Die Anwältin Susanne Bräcklein hat im Tagesspiegel gefordert, dass auch Mädchen in Knabenchören mitsingen dürfen. Alles andere sei Diskriminierung. Anlass war ein Fall beim Berliner Staats- und Domchor, der ein Mädchen abgelehnt hat, weil es ein Mädchen sei und der Domchor ein Knabenchor.
Der Kern des Problems besteht darin, dass Jungenstimmen anders klingen als Mädchenstimmen. Jahrhundertelang haben Komponisten Werke für Knaben, für gemischte Chöre und auch für Mädchenchöre geschrieben, nicht ahnend, was die Zukunft bringen würde. Der Geschäftsführer des Leipziger Thomanerchors sagt, dass man ja auch bei einer Komposition die Streicher nicht einfach durch Klarinetten ersetzen kann, eine Herabwertung der Klarinette stelle dies nicht dar. Die Thomaner sind von der Debatte besonders betroffen, weil bei ihnen die Jungen nach dem Stimmbruch bis zum 19. Geburtstag im Chor weitersingen, als Tenöre oder Bässe. Mädchen mit Bassstimmen sind schwer zu finden. Es sei denn, man setzt Hormone ein, wie einst bei den sowjetischen Leichtathletinnen.
Da geht es mal wieder ums Prinzip. Ein Mädchen, das gemeinsam mit Jungen singen will, kann jederzeit einen gemischten Kinderchor finden. Mit nennenswerten Privilegien ist die Mitgliedschaft in einem Knabenchor auch nicht verbunden. Susanne Bräcklein fragt: Was wäre so schlimm daran, wenn das Chorstück ein bisschen anders klingt?
In Hannover klagte vor Jahren eine Tierärztin, sie verlangte, als »Doctora« angesprochen zu werden. Das Wort »Doctora« gibt es im Lateinischen allerdings nicht, es gibt nur »Doctrix«. Dieses Wort hätte die Ärztin verwenden dürfen. Sie lehnt aber »Doctrix« ab, weil es so ähnlich klingt wie »Obelix« und sie insofern auch diskriminiert. Das Gericht lehnte ab. Der Staat habe »weder das Recht noch die Pflicht, die lateinische Sprache fortzuentwickeln«.
Wir Männer sind unsensibel, das ist bekannt. Deshalb macht es uns nichts aus, dass »Doktor« wie »Kack-Tor« klingt und »Minister« nach »blöd ist er«. Und dass unsere Söhne nicht beim »Mädelsflohmarkt« in der Essener Grugahalle dabei sein dürfen, nehmen wir auch hin. Das Wort »Prinzipienreiter« aber geht auf den Mann, Fürsten und Pferdefreund Heinrich Reuß zu Lobenstein-Ebersdorf zurück, der verlangte, dass er von jeder Person jederzeit mit seinem vollen Titel angesprochen wird. Wenn ein freundlicher Mitmensch Herrn Reuß mit einem Zuruf vor einer von hinten sich nähernden Kutsche hätte warnen wollen, dann hätte ihn dieser Spleen womöglich das Leben gekostet.
Dieser Beitrag erschien unter dem Titel »Prinzipien« in:
Harald Martenstein, Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff. Optimistische Kolumnen. C. Bertelsmann, 224 Seiten, 18,00 €.