Tichys Einblick
Interview

Eine andere jüdische Weltgeschichte

Der renommierte Historiker Michael Wolffsohn hat schon viele erfolgreiche Bücher geschrieben. Mit seinem jüngsten hat er ein Lektüre-Muss für historisch gut Bewanderte vorgelegt, das auch ein Lektüre-Muss für nicht so bibelfeste Leser geworden ist.

Tichys Einblick: Herr Professor Wolffsohn, vor einigen Wochen ist Ihr neues Buch erschienen. Wollten Sie sich mit diesem Opus magnum selbst ein Geschenk zum 75. Geburtstag machen?

Michael Wolffsohn: Personenkult kennzeichnet Verbrecher. Selbstbeweihräucherung ist peinlich. Keiner sollte sich zu wichtig nehmen; auch nicht den eigenen Geburtstag, ob 75 oder 25. Seit jeher bemühe ich mich um eine andere Art der Geschichtsschreibung, wissenschaftlich, trotzdem unterhaltsam, und sogar humorvoll. Mehr angelsächsisch als deutsch.

Eine „andere“ jüdische Weltgeschichte soll es sein. Was ist „anders“?

Im Wortbild beantwortet: Es ist Geschichte ohne Weihrauch, Parfüm und ohne Schaum vor dem Mund. Ich fasse heiße Eisen an, zum Beispiel: Gibt es doch so etwas wie eine „Jüdische Genetik“? Hier ist also fachübergreifende Methodik notwendig. Auf die stütze ich mich, nicht auf die genetische „Expertise“ von Angela Merkel oder Thilo Sarrazin, um zwei Antipoden der 2010/11 geführten Schlammschlacht zu nennen.

Das auch in der islamischen Welt seit jeher schwere Los der Juden schildere ich faktenbasiert ausführlicher als die meisten Autoren. Ich verzichte dabei auch auf den Sirupüberzug. In der islamischen Welt ging es den Juden zeitweilig besser als in der christlichen, doch schlecht genug. Es gibt noch viele weitere Kennzeichen des anderen Herangehens.

Antizionismus ist weit mehr als Israelkritik
Israel, Orthodoxie oder das jüdische Nichts
Hier noch eines: Ich zeige, dass weder Beschneidung noch Kopfbedeckung oder gar der Verzicht auf Schweinefleisch von jeher zum Judentum gehörten. Kurzum, ich räume mit vielen Legenden auf, von Juden, über Juden, gegen Juden oder für Juden. Passagen mit persönlicher Bewertung habe ich in Kursivschrift setzen lassen und mich nicht hinter dem Schild puristischer Wissenschaft versteckt.

3000 Jahre jüdische Geschichte sind eine Geschichte der Verfolgung, der versuchten Ausrottung. Ging es den Juden irgendwann wirklich gut?

O ja, aber immer nur auf Widerruf. Man übersehe nicht: Die Juden, wenn man ausnahmsweise so pauschal formuliert, waren seit jeher ein lebenslustiges Völkchen. So kennzeichnet Sex mit Seele die talmudisch-jüdische Sexualethik.

Mit knapp 15 Millionen stellen die Juden nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung. Gab es, wie Sie schreiben, einen „Segen des Antisemitismus“, weil die Juden in Jahrtausenden der Verfolgung Resilienz entwickelt haben?

Man muss bei der Antwort regional unterscheiden. In Israel haben die Juden eine Zukunft. Sie werden, gemeinsam mit gemäßigten Arabern, auch gegen die iranische Gefahr obsiegen, und die Mehrheit der Palästinenser wird einsehen, dass es ihr besser geht, wenn sie mit Israel zusammenarbeitet. Für Europa, besonders Westeuropa, bin ich sehr skeptisch. Hier will der Staat die Juden schützen, aber er kann es nicht. Siehe Frankreich, Deutschland, Großbritannien, neuerdings auch die USA.

In Frankreich, so hört man, sei bereits ein Fünftel der Juden wegen der für sie bedrohlichen Lage ausgewandert. Wodurch fühlen sie sich bedroht? Sitzen die deutschen Juden auch auf gepackten Koffern? Und warum?

Es gibt in Deutschland etwa 200.000 Juden, doch etwas mehr als die Hälfte gehört keiner Gemeinde an. Das heißt: Ihnen bedeutet ihr Judentum auch ohne Bedrohung von außen wenig. Als Kollektiv werden sie also verschwinden – abgesehen von der erkennbaren Auswanderung. Warum? Weil jüdisches Leben gefährdet ist und offenbar nicht genügend geschützt werden kann.

Wie äußert sich die Gefährdung?

Drei Gefahrenquellen gibt es heute für Juden: den altneuen Rechtsextremismus, den mörderischen Islamismus samt islamischen mentalen Mitläufern und den Linksextremismus. Die Linksextremisten und die Islamisten bilden inzwischen eine Allianz. In Frankreich nennt man sie „Islamogauchisme“. Diese sind subjektiv meistens keine Antisemiten, aber objektiv deren nützliche Idioten.

Abendland am Scheideweg
Wolffsohn liest dem deutschen Bürgertum samtweich die Leviten: Zumindest prüfen sollten wir, wer zu uns kommt
Deutsche Behörden nennen meistens nur die Gefahr des altneuen Rechtsextremismus. Seit Jahren zeigen Umfragen unter den Juden Europas: Sie haben an erster Stelle islamische Judenfeindschaft erfahren, gefolgt von linker und erst auf dem dritten Platz rechter. Nochmals: nicht eine Gefahr, sondern drei. Alle drei sind, ganz wörtlich, mordsgefährlich.

Zur deutschen Wiedervereinigung haben Sie ein Bändchen mit dem Titel geschrieben: „Keine Angst vor Deutschland“. Und Sie haben sich damals als „deutscher Patriot jüdischen Glaubens“ geoutet. Gilt beides noch?

Mein Patriotismus gilt der Bundesrepublik Deutschland, die sich trotz aller Defizite als stabile, liberale, menschenfreundliche Demokratie erweist. Er gilt nicht einzelnen Persönlichkeiten. Unter diesen haben mich selbst vermeintliche Ikonen maßlos enttäuscht. Das gilt für Angela Merkel ebenso wie für Willy Brandt. Von Gerhard Schröder habe ich nie viel erwartet. Helmut Schmidt hatte leider auch viele Schattenseiten. Auf gepackten Koffern sitze ich nicht. Mit 75, ich bitt’ Sie. Wäre ich jünger, überlegte ich es mir. Israel ist eine junge, dynamische, innovative, lebensfreudige Gesellschaft.

Exodus aus Frankreich, aus Deutschland: Ist der Grund der, den Karl Lagerfeld im Nachgang zur Grenzöffnung vom Sommer 2015 in einer Talkshow nannte: „Wir können nicht Millionen Juden töten und Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land holen“?

Der wunderbare Karl Lagerfeld. Er hatte ja so recht. Gerade deshalb wird er ja auch hierzulande sogar als Toter bestraft. Soweit ich weiß, wurde in ganz Deutschland keine einzige Straße nach ihm benannt. Nicht einmal in seiner Heimatstadt Hamburg. Eine Schande.

Deutschland ist voller Antisemitismus, wird auch regierungsamtlich betont. Welcher Provenienz ist dieser? Gehen wir ehrlich damit um?

Anders als amtlich behauptet, gibt es nicht nur den altneuen Rechtsextremismus. Aus gesamteuropäisch-jüdischer Sicht sind, wohlgemerkt empirisch, Islamismus und Linksextremismus plus linksliberale Helfer die größere Gefahr.

Die Documenta in Kassel schleppt sich wie ein Dauerskandal dahin. Was ist hier angesichts eines Wimmelbilds muslimischer Künstler an antisemitischen Stereotypen aufgebrochen? Wer hat das verbockt?

Ja, auch Frau Roth, aber sozusagen geschenkt hat ihr das Ganze Monika Grütters, CDU. Jenseits von Einzelpersonen, also gewichtiger und schlimmer: Ein großer Teil des deutschen und europäischen Kulturmilieus ist, ausgehend von einem geradezu blindwütigen Antizionismus, antijüdisch. Warum? Israel ist für alle Juden die Lebensversicherung. Wer diese zerstört, entzieht allen Juden die Lebensgrundlage im Sinne existenzieller Sicherheit.

Juden, so sagen Sie, könnten sich außer in Israel derzeit am sichersten in Ungarn, Tschechien, Polen und der Slowakei fühlen. Warum?

Das ist meine Meinung. Auch mir gefällt sie nicht, denn diese Staaten sind auch mir zu autoritär geführt. Offenbar gibt es doch einen Zusammenhang zwischen diesem Weg mit einem starken Staat und geringerer Terrorgefahr. Traurig, aber wahr.

"Wem gehört das Heilige Land?"
Michael Wolffsohn über Israel und den Nahost-Konflikt
Israels Sicherheit sei Deutschlands Staatsräson, heißt es. Wie erklärt es sich dann, dass deutsche Vertreter in der UNO fast immer für Anträge zur Verurteilung Israels stimmen? Auch der UN-Botschafter Christoph Heusgen – heute Chef der Münchner Sicherheitskonferenz –, der von 2017 bis 2021 weisungsgebundener Botschafter unter Außenminister Heiko Maas war, der von sich sagte, er sei „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen.

Das sind Sonntagsreden, werktags wird anders gehandelt. Ich kann das heuchlerische Ritual mit den immer gleichen Phrasen kaum noch ertragen. Käme es von Herzen, sähe die deutsche Juden- und Israel-Politik anders aus.

Muss man also den Eindruck haben, deutscher regierungsamtlicher Antisemitismus wird als Kritik an israelischer Siedlungs- und Sicherheitspolitik verbrämt?

Nur der regierungsamtliche?

Wie sehen Sie die Zukunft der Juden und vor allem des Staates Israel? Im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung? Als Konföderation mit den Palästinensern? Als Bundesstaat?

In meinem Buch „Zum Weltfrieden“ habe ich ausführlich dargelegt, weshalb nur föderative Strukturen als Mischung aus Bundesstaat und Staatenbund zwischen den Akteuren Israel, Palästina, Jordanien funktionieren kann. Die Zwei-Staaten-Lösung ist tot, lange bevor sie zur Welt kam. Das Gerede hierüber ist entweder pure Heuchelei oder Kenntnislosigkeit.

Ihr Buch wird manche „woke“ Zeitgenossen provozieren. Sie schreiben von jüdischer Genetik, ja von einer jüdischen Rasse. Dürfte so etwas auch ein nichtjüdischer deutscher Autor schreiben? Ist das nicht überholter Biologismus?

Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie
Ein Glücksfall: „Glückskinder“ von Michael Wolffsohn
Entscheidend ist nicht: Was ist politisch korrekt, sondern was ist richtig, was falsch? Alle, die sich auskennen, könnten so schreiben. Man muss nur den „Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Das gilt für Juden ebenso wie für Nichtjuden.

Sie sind viel in Schulen unterwegs, haben mit Blick auf Heranwachsende, auf „ihre Enkel“, 2021 ein Buch veröffentlicht: „Wir waren Glückskinder – trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte“. Reicht das? Oder teilen Sie die wiederkehrende Forderung von Charlotte Knobloch, in Deutschland müsse ein eigenes Schulfach „Nationalsozialismus“ eingeführt werden?

Zu Frau Knoblochs oft abenteuerlichen, historisch kenntnislosen und trotzdem empathisch vorgetragenen Geschichtseinlassungen fällt mir nichts mehr ein.

Am Ende Ihres Buches listen Sie auf etwa 30 Seiten rund 100 „bedeutsame Juden“ auf: von Hannah Arendt, Albert Einstein, Sigmund Freud über Jesus, Paulus bis hin zu Selenskyj und Mark Zuckerberg. Was ist das Kriterium für diese ungewöhnliche Auswahl?

Wie im Text erwähnt, subjektive Kriterien, basierend auf dem, was ich – jeweils kurz begründet – für objektivierbar halte.

ZUR PERSON Michael Wolffsohn ist Sohn einer jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie, die 1939 nach Palästina emigrierte. Er wurde 1947 in Tel Aviv geboren, kam 1954 mit seiner Familie zurück nach Deutschland. Von 1967 bis 1970 leistete Wolffsohn unmittelbar nach dem Sechstagekrieg seinen Militärdienst in Israel. Er wurde 1981 als 34-Jähriger Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München und lehrte dort bis 2012. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen wurde er 2017 zum „Hochschullehrer des Jahres“ gekürt.

Michael Wolffsohn, Eine andere Jüdische Weltgeschichte. Herder Verlag, Klappenbroschur, 368 Seiten, 18,00 €.


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