Thomas von Aquin hat in der Summa Theologica etwa zwei Millionen Wörter aufgewandt, um erschöpfend darzulegen, was es mit der Natur der Welt, Gottes Absichten bei ihrer Schöpfung und unserem Lebensweg hienieden auf sich habe. Sein (zumindest nach unseren Maßstäben) kurzes Leben beendete er in einem Zustand der Ekstase, und er erklärte, all seine Schriften hätten keine Bedeutung mehr angesichts der glückseligen Schau, die ihm gewährt worden und die in Worten nicht zu fassen sei. Er ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel eines Philosophen, der zu der Überzeugung gekommen ist, dass über den wahren Sinn der Welt in Wort und Schrift nichts mitgeteilt werden könne.
An diesem Punkt angelangt, entsprach Thomas von Aquin dem Diktum Wittgensteins, mit dem dieser seinen Tractatus Logico Philosophicus beschließt: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen.« Aber Thomas von Aquin stellt eine Ausnahme dar. In der Geschichte der Philosophie gibt es unzählige Denker, die gleichfalls befinden, dass die Wahrheit unaussprechlich sei, während sie fortfahren, diesem Umstand Seite um Seite zu widmen. Kierkegaard gehört zu den übelsten Sündern dieser Art, wenn er auf hunderterlei Weise ausführt, dass die letzten Dinge nicht auszudrücken, dass Wahrheit »etwas Subjektives« und der Sinn des Lebens nicht in Formeln, Thesen oder Abstraktionen zu vermitteln sei, sondern einzig in der ganz konkreten Erfahrung, sich geschlagen geben zu müssen angesichts dessen, was in Worten nicht wiederzugeben ist.
Dieselbe Idee taucht auch bei Schopenhauer auf, für den die Wahrheit der Welt sich im Willen manifestiert, aber nicht in Begriffen gefasst werden kann. Schopenhauer schrieb zu dieser Angelegenheit, an der die Worte scheitern, rund 500 000 Wörter. Und er brachte eine Mode auf, die bis heute aktuell ist. Da gibt es zum Beispiel ein erfreulich kurzes Buch von Vladimir Jankélévitch, La musique et l’ineffable [dt. Die Musik und das Unaussprechliche, Berlin 2016] in dem er gleich auf der ersten Seite ganz ähnlich argumentiert – dass nämlich in der Musik mit Melodien, Rhythmen und Harmonien gearbeitet wird und nicht mit Begriffen, weshalb sie keine Botschaften enthält, die man in Worte übersetzen kann. Es folgen 50 000 Wörter, die den Botschaften der Musik gewidmet sind – in oft suggestiver, poetischer, atmosphärischer Sprache, aber gleichwohl in Worten, die um einen Gegenstand gemacht werden, dem Worte nicht entsprechen können.
Es ist nicht von vornherein falsch, sich auf das Unsagbare zu beziehen. Der Fehler besteht darin, es beschreiben zu wollen. Jankélévitchs Aussagen über Musik sind zutreffend – etwas kann eine Bedeutung haben, auch wenn diese Bedeutung sich allen Versuchen entzieht, ihr mit Worten beikommen zu wollen. Das gilt für Faurés Ballade op. 19 in Fis-Dur oder das Lächeln im Gesicht der Mona Lisa und auch für das Licht der abendlichen Sonne auf den Hügeln hinter meinem Haus. Wordsworth würde solche Erfahrungen »Intimations« [Anmutungen, Andeutungen] nennen, was soweit ganz in Ordnung ist, vorausgesetzt, man unternimmt es dann nicht (wie er es tat), immer noch weitere Einzelheiten hinzuzufügen.
Jeder, der mit wachen Sinnen und offenem Herzen durch die Welt geht, wird derartige Augenblicke der Offenbarung erleben, Augenblicke, die gesättigt sind von einer Bedeutsamkeit, die nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Diese Augenblicke sind uns kostbar. Wenn wir sie erleben, scheint es, als ob wir auf der windigen, kaum beleuchteten Treppe unseres Lebens plötzlich an ein Fenster kommen, das den Blick freigibt auf eine andere, strahlendere Welt – eine Welt, der wir angehören, ohne sie betreten zu können.
Wir lieben einander wie die Engel, streben nach einem unauslotbaren »Ich«; wir hoffen wie die Engel: mit unseren Gedanken in gebannter Erwartung des einen Augenblicks, wenn die Dinge dieser Welt von uns abfallen und wir eingehen in »einen Frieden, der unser Verständnisvermögen übersteigt«. Aber indem ich das Ganze in dieser Weise zu fassen versuche, habe ich bereits zu viel gesagt. Denn ich rede, als gehöre die Welt hinter dem Fenster zu meiner unmittelbaren Umgebung, wie ein Bild über den Treppenstufen. Aber diese Welt ist nicht hier, sondern dort, auf der anderen Seite des Fensters, das niemals geöffnet werden kann.
Dabei lässt eine Frage mich nicht los, und ich vermute, Ihnen geht es ähnlich: Was haben solche Augenblicke der Offenbarung mit den letzten Dingen zu tun? Wenn alle Wissenschaft zum Stillstand kommt vor jenen Prinzipien und Bedingungen, von denen alle Erklärungen ihren Ausgang nehmen, kann uns dann der Blick aus dem Fenster etwas geben, was der Wissenschaft versagt ist? Weisen diese Augenblicke der Offenbarung auf den Sinn der Welt?
Wenn ich nicht weiter darüber nachdenke, scheint mir die Antwort klar. Ja, die Welt ist mehr als ein System von Ursachen und Wirkungen, denn sie hat einen Sinn, und dieser Sinn wird enthüllt. Und dennoch gibt es keinen Weg, nicht einmal diesen, der uns zum Sinn der Welt führt. Aber worüber wir nicht sprechen können, das müssen wir dem Schweigen überantworten – wie Thomas von Aquin es getan hat.
Auszug aus: Roger Scruton, Bekenntnisse eines Häretikers. Zwölf konservative Streifzüge. Manuscriptum, 240 Seiten, 26,00 €.