Die postchristliche Gesellschaft ist nicht weniger religiös geworden, sondern hat Ersatzreligionen hervorgebracht, zum Beispiel den Glauben an Erlösung durch Gesundheit. Oder den Glauben an Selbstverwirklichung durch Selbstoptimierung. Der Klima-Aktivismus hat ebenfalls religiöse Züge, wenn Protestgruppen in Endzeitstimmung verfallen und die Politik diese Stimmung für ihre Zwecke nutzt. Nicht wenige Medien machen dabei mit und präsentieren ihren Rezipienten Umweltapostel, die für die Rettung der Welt Kunstwerke zerstören, sich auf Strassen festkleben und die Menschheit zur Umkehr bewegen wollen, zur Abkehr vom konsumistischen westlichen Lebensstil.
Ein zentrales Dogma vieler Aktivisten lautet: „Seit der Industrialisierung zerstört der Mensch das Klima, deswegen müssen Regierungen, Konzerne und Bürger zum grünen Handeln gezwungen werden.“ Das Problem: der Aktivismus klagt nicht Länder wie China oder Indien an, die seit Jahrzehnten die Umwelt mit Abstand am meisten verschmutzen, sondern Aktivismus und Alarmismus zielen auf Westeuropa, insonderheit Deutschland, das nicht einmal zwei Prozent zur Verbesserung der Lage beitragen könnte. Mit anderen Worten: der Protest richtet sich gegen das westliche System, obwohl dieses im Vergleich mit dem Rest der Welt nicht nur die besten Umweltstandards hat, sondern auch in Sachen Menschenrechte und Tierschutz besser abschneidet.
Abgesehen davon, dass die Klimaforschung viele offene Thesen kennt. Eine wenig populäre These lautet: der Klimawandel wird von der Tatsache verursacht, dass wir uns am Ende einer Eiszeit befinden. Die Erde hat im Laufe der Jahrmillionen grosse Klimaveränderungen erlebt: Eiszeiten mit globalem Winter, Schmelzen der Polarkappen mit globalem Sommer. Es ist fraglich, ob der Mensch mit seinen Maschinen diese Phasen, die mit kosmischen Jahreszeiten vergleichbar sind, wesentlich beeinflussen kann.
Der Systemwechsel wird allerdings allein vom Westen gefordert, ohne den Rest der Welt zu betrachten. Obwohl China und Indien die mit Abstand grössten Umweltverschmutzer sind und Westeuropa im Vergleich dazu kaum etwas für das Klima tun kann. Dennoch sind die Aktivisten nicht daran interessiert, westliche Umwelt-Standards mit den Standards in China, Indien oder Russland zu vergleichen. Sondern man fragt: wie lange dauert es, bis Europa und die USA emissionsfrei sind? Dabei dominiert die sogenannte „non-human-perspective“, die die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt nach dem utopischen Ideal einer Umwelt ohne Menschen und ihrer Maschinen beurteilt.
Man fragt nicht: wie viele Jobs, wieviel Gesundheit und Schutz gegen Kälte und Sturm bringen geheizte Häuser in Entwicklungsländern? Wie viele Millionen von Leben werden gerettet, wieviel Grundversorgung und Sicherheit geleistet durch die Energiewirtschaft seit Beginn der industriellen Revolution? Wie groß ist der medizinische Fortschritt seit Beginn der Chemieindustrie? Das interessiert nicht, sondern man fragt: wie wäre es, wenn alle diese Techniken und Umweltbelastungen nicht wären? Und letztlich: können wir nicht so leben, als wären wir gar nicht da, damit der Planet seine Ruhe hat? Die Zumutungen realer menschlicher Zivilisation scheinen nicht mehr tolerabel.
Ich persönlich fliege selten. Ich besitze kein Auto und pendle seit zwanzig Jahren mit dem Zug. Ich betrachte mit Sorge unsere verkehrsverstopften Metropolen. Am liebsten hätte ich überall Fußgängerzonen und betrachte unsere Wegwerf-Kultur als zivilisatorisches Armutszeugnis. In diesen Fragen bin ich ein Grüner. Aber ich kann den religiösen Eifer nicht teilen, mit dem politische Gruppen die Klimadiskussion dominieren, um Andersdenkende als Klimaleugner oder schlechte Menschen zu diffamieren. Das verhindert eine offene Debatte. Eine Debatte, die wir brauchen, um gute Lösungen zu finden.
Die Sorge um die Umwelt sowie die Entwicklung des Weltklimas sind zu wichtig, um sie totalitären Apokalyptikern und Angstmachern zu überlassen. Es ist entscheidend zu erkennen, dass eine Politik der Angst aus der Freiheit heraus und in den Totalitarismus hinein führen kann. Deshalb sollte man der Sorge um die Natur mit Augenmaß und Vernunft begegnen – und mit Vertrauen in die Kreativität und das Potential von Menschen, die in einer freiheitlichen Kultur leben und arbeiten können. Gerade heute brauchen wir nicht noch mehr Pessimismus, sondern wieder den Optimismus der Aufklärung. Die Aufklärer haben an den Menschen geglaubt, an die Kraft seines Verstandes und seine Fähigkeit, herauszutreten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sie haben an Freiheit und Kreativität geglaubt, wichtige kulturelle Kräfte, um auch große Probleme zu lösen.
Giuseppe Gracia, Jahrgang 1967, ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neuer Roman handelt von terroristischen Klimaaktivisten.
Giuseppe Gracia, Schwarzer Winter. Roman. Fontis Verlag, Klappenbroschur, 272 Seiten, 19,90 €.
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