Es ist genau das richtige Buch für düstere Wintertage: DOOM von Niall Ferguson. Der glänzende britische Historiker kann genau das, was vielen Deutschen seiner Zunft fehlt: Geschichte so spannend erzählen, neue Sichtweisen einnehmen und damit Geschichte aus verstaubten Archiven ins pralle Leben der Gegenwart führen. Ferguson führt durch alle größeren Katastrophen, durch die die Menschheit gegangen ist – Seuchen, die Schlacht an der Somme (1916, 1,1 Mio Tote), Grippen, Abstürze, Tschernobyl, entgleiste Züge und entgleiste Staaten. Jeder Fall wird genauestens analysiert und mit einer Präzision seziert, die die Nackenhaare sträuben lässt; nahezu lustvoll wälzt sich Ferguson in Opferzahlen und haarklein dargelegten Gründen für Versagen, Pleiten, Pech und Pannen, die große Weltreiche zum plötzlichen Untergang führten.
Dem Leser stellen sich da ein paar kritische Fragen.
Hätte man es nicht besser wissen können, an die Vorhersagen glauben sollen und müssen? War es die Sturheit und Ignoranz unserer Vorfahren, die ihr Elend verdient haben, auch wenn es Millionen das Leben kostete?
Ferguson lässt uns wenig Hoffnung: „Katastrophen lassen sich nicht vorhersagen.“
Ferguson flicht die Corona-Katastrophe ein; nicht immer ganz zutreffend, bei diesem Thema ist ja jeder von uns Experte mit sehr eigener Sicht. Er macht sich lustig über das Weltwirtschaftsforum im Januar 2020, auf dem die Klimakatastrophe beschworen wurde, dabei war es eine bissige Fledermaus, die die Welt in eine Katastrophe führte. Oder war es ein Komplott? Katastrophen suchen nach Erklärungen. Verschwörungstheorien gehören dazu, etwa dass es Bill Gates und Klaus Schwab zusammen ausgeheckt haben. Fergusons Antwort ist schlichter: Wir haben es nicht rechtzeitig erkannt und dann falsch gehandelt. Dabei könnte man meinen:
„Wenn das Unheil zuschlägt, sollten wir besser gerüstet sein als die Römer beim Ausbruch des Vesuvs, die Menschen im Mittelalter bei der rasenden Verbreitung der Pest in ganz Europa oder die Russen bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Aber sind wir das? Haben wir nicht gerade in der Corona-Pandemie alles erlebt an imperialer Überheblichkeit, bürokratischer Erstarrung und tiefer Spaltung?“
Denn das eigentlich schreckliche an Katastrophen ist oft nicht die Katastrophe, sondern wie wir damit umgehen. Die Langzeitfolgen. Etwa, dass die derzeitige Energiekrise, die zusammenbrechenden Lieferketten sowie Inflation und Staatsverschuldung ja nicht direkt am Virus hängen, das nicht für die Verzehnfachung der Frachtraten für Container verantwortlich ist. Es ist die Art der Reaktion auf die Krise, die sie zur solchen macht.
Oder auch nicht. Erfolgreiche Krisenbewältigung bereitet sich auf das Unerwartete vor, stärkt Gesudheitssysteme, schützt Grenzen, entwirft Notpläne, legt Vorräte an, bleibt ständig wachsam. Und lässt sich nicht betrügen.
Wirkliche Katastrophen sind meist trivialer: Politiker, die ihre Gegenüber unterschätzen, eine geschmolzene 5-Cent-Dichtung, die die Raumfähre Challenger zur Explosion bringt, und natürlich die Reisenden des Todes: Viren und Bakterien, die die indigene Bevölkerung Amerikas fast ausrotteten und umgekehrt die Syphilis nach Europa brachten. Er stellt die Weltgeschichte als einen Austausch von Erregern dar, zählt die Todesopfer unter Eingeborenen wie unter Kolonialoffizieren, die das Klima in den eroberten Zonen nicht ertrugen. Erfolgreicher Kolonialismus besteht nicht in der wirksamen Unterdrückung der Völker, sondern im Erfolg im Kampf gegen deren Viren.
Ferguson überschüttet den Leser mit einer Fülle von Fakten und Einsichten und macht vor sich selbst nicht halt. Während er zu Beginn des Buches Corona noch als große Gefahr ansieht und davor aus Davos und New York ins menschenleere Montana flüchtet, wo er in der Einsamkeit aus Langeweile diesen phänomenalen Wälzer schreibt, relativiert er das epidemologische Geschehen später auf das Niveau einer asiatischen Grippe. Die Bedrohung liegt woanders: die Corona-Krise „gehört eindeutig auf die Liste der großen Wirtschaftskatastrophen“. Denn siehe, es war die Reaktion, die die Krise zur Katastrophe machte.
Wird damit das Weltgleichgewicht geändert? Er sieht die USA trotz vieler Rückschläge als Gewinner der Krise. Zwar hat das Gesundheitsystem versagt, aber der Dollar ist nach wie vor die Währung der Welt und damit Ausdruck der Macht und Überlegenheit: „Welche Währung käme denn als neue Reserve- und Handelswährung infrage, wenn Europa ein Museum ist, Japan ein Altersheim, China ein Gefängnis und Bitcoin ein Experiment?“
Und als zukünftigen Schrecken sieht er nicht die Klimakatstrophe. Es ist ein neuer Kalter Krieg, der schnell in einen heißen umschlagen kann, und das mit Nukleargewalt und nachfolgendem ewigen Winter. „Das ist intergalaktischer Darwinismus. Es ist nicht zu entscheiden, ob wir einen Kalten Krieg mit China führen wollen oder nicht. China hat uns diesen Kalten Krieg längst erklärt.“ Nun gehe es nur noch darum zu verhindern, in einen heißen Krieg zu stolpern.
Ach, und das Klima? Zu trivial für eine wirkliche Katastrophe. Denn es kommt sowieso immer anders, als Kassandra meint.
Viel Einsicht also beim nächsten Weltuntergang.
Niall Ferguson, Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft. DVA, Paperback, 604 Seiten, 22 s/w Abbildungen, 18,00 €