Einen „(ultra-)liberalen Sonderweg in der Einwanderungspolitik“ nennt Roland Springer in seinem Buch SPURWECHSEL das, was Angela Merkel als Politik der Bundesregierung betreiben lässt. Eine Politik, über die sich ganz unterschiedliches sagen lässt, nur eines nicht: planvolles Handeln. Trotzdem erhebt Merkel nichts weniger als den Anspruch, ihre Politik zum EU-Standard erheben zu wollen.
Springer sagt, „Dieser Anspruch kann freilich allenfalls dann erhoben werden, wenn sich erweisen sollte, dass der deutsche Sonderweg in der Flüchtlingspolitik das hält, was seine Protagonisten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden, Medien und Zivilgesellschaft sich selbst und anderen von ihm versprechen: eine staatsfinanzierte Beförderung des Wirtschaftswachstums durch die gesellschaftliche Integration zusätzlicher, aus Kriegs- und Elendsgebieten importierter Arbeitskräfte und Konsumenten, unabhängig von deren Anzahl sowie von deren mitgebrachten qualifikatorischen und soziokulturellen Assets.“
Der Autor hat sich nicht weniger vorgenommen als: „Vorgeschlagen wird ein Spurwechsel, der es nicht nur erlaubt, aus integrationswilligen und integrationsfähigen Flüchtlingen möglichst schnell Arbeitsmigranten zu machen, sondern auch eine protektionistische Wende weg von einer (ultra-) liberalen Flüchtlingspolitik beinhaltet.“
Verwaltungschaos: nichts passt zu nichts
Wasser in seinen Wein schüttet im Nachwort Volker Neumann aus sozial- und verfassungsrechtlicher Perspektive. Doch davon später. Erst mal kommt solches Wasser aus einem Artikel der ZEIT. Er berichtet, dass nach dem Willen der Kanzlerin die unbearbeiteten Asylanträge von illegal Eingewanderten bis Ende Mai entschieden sein sollten (laut Statistik des BAMF rund 1,2 Millionen bis Ende 2016 eingewandert, davon mehr als 400.000 Fällen anerkannt). Doch davon ist das Amt weit entfernt. Erstens, weil es nicht so schnell ist, und zweitens, weil es neue Probleme gibt.
Springers Spurwechsel könnte aber nur gelingen, wenn der Flaschenhals BAMF erweitert wird oder wegen laufender Erledigung neuer Anträge wegfällt, doch danach sah es schon vor Franco A. nicht aus:
„Gegen eine solche Beschleunigung spricht allerdings die tatsächliche Verlängerung der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer eines Asylantrags durch das BAMF von 5,2 Monaten in 2015 auf 7,1 Monate in 2016 (siehe Zeit online 23.02.2017).“
Für die Behörden in der Fläche ist der Stau beim BAMF ein reiner Segen, denn sie könnten mit einer zügigen Bearbeitung dort an Ort und Stelle nicht Schritt halten. Wer Springers empirische Beobachtungen liest, beginnt zu begreifen, dass das real existierende Verwaltungshandeln ein Ziel unmöglich macht: die rasche Integration der Einwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt. Die Reihenfolge geht nämlich so: Die illegalen Einwanderer kommen, stellen Asylanträge, warten in Sammelunterkünften auf die Entscheidung der BAMF. Arbeiten dürfen sie nicht, bevor sie einen Integrations/Deutschkurs nicht bestanden haben. Wer das schafft, hat bis dahin, ja was?, zwei Jahre (?), die meiste Zeit totschlagen müssen. Wie viele dem und anderem entgehen, indem sie schwarz arbeiten, wissen die Behörden nicht oder sagen sie nicht. Springer:
„Nach Anerkennung als bleibeberechtigt werden die Flüchtlinge von den Landratsämtern an die regionalen Jobcenter weitergereicht und müssen dort unter anderem eine Verpflichtungserklärung zur Integration abgeben. Konkret geht es dabei um den Besuch eines Sprachkurses (Integrationskurs), in dem jeder Flüchtling Deutschkenntnisse bis zu dem gemäß des europäischen Referenzrahmens definierten Kompetenzniveau B1 erlernen muss. Entsprechende Kurse mit insgesamt 600 Unterrichtseinheiten werden von Volkshochschulen und anderen Bildungsträgern angeboten und durchgeführt. Sie dauern in der Regel etwa ein Jahr und schließen mit einer Prüfung ab.“
Gegenseitig Behinderung ist Programm
Bevor sie nicht Basisdeutsch können, dürfen sie nicht arbeiten. Dabei würde sie in der Arbeit schneller Basisdeutsch und das deutsche Arbeitsleben kennen lernen, weil „es im Niedriglohnbereich durchaus Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, bei denen nur wenige Deutschkenntnisse gefordert sind. Sie spielen bislang bei der amtlichen Vermittlung in Arbeit allerdings so gut wie keine Rolle.“ Der eine Teil des Regierungshandelns widerspricht dem anderen, da gibt es keinen „Plan“. Jeder Verwaltungszweig plant für sich – ohne Zusammenhang:
„Insofern wird auf Betreiben der Bundesregierung seitens der Jobcenter bei den Flüchtlingen in Kauf genommen, dass sie im Interesse des Erlernens der deutschen Sprache zunächst nicht in Arbeit vermittelt werden. Wäre dies nicht so, würde der Anteil der in Arbeit Vermittelten schon Ende 2016 höher ausfallen als die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gemeldete Zahl von nur 34 000 Erfolgsfällen.“
Der eine Teil behindert den anderen und immer so weiter. Es passiert alles irgendwie oder eben nicht. Nächstes Beispiel:
„… eine vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gemeinsam durchgeführte Studie … berichtet, dass 53 Prozent der befragten Flüchtlinge, von denen ein Teil schon seit 2013 in Deutschland lebt, nicht mehr in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, um daraus (recht missverständlich) den Schluss zu ziehen, »der Großteil der Geflüchteten wohnt in einer privaten Unterkunft« (Brücker et. al. 2016, S. 39). Mit »privaten Unterkünften« sind allerdings nicht Wohnungen gemeint, die Privatpersonen an Flüchtlinge vermietet haben; gemeint sind vielmehr in erster Linie Wohnungen, die die Kommunen angemietet haben, um dort Flüchtlinge unterzubringen. Somit wohnen vermutlich fast 100 Prozent der seit 2013 eingewanderten Befragten in öffentlich verwalteten Immobilien, die zum Teil als Gemeinschaftsunterkünfte und zum Teil als Wohnungen oder Häuser ausgelegt sind. Dies lässt darauf schließen, dass der private (erste) Wohnungsmarkt den Flüchtlingen bislang noch mehr als der (erste) Arbeitsmarkt verschlossen ist.“
Zwei sprechende Fallbeispiele
Roland Springer schildert zwei Fallbeispiele aus eigener Erfahrung. Springer übernahm die ehrenamtliche Patenschaft für einen 18-Jährigen aus dem Osten Afghanistans. Als er ankam, war er 17, durfte daher sofort die Schule besuchen und außerhalb von Sammelunterkünften in einer Wohngruppe leben. Das kann das Jugendamt bis zum 21. Lebensjahr verlängern, was es hier auch tat. Springer berichtet von den vielen bürokratischen Hürden, denen die einzelnen Migranten, aber auch die Bürokratie selbst nicht gewachsen sind. Parallel zur Patenschaft half Springer auch in einer Flüchtlingsunterkunft mit über hundert Personen. Während der Afghane über keine Vorbildung verfügte, waren unter diesen Flüchtlingen aus Syrien, Irak und Afghanistan mehrere zwischen 20 und 35, die zuhause ein Studium unterschiedlicher Fachrichtungen abgeschlossen oder vor ihrer Flucht noch begonnen haben, darunter auch einige junge Frauen, die in ihrer Heimat ein Studium der Informatik und/oder des Ingenieurwesens abschlossen.
Springer bildet aus seinen Erfahrungen „zwei exemplarische Fälle, die strukturell für zwei Typen von Flüchtlingen stehen, die mit der Flüchtlingswelle der Jahre 2015/2016 in großer Zahl ins Land gekommen sind:
- Der Typus des in einer prosperierenden Großstadt wohnenden, alleinstehenden minderjährigen muslimischen jungen Mannes ohne Ausweispapiere und Bildungszertifikate, der kein Deutsch oder eine andere europäische Fremdsprache spricht und über nur geringe schulische und berufliche Qualifikationen verfügt, und
- der Typus der in einer prosperierenden ländlichen Region wohnenden, jungen muslimischen Flüchtlingsfamilie (mit nur einem Kind), die mit Ausweispapieren sowie mit schulischen und akademischen Zertifikaten ausgestattet ins Land gekommen ist, ebenfalls kein Deutsch, dafür aber etwas Englisch spricht und im Falle des Ehemanns auch über mehrjährige berufliche Erfahrungen verfügt.“
Daneben gibt es nach Springer eine Reihe von weiteren Typen, die gemeinsam haben, dass ihre Chancen auf das Hineinfinden in die deutsche Gesellschaft äußerst schlecht sind. Nicht weil es etwa für den allein gekommenen Türken im mittleren Alter mit wenig formaler Bildung, aber viel praktischer Berufserfahrung hier keinen Bedarf im Arbeitsmarkt gäbe, sondern weil er in das hiesige Aktenschema nicht passt.
Was hier von ihm gewollt wird, kann er nicht verstehen
Der junge Afghane lebte „in einer vom Jugendamt Stuttgart finanzierten und betreuten Wohngruppe mit drei anderen jungen Afghanen und wusste, dass er Anspruch auf monatliche Sozialhilfe für den privaten Verbrauch hat, die ihm von seiner Betreuerin jeden Monat in Höhe von 400 Euro bar ausbezahlt worden ist. Darüber hinaus wusste er, dass im Falle einer Erkrankung die Kosten für ärztliche Behandlung und Medikamente ebenfalls übernommen werden.“ Bei ihm verfestigte sich schnell der Eindruck, hier ist es weit besser für ihn als zuhause (mit Ausnahme des Essens). Dem Jahr Wartezeit auf Stellung seines Asylantrags folgte die von eineinhalb Jahren auf einen Anhörungstermin, der Ende April 2017 stattfand. Das Ergebnis steht nicht in Springers Buch, da dieses vorher erschien. Er merkt an, „dass der junge Afghane selbst im Fall einer Ablehnung seines Asylantrags vorerst weiter in Deutschland bleiben wird, da er mit Unterstützung einer lokalen Flüchtlingshilfeorganisation gegen einen solchen Entscheid mit hoher Wahrscheinlichkeit Rechtsmittel einlegen wird, die seinen Duldungsstatus verlängern.“
Die jungen Männer in der Wohngruppe lernten, dass sie mit Hilfe des Jugendamtes auch an Privatwohnungen kommen können, wovon sie sich mehr Freiheit und Lebensstandard versprechen. Da seine Betreuerin vom Jugendamt dem inzwischen volljährigen Afghanen zur Privatwohnung nicht zügig entsprach, verlangte er vom Chef des Jugendamtes eine andere Betreuungsperson. Das führte dazu, dass das Jugendamt ihn als Volljährigen dem Sozialamt überstellte, was zum Verlust aller Privilegien des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings (UMF) führte. Die Folgen: Umzug in eine Flüchtlingsunterkunft, dort in eine Dreizimmerwohnung mit sechs anderen Afghanen, Schulwechsel in ein „Vorbereitungsjahr Arbeit/Beruf“ in einer Berufsschule (hauptsächlich Sprachunterricht) nahe der Unterkunft:
„Anschließend kann er innerhalb eines weiteren Jahres den deutschen Hauptschulabschluss nachholen, sofern er bis Ende dieses Jahres nicht nur die sprachlichen, sondern auch andere fachliche Voraussetzungen (etwa beim Rechnen) erfüllt.“
Auch die integrationswillige Familie findet nur Probleme
Springers zweiter Anschauungsfall: „Die Familie stammt aus einer Großstadt in Nordsyrien, wo der achtunddreißigjährige Ehemann gleich nach seinem Abitur (mit geisteswissenschaftlichem Schwerpunkt) im Jahr 2006 aus familiären Gründen kein Studium aufnahm, sondern in der Apotheke eines Bekannten zu arbeiten begann und damit nach eigener Aussage bis zum Beginn des Krieges in Syrien ein gutes Auskommen hatte. Vor sieben Jahren heiratete er seine heute 29-jährige Ehefrau, die nach einem naturwissenschaftlichen Abitur im Jahr 2009 an der örtlichen Universität ein Bachelor-Studium der Informatik mit dem Schwerpunkt Software-Engineering aufgenommen hat, das sie 2013 erfolgreich mit der Note »Sehr gut« abschloss.“ (Die Familie hat eine kleine Tochter.)
2015 entschied die Familie, Syrien als aussichtsloses Pflaster zu verlassen. Sie hatten gehört, in Deutschland gäbe es einen Mangel an jungen Ingenieuren. Über Verwandte in der Türkei kamen sie mit einer Schlepperorganisation binnen neun Tagen über die Balkanroute nach Ungarn: von dort ins Aufnahmelager nach Baden-Württemberg, wo sie anhand ihrer syrischen Pässe registriert wurden. Der Asylantrag führte ohne Anhörung zu einem dreijährigen Aufenthaltstitel. Da sie französisch und englisch sprachen, ging es mit dem Deutschlernen leichter als bei dem jungen Afghanen, aber Deutsch ist eben keine leichte Sprache.
Den Weg zu Arbeit und Wohnung begleitete ehrenamtlich unser Autor in Absprache mit dem Jobcenter. Die kleine Tochter kriegte einen Kindergartenplatz, die Eltern besuchten den Integrations/Sprachkurs. Die drei lebten in der Flüchtlingsunterkunft in einem Zimmer auf 15 Quadratmetern in einer ländlichen Gemeinde:
Ein vierwöchiges Praktikum der Frau in einem IT-Betrieb verlief fachlich positiv, eine anschließende Beschäftigung scheiterte an den zu rudimentären Sprachkenntnissen. Inzwischen gelang es zufällig, eine private möblierte Dreizimmerwohnung zu beziehen. Springer erkundete mit dem Mann Jobchancen in der Leiharbeit, Vollzeitjobs im Mindestlohnbereich und fand folgendes heraus:
„Die Annahme eines solchen Vollzeitjobs hätte für den Ehemann bedeutet, dass er seinen Integrationskurs hätte abbrechen müssen. Hinzu kam, dass ihm erstmals vor Augen geführt wurde, dass eine Vollzeitarbeit mit einer entsprechenden Bezahlung durch den Arbeitgeber damit einhergeht, dass nicht nur er selbst, sondern auch seine Ehefrau den Anspruch auf Arbeitslosengeld II und die Übernahme der Mietkosten durch das Jobcenter verliert. Beide waren bislang aber davon ausgegangen, dass sie die staatliche Unterstützung nach Sozialgesetzbuch II weiter erhalten, auch wenn sie eine bezahlte Arbeit aufnehmen. Der überschlägige Abgleich (Saldo) zwischen den staatlichen Leistungen und dem Verdienst bei einem Zeitarbeitsunternehmen ergab, dass sich ein Vollzeitjob für den Ehemann rein monetär für die Familie nicht lohnt, wenn damit sich außerdem auch noch der Verzicht auf einen bezahlten Sprachkurs verbindet.“
Nichts passt mit nichts zusammen
Aber der Syrer machte in den diversen Gesprächen einen guten Eindruck, machte ein vierwöchiges Praktikum in einem 10-köpfigen Team für Produktion und Logistik mit einer Frau an der Spitze. Das verlief gut, so dass sich ein befristeter Teilzeitarbeitsvertrag – Minijob – anschloss. Die entsprechenden Kürzungen bei den Sozialleistungen sind für die Familie trotz Arbeit ein Nullsummenspiel. Der Mann ist zu einem „Aufstocker“ geworden. Verbessern wir sich seine Lage erst mit zunehmender Arbeitszeit, die jedoch die Weiterbildung gefährdet. Die Frau macht ein zweites Praktikum zeigte, dass sie ihre Sprachkenntnisse mit dem Ziel B2/C1 fortsetzen muss, ein halbes Jahr ist notwendig, ein Wettrennen mit dem Wertverfall ihres fünf Jahre alten IT-Universitäts-Abschlusses.
Springer schildert viele Umstände und Abläufe, vor allem auch, in wie vielen Einzelheiten die großen und kleinen Dinge den Zugereisten völlig fremd sind, mit nichts davon haben sie vorher gerechnet. Am Ende bleiben die Einwanderer unter sich und bauen sich über Facebook ein Netzwerk zu den Daheimgebliebenen oder anderswo Untergekommenen auf, in dem sie ihre Erfahrungen mit der Lage da wie dort austauschen. Dass sie hier je ankommen werden, ist unwahrscheinlich.
Springer plädiert als Spurwechsel dafür, den Vorschlag von Gabriel aus 2016 aufzunehmen, „ein »Integrationsfördergesetz«, das so konzipiert sein soll, »wie wir es vom BAföG kennen. Wer dauerhaften oder einen langen Aufenthalt in Deutschland hat, kann einen ›Integrationskredit‹ bekommen, der ihm zusätzliche integrationsspezifische Leistungen und Lebensunterhalt ermöglicht. Gelingt ihm der Weg in die Erwerbsarbeit, zahlt er den Kredit zurück.«“ Dazu steht für Springer fest:
„Durch einen solchen, gesetzlich gewiss nicht einfach zu regelnden Spurwechsel könnte nicht nur die Eigenverantwortlichkeit der Asylbewerber gestärkt, sondern ihnen auch das für eine Hochleistungsgesellschaft so wichtige Prinzip von Leistung und Gegenleistung, das nicht nur für Einheimische, sondern auch für andere Migranten gilt, nahegebracht werden. Gemäß ihres hybriden Charakters würden sie so schon frühzeitig stärker als leistungsbereite Arbeitsmigranten und nicht ausschließlich als hilfsbedürftige Flüchtlinge behandelt werden.“
Als Basis dafür, die Einwanderer, die sich auf eigene Beine stellen wollen, von den anderen zu trennen, sieht er einen kompletten Umstieg zu einer kontingentierten und sorgfältig vorbereiteten Einwanderungspolitik, die er im einzelnen darlegt.
Erwerbsmigranten
Wasser in den Wein Springers gießt Volker Neumann in seinem Nachwort:
„Ob die Typisierung, ja ob das gesamte Konzept »Spurwechsel« greift, hängt nicht zuletzt davon ab, dass der »Gegenpol« funktioniert, das heißt dass diejenigen Asylbewerber etc., die gegen den »Spurwechsel« votiert haben, nach dem Widerruf ihrer Berechtigung auch wirklich Deutschland verlassen. Einen Automatismus kann es hier allerdings nicht geben, da vor einer Ausweisung und der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht zu prüfen ist, ob Rechtsgründe, insbesondere nach Art. 6 GG zu beachtende familiäre Bindungen, entgegenstehen. Dass in Deutschland die Ausreisepflicht nur höchst selten durchgesetzt wird, liegt jedoch kaum an solchen Rechtsgründen, auch nicht an tatsächlichen Hindernissen, die übrigens wie beispielsweise die vorsätzliche Vernichtung oder Vorenthaltung von Ausweispapieren seit Jahrzehnten der Politik bekannt sind, sondern an der Weigerung von Landesregierungen, das einschlägige Bundesrecht durchzusetzen. Dokumentiert ist diese Weigerung in rot-grünen Koalitionsverträgen, in denen in geschwurbelten Worten aufenthaltsbeendende Maßnahmen ausgeschlossen (Thüringen Koalitionsvertrag vom 5.12.2014, S. 26) oder entgegen den bundesrechtlichen Vorgaben so erschwert werden, dass sie nicht mehr praktizierbar sind (Berlin Koalitionsvereinbarung 2016–2021, S. 113 f.). Solange das so ist, solange insbesondere die Bundesregierung gegen solche Praktiken nicht mit den Mitteln der Bundesaufsicht vorgeht, solange ist es Asylberechtigten etc. nicht zu verdenken, dass sie sich gegen das ehrliche Konzept des »Spurwechsels« entscheiden.“
In Springers Buch kann jeder lernen, wie das Chaos im Staatshandeln aussieht, wie der Einzelne systemisch gar nicht im Blick der Bürokraten sein kann: Wie alles irgendwie geschieht oder eben nicht. Ein erhellendes und ernüchterndes Bild, von dem die Verantwortlichen – je weiter „oben“, je mehr – keine Kenntnis nehmen.