hautfarbe oder ihres sozialen Status unter gesellschaftlicher Ungleichheit leidet. In der Praxis ist daraus eine Art Opferhierarchie entstanden. Eine mehrfache Opferrolle kommt einer Heiligsprechung gleich. Das aber ist der Kampf um eigene Privilegien, nicht etwa der Kampf um eine gerechte Gesellschaft – um Privilegien, für die man nichts tun muss, außer empört aufzuschreien. Die »identitätslinke Läuterungsagenda« ist, wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sagt, ein »Rezept zur Desintegration«: Wenn diejenigen, die sich zu Opfern erklären, Sonderrechte und Wiedergutmachung fordern, zählen Gleichheit und Leistung nicht mehr. Das merken sich auch die weißen »Täter«.

Was bei all diesen erregten Debatten auf der Strecke bleibt, ist das, was uns die Aufklärung beschert hat, nicht zuletzt wissenschaftliche Erkenntnis selbst. Was wahr ist, bestimmt weder das individuelle Empfinden einiger noch eine Art Mehrheitsbeschluss, sondern die freie Auseinandersetzung. Erkenntnis entsteht durch kritische Würdigung unterschiedlicher Standpunkte. Das ist schön gedacht, doch mittlerweile ist nicht mehr jeder Standpunkt erlaubt. Wer das als eine »Verengung des Meinungskorridors« beklagt, wie etwa der Schriftsteller Uwe Tellkamp, hat mit empörter Zurechtweisung zu rechnen. Man darf hierzulande schließlich alles sagen, oder? Nur die Folgen muss man gegebenenfalls tragen, und die können nicht nur öffentlichen Pranger bedeuten, sondern auch den Job und die bürgerliche Existenz kosten.

Im angelsächsischen Raum haben sich immerhin 150 Prominente zusammengetan, um gegen Konformitätsdruck und Zensur zu protestieren, auch Prominente, die eher linke Positionen vertreten wie Noam Chomsky, J. K. Rowling oder Louis Begley, aber ebenso Steven Pinker, Jonathan Haidt und Francis Fukuyama. Der offene Brief distanziert sich zunächst artig von Donald Trump, der vorgeblich eigentlichen Gefahr für die Demokratie, und von der radikalen Rechten. Doch dann geht es zur Sache. Man beklagt die Intoleranz, die »moralische Gewissheit« der »eigenen Kultur«: Redakteuren wird gekündigt, Bücher werden zurückgezogen, Journalisten dürfen über gewisse Themen nicht schreiben, Professoren werden verfolgt, wenn sie die falsche Literatur zitieren. So würden die Grenzen des Sagbaren immer enger gezogen.

Jörg Bernig
„Ich werde mehr Zeit für mein Schreiben haben. Das wird einigen auch wieder nicht gefallen“
Eine vorbildliche Aktion. Doch in Deutschland geht es anders zu. Als der Schriftsteller Jörg Bernig zum Kulturamtsleiter von Radebeul gewählt wurde, reichte der empörte Einspruch anderer Kulturschaffender, um den Bürgermeister von Radebeul dazu zu bewegen, ein Veto gegen die rechtmäßige Wahl einzulegen. Bernig war ihnen nicht links genug. Hat sich dagegen eine Institution wie der PEN erhoben, die Organisation der Autoren, die sich für freie Meinungsäußerung einsetzt, und sich hinter sein bedrängtes Mitglied gestellt? Beschämenderweise im Gegenteil. Die Präsidentin Regula Venske hat das PEN-Mitglied Jörg Bernig vielmehr gebeten, »die notwendigen Konsequenzen« zu ziehen. Da Bernig in Radebeul ordnungsgemäß gewählt war, trat er konsequenterweise zu einer zweiten Wahl nicht an. Kulturamtsleiter ist nun ein anderer.

Mit einer gewissen Verspätung gibt es jetzt im deutschsprachigen Raum ebenfalls einen vernehmbaren Aufstand gegen die moralingesättigte cancel culture, den »Appell für freie Debattenräume«, initiiert von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser. »Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit«, heißt es dort. »Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral. Stammes- und Herdendenken machen sich breit. Das Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten – und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn. Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.« Unterzeichnet haben Personen aus einem breiten Meinungsspektrum, und das lässt hoffen.

Dass Prominente zu fußfälligen Ergebenheitsriten genötigt werden, wenn sie es mal am korrekten Sprachgebrauch haben fehlen lassen, dürfte den meisten Menschen, also den Normalos, am Allerwertesten vorbeigehen. Und doch: Die Unerbittlichkeit, mit der diese Positionen verteidigt werden, die cancel culture, mit der versucht wird, alle mundtot zu machen, die sich dem wahren Glauben nicht anschließen, und vor allem die Bereitwilligkeit, mit der Politik und Medien vor lautstarken Minderheiten einknicken, lässt nicht nur um die Meinungsfreiheit fürchten.

Auszug aus: Cora Stephan, Lob des Normalen. Vom Glück des Bewährten. Edition Tichys Einblick im FBV, Hardcover, 240 Seiten, 16,99 €


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