Am 22. Januar 2019 unterzeichneten Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel den »Vertrag von Aachen«. Er enthält unter anderem die Vision einer europäischen Armee. Wie das nach dem Brexit und damit ohne eine der wohl schlagkräftigsten EU-Armeen, nämlich die britische, bewerkstelligt werden soll, steht in den Sternen.
Einen Vorstoß in diese Richtung unternahm Macron bereits im Rahmen der Gedenkwoche zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs im November 2018. Damals sagte er in einem Interview mit dem Radiosender Europe 1, »ohne eine wahre europäische Armee könnten die Europäer nicht verteidigt werden (…) Macron begründete seine Forderung mit der Warnung vor ›autoritären Mächten, die an den Grenzen Europas aufsteigen und sich wiederbewaffnen‹. Europa müsse sich verteidigen ›mit Blick auf China, auf Russland und sogar die USA‹. Der von US-Präsident Donald Trump angekündigte Rückzug aus dem INF-Abrüstungsvertrag mit Russland sei eine Gefahr für Europa. ›Wer ist das Hauptopfer?‹, fragte Macron – und gab selbst die Antwort: ›Europa und seine Sicherheit.‹«
Neu ist der Vorschlag einer europäischen Armee freilich nicht. Über Jahre und Jahrzehnte entstand aber keine rechte Begeisterung. Merkel wäre, allein schon dem Koalitionsvertrag von 2013 zufolge, längst verpflichtet gewesen, diesen Plan zu verfolgen. Damals hieß es darin: »Wir streben einen immer engeren Verbund der europäischen Streitkräfte an, der sich zu einer parlamentarisch kontrollierten europäischen Armee weiterentwickeln kann.«
Erste Ansätze
Derartige Vorschläge sind seit Ende des Zweiten Weltkrieges regelmäßig schiefgegangen oder wurden in nur homöopathischen Ansätzen halbherzig realisiert. 1954 ist der Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) noch in Frankreichs Nationalversammlung gescheitert. 1987 wurde dann eine deutsch-französische Brigade aufgestellt, die 2002 zu einem deutsch-französischen Korps aufgestockt wurde, dem als Eurokorps später Spanien, Belgien und Luxemburg beitraten.
Über diese Initiativen und Überlegungen ist Merkel in ihrer Straßburger Rede nicht hinausgekommen. Dort, wo sie hätte konkreter werden können, begab sie sich ins Ungefähre: »Wir sollten an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen.« Europa müsse sein Schicksal »ein Stück weit in die eigene Hand nehmen.« Merkel warf damit mehr Fragen auf, als Antworten gegeben wurden: Was heißt »ein Stück weit«? Was heißt »eines Tages«? »Was heißt »echte«? Um die Frage »Und die NATO?« im Keim zu ersticken, fügte Merkel hinzu, dass dies »keine Armee gegen die NATO« sein solle. Und weil Europa »mehr als 160 Verteidigungssysteme beziehungsweise Waffensysteme« habe und die Vereinigten Staaten von Amerika nur 50 oder 60 hätten, schlug sie vor, an einer gemeinsamen Entwicklung von Waffensystemen innerhalb Europas und an einer gemeinsamen Rüstungsexportpolitik zu arbeiten. Da ist manch Wahres dran. Nur: Warum ist es aber bisher nie konsequent betrieben worden, entsprechende Systeme zu vereinheitlichen? Warum konnte zum Beispiel die Luftwaffe im Mai 2013 die Luftbetankung französischer Kampfflugzeuge nicht übernehmen? Der Grund: Die Tankstutzen passten nicht in die Tanköffnungen der französischen Kampfflieger. Und wie kann es heute noch sein, dass es in der EU 17 Panzermodelle, 26 verschiedene Haubitzen und 29 Schiffstypen gibt?
Völlig offen bliebt sowohl bei Macron als auch Merkel, wie eine solche europäische Armee aussehen könnte. Ob es sich um eine Armee Europas oder der EU handelt. Wie es mit EU-Mitgliedern aussieht, die keine NATO-Mitglieder sind, wie etwa Österreich, Schweden, Finnland, Irland, Zypern. Oder wie es um NATO-Mitglieder steht, die keine EU-Mitglieder sind, wie etwa die strategisch enorm wichtigen Länder Norwegen, Island und Türkei. Ob all dies auf parallele Kommandostrukturen – hier NATO, dort europäische Armee – hinausläuft. Wie sich ein Europäischer Sicherheitsrat zum Weltsicherheitsrat verhalten sollte. Es wäre anzusprechen gewesen, wie es um eine europäische Armee nach dem Brexit steht und was es bedeutet, wenn die Briten ihre »special relationship« zu den USA vertiefen werden, unter anderem auch, was Rüstungsprojekte betrifft.
Und nach dem Brexit?
Der Brexit zeigt jedenfalls, dass sich auch Großbritannien föderalistischen Vorstellungen einer europäischen Verteidigung widersetzt. General Michael Jackson sagte: »Ich habe meiner Königin und allen Nachfolgern einen Treueid geschworen – nicht der ständig rotierenden EU-Präsidentschaft in Brüssel.« Insofern würde jede weitere militärische Integration die Briten weiter von der EU wegführen. Der NATO droht damit hinsichtlich Einsatzes und Rüstung weitere Spaltung. Es sollte zudem nicht übersehen werden, dass die Armeen Frankreichs und Großbritanniens die stärksten innerhalb der EU sind – nicht nur, aber auch weil sie Atommächte sind. Wenn die Briten tatsächlich aus der EU austreten, könnte womöglich eine der beiden einsatzfähigsten EU-Armeen ein für alle Mal draußen bleiben aus der am 11. Dezember 2017 beschlossenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU). Wenigstens hier den Briten ein Angebot zu machen und sie zum Mitmachen zu gewinnen, wäre überfällig gewesen.
Frankreichs Interessen
Es kommen zwei sehr handfeste Interessen hinzu, von denen die Franzosen nie auch nur einen Deut abweichen würden. Erstens: Die Franzosen sind Atommacht. Ihre atomare Stärke rangiert – wenn auch mit deutlichem Abstand hinter den USA und Russland – immerhin auf Rang 3 zusammen mit Großbritannien und China. Die Force de frappe – also die vermutlich 200 bis 300 Atomsprengköpfe mit dem atomgetriebenen Flugzeugträger »Charles de Gaulle«, atomgetriebenen U-Booten und interkontinentalen Trägerraketen – würden sie nie teilen wollen. Weder Macron noch ein x-beliebiger Nachfolger würde die französische Nuklearmacht einem EU-Kommando unterstellen. Zum Dissens bezüglich der Abgabe von Souveränitätsrechten kämen zahlreiche weniger wichtige Punkte hinzu: Eine Harmonisierung der EU-Armeen in Fragen der Arbeitszeitordnung, der Beteiligungsrechte sowie des Disziplinar- und Strafrechts scheint so aussichtslos wie der Bau europäischer Flugzeugträger.
Bezeichnend ist, dass in der Vision stratégique von Frankreichs Generalstabschef François Lecointre weder NATO noch EU eine Rolle spielen. Abgesehen davon, dass schon ein Mitverfügen der Deutschen über Atomwaffen erneut ein Grund wäre, Deutschland innenpolitisch zu zerreißen. Das war bereits zu sehen, als der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (unterstützt von Konrad Adenauer) in den Anfangsjahren der Bundeswehr die Idee einer Bewaffnung mit Atomwaffen verfolgte. Die Gegenkräfte sind seither garantiert nicht geringer geworden.
Und zweitens: Die Franzosen sind Flugzeugbauer. Sie sind nicht nur an transnationalen Rüstungsprojekten wie dem A400-Transporter maßgeblich beteiligt. Mit ihrer Rafale (frz. für Böe, Windstoß) von Dassault Aviation haben sie zudem ein konkurrenzfähiges Gegenstück zum Eurofighter. Die Franzosen gehen hier nicht nur solidarisch und gemeinnützig zu Werke. Sie achten schon sehr darauf, dass ihre eigene Flugzeugindustrie am Laufen gehalten wird, zum Beispiel eben der allein in französischer Hand befindliche Dassault-Aviation-Konzern als Hersteller von Geschäftsflugzeugen und Militärmaschinen wie Rafale beziehungsweise früher Mirage oder Alpha Jet. Auch über diese Schiene werden sich die Franzosen eine Mitgliedschaft an einer ESVU in Form von Waffenlieferungen an die Partner gut bezahlen lassen.
Sie hätten jedenfalls die Nase weit vorne in einer – im Moment höchst fiktiven – europäischen Armee, denn sie haben sich innereuropäisch in der Sicherheits- und Militärpolitik einen deutlichen Vorsprung erarbeitet. Frankreich ist anscheinend kein so postpatriotisches und postheroisches Land wie Deutschland, das alles Militärische marginalisiert. Unsere Rüstungsindustrie ist zu einem Schattendasein verdammt, noch dominierende Firmen wie Krauss-Maffei Wegmann (Leopard) begeben sich in französische Partnerhände, Airbus-Militär bringt keinen Tornado-Nachfolger mehr zustande, ganz abgesehen davon, dass auch bei Airbus die Franzosen entscheidende Spieler sind. Den Tornado-Nachfolger wird folglich ein französisch dominiertes Konsortium um Dassault Aviation entwickeln und bauen. Die einzige Alternative für die Deutschen wäre ein Kauf in den USA, was von der deutschen Luftwaffe präferiert wird. Das aber will die deutsche Politik, hoffentlich nicht.
Wenn sich die Briten also europäisch zurücknehmen und sich die Deutschen sicherheitspolitisch wie seit Jahrzehnten ganz hinten einreihen, sind die Franzosen die entscheidende Führungsnation. Reicht das, um den militärisch expandierenden Chinesen und Russen zu begegnen? Da die Deutschen aber auch nicht als bloße Befehlsempfänger der US-Amerikaner dastehen wollen, bleibt nichts anderes übrig, als Frankreich als tonangebend zu akzeptieren.
In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung vom 17. Dezember 2018 nannte Rudolf Adam, 2004 bis 2008 Leiter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die Vorstellung einer europäischen Armee eine »Vision, die in die Irre führt«. Adam wies darauf hin, dass die EU in folgenden Konfliktfällen keinerlei Rolle spielte: Irak-Krieg, Intervention in Libyen, Nahost-Konflikt, gegenüber Russland oder China. Europa könne militärisch sein Schicksal nicht in die eigene Hand nehmen, weil es an den Werkzeugen dafür fehle. Und es sei hinzugefügt, ganz entscheidend am politischen Willen und an einer staatlichen Souveränität der EU.
Auszug aus:
Josef Kraus/Richard Drexl, Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine. Edition Tichys Einblick im FBV, 240 Seiten, 22,99 €
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