Tichys Einblick: Herr Professor Bolz, ob wir uns nun die Migrationspolitik ansehen, die Autosuggestion der Regierung, sie leiste eigentlich gute Arbeit, das werde von den Bürgern nur nicht ausreichend verstanden, oder der ständige Kampf „gegen rechts“: Es scheint, als lebten führende Politiker und Teile der Medien in einer komplett anderen Welt als der Rest der Gesellschaft. Gab es jemals eine so hermetische Zweiteilung der Öffentlichkeit in der neueren Geschichte?
Norbert Bolz: Eine mögliche Parallele in der Geschichte ist nicht ganz einfach festzustellen, ohne die Verhältnisse in der Vergangenheit näher anzuschauen. Abweichende Meinungen, die nicht konform gingen mit der konstruierten Öffentlichkeit, existierten schon immer. Sie waren nur weniger sichtbar als heute in Zeiten der sozialen Medien. Und es gab auch schon zu anderen Zeiten Intellektuelle, die sich in einer von der Politik und den meisten Medien getragenen Ideologie einkapselten. Dass Journalisten. Politiker, Schriftsteller sich in das hineinbegeben, was wir heute „Elfenbeinturm“ nennen, dieses Phänomen sahen wir auch schon früher.
Also gar nichts Neues unter der Sonne?
Wie gesagt, die Neigung eines herrschenden Milieus, sich abzukapseln, ist an sich nichts Neues. Bemerkenswert an der heutigen Situation ist, dass Kritik, selbst wenn sie zu dieser politisch-medialen Elite durchdringt, dort gar keine andere Reaktion als Abwehr bewirkt. Was immer jemand gegen ihre Abirrungen vorbringt, jeder Widerspruch wird dort als Bestätigung aufgefasst, alles richtig zu machen. Die übliche Formel, was die wirtschaftliche Transformation angeht, lautet: Die Welt ist eben noch nicht so weit wie Deutschland und muss deshalb von Deutschland belehrt werden.
Und der Rest der deutschen Gesellschaft, das folgt daraus, ist eben auch noch nicht so weit wie die Elite.
Um noch einmal auf den Vergleich mit früheren Zeiten zurückzukommen: In dem beispielsweise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in finstersten Farben gemalten Kaiserreich etwa gab es nicht nur politische Organisationen von sehr links bis sehr rechts, sondern auch eine Fülle von Publikationen, über die wir heute nur staunen können. Es gab Kritik und Polemik, der die Herrschenden vergleichsweise gelassen begegneten – denken wir nur an Ludwig Quiddes Satire auf Wilhelm II., damals ein Bestseller. Wie konnte es zu dieser Verengung 120 Jahre später kommen?
Weil diese Zeit tatsächlich so reich und interessant war, hatte ich sie zum Thema meiner Habilitationsschrift gemacht. Es gab in keiner Zeit so viel Kontroverse auf hochgelehrtem Niveau wie in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, das war eine intellektuell extrem fruchtbare Zeit. Und diese Kontroversen wurden unglaublich anspruchsvoll geführt – wenn Sie an Personen wie Carl Schmitt, Hermann Heller, Walter Benjamin denken. Das reichte auch in die Bundesrepublik hinein.
Ich habe vor Kurzem noch einmal die Dokumente zur Entstehung des Grundgesetzes vor 75 Jahren nachgelesen. Man erblasst geradezu, wenn man sieht, mit welcher Bildung, auf welcher hohen Ebene die Schöpfer des Grundgesetzes damals argumentierten. Vor diesem Hintergrund fällt der gewaltige Unterschied zur Gegenwart erst wirklich auf, die erschütternde geistige Hilflosigkeit der politisch Handelnden. Die heutige Elite zeichnet sich durch eine unglaubliche Charakter- und Geistesschwäche aus, verglichen mit der Zeit vor 100 oder auch vor 75 Jahren.
Die heutige politisch-mediale Elite wiederholt vor allem eine Formel: Es gehe darum, „Spaltung zu vermeiden“ und „zusammenzustehen“. Eine Reihe von Presseverlagen vereinten sich kürzlich unter dem Motto „Zusammenland“. Die Autorin Carolin Emcke forderte auf einer Konferenz unter Beifall, in der Gesellschaft dürfe es kein Pro und Contra mehr geben. Spricht das nicht für eine tiefe innere Unsicherheit dieser Leute?
Sie haben sich ein Wissenschaftlerleben lang mit Theorie und Praxis der Kommunikation beschäftigt. Angenommen, die Angehörigen des politisch-medialen Milieus würden selbst merken, dass es so für sie nicht weitergeht, und auf die Idee kommen, als Berater jemanden zu engagieren, der gerade nicht zu ihnen gehört, nämlich Sie. Was würden Sie raten?
Sie würden nicht nur nicht auf den Gedanken kommen, mich zu fragen, sondern sie haben auch gar kein Interesse daran, die Verhältnisse zu ändern. Sie wissen ja, dass sie unter den Bedingungen einer offenen Kommunikation in ihrer Machtposition nie überleben könnten.
In puncto öffentlich-rechtlicher Rundfunk zum Beispiel könnte man doch zu dem Schluss kommen, dass sich die Institution nur retten lässt, wenn sie ihren missionarischen Eifer aufgibt. Sonst kommt es möglicherweise irgendwann zu einer derart breiten Zahlungsverweigerung, dass sie sich dann auch mit Reformen nicht mehr stoppen lässt. Kurzum: Gibt es nicht ein gewisses Selbsterhaltungsinteresse?
Was das Teilproblem öffentlich-rechtlicher Rundfunk angeht, habe ich schon vor Jahren gesagt, dass ich das System für unreformierbar halte. Übrigens hat es sogar mich überrascht, dass in den Monaten vor der Europawahl auch die „Tagesschau“ zu einer ganz offenen Propaganda übergegangen ist. Wenigstens für dieses Flaggschiff hätten sie noch einigermaßen den Charakter einer Nachrichtensendung erhalten sollen. Dass sie selbst das aufgegeben haben, war eine große Dummheit der ARD.
Also gar keinen Rat?
Würde ich gefragt, dann würde ich das Gleiche sagen wie der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève, der ja 1968 wirklich gefragt wurde, was die linken Studenten in Berlin jetzt seiner Meinung nach tun sollten. Seine Antwort war: Griechisch lernen.
Über Norbert Bolz: Er hat über Adorno promoviert, Marx und Marcuse gelesen und sagt gleichwohl: „Ich war nie ein guter Linker.“ Bolz, 1953 in Ludwigshafen geboren, gilt heute als intellektuelle Reizfigur, ein Konservativer, der den Zeitgeist kritisiert: „Gendergaga“. Von 1992 bis 2002 war er Professor für Kommunikationstheorie am Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Universität-Gesamthochschule Essen mit den Arbeitsschwerpunkten Medientheorie, Kommunikationstheorie und Designwissenschaft. Von 2002 bis zu seiner Emeritierung im Juli 2018 war er Professor an der Technischen Universität Berlin, Institut für Sprache und Kommunikation, Fachgebiet Medienwissenschaft/Medienberatung. Im Herbst 2020 gehörte er zu den Erstunterzeichnern des „Appell für freie Debattenräume“.
Von Norbert Bolz: Der alte, weiße Mann. Sündenbock der Nation. LMV, Hardcover, 224 Seiten, 24,00 €.