Tichys Einblick
Urteil: ungerecht

Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt

Selten äußern sich Richter über die Qualität der Justiz. Thorsten Schleif hat sich aus der Deckung gewagt und analysiert in einem dieser Tage erscheinenden Buch, warum Skandal- und Fehlurteile systembedingt sind. Ein Gespräch über die dritte Gewalt und das schwindende Vertrauen der Bürger.

(c) stephanPick

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Tichys Einblick: In der Öffentlichkeit gibt es immer wieder Kritik an Fehlurteilen. Was läuft schief in der Justiz?

Thorsten Schleif: In den zwölf Jahren, in denen ich Richter bin, ist mir immer wieder aufgefallen, dass einiges schiefläuft. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass in die Justiz bundesweit zu wenig Geld investiert worden ist, sowohl bei der Einstellung als auch bei der Besoldung und bei der Ausbildung der Richter. Das führt dazu, dass sehr viele Urteile und Entscheidungen nicht so ergehen, wie sie ergehen sollten.

Was ist die Ursache dafür?

Richter werden einerseits nicht richtig ausgewählt, andererseits nicht weiter ausgebildet. Und Richter haben gewisse Charaktereigenschaften, die dazu führen, dass sehr viele Skandalurteile ergehen. Unter Skandalurteilen verstehe ich Strafurteile, die dem Gerechtigkeitsempfinden sowohl des Laien als auch des Fachmanns widerstreben. Urteile, bei denen man denkt: Das kann doch so nicht gewesen sein! Ich merke, dass ein massiver Vertrauensverlust in den Staat und insbesondere in seine Gerichte stattfindet. Das ist gefährlich.

Jens Gnisa, der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, sagte jüngst, die Formel „härtere Urteile ist gleich weniger Verbrechen“ stimme nicht, unser System funktioniere. Ist das so?

Nein. Unser System funktioniert nur so lange, wie sich keine Herausforderungen stellen. Die Richter sind ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen. Zum Beispiel ist die Zahl der Asylverfahren von 2007 bis 2017 um 1650 Prozent gestiegen. Die damit verbundene zusätzliche Arbeitsbelastung kann kaum aufgefangen werden.

Hat sich die Justiz in den letzten Jahren tatsächlich verändert, oder hat sich nur unser Blick auf sie verändert?

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„Dagegen sind arabische Clans Schülerlotsen“
Sie ist ausreichend, um mit dem Alltagsgeschehen fertigzuwerden, aber nicht mehr, wenn sich neue Herausforderungen stellen, zum Beispiel durch Reichsbürger, durch wachsende Clankriminalität, auch durch verschärfte Kriminalität seit 2015 wegen des Zuzugs verschiedener Flüchtlinge. Man muss auch berücksichtigen, dass die Justiz sowohl im richterlichen als auch im nichtrichterlichen Bereich große Probleme hat, geeignetes Personal zu finden. In den nächsten zehn Jahren werden 40 Prozent der Richter und Staatsanwälte pensioniert, aber bereits jetzt haben wir Schwierigkeiten, die offenen Richterstellen zu besetzen. Ich komme aus dem OLG­Bezirk Düsseldorf, wo derzeit 30 Richterstellen nicht besetzt sind, weil es keine geeigneten Kandidaten gibt. Im OLG­Bezirk Hamm sind es sogar 80 offene Stellen.

Was stimmt nicht bei der Auswahl und der Ausbildung der Richter?

Bei der Auswahl bieten wir zu wenig Anreize für gute Juristen. Früher konnten wir mit der Work­Life­Balance ein wenig punkten, die Arbeitszeit war im Gegensatz zu Großkanzleien, wo man 50 bis 60 Wochenstunden hat, doch angenehmer. Da hat die Justiz allerdings nachgezogen. Ich selbst habe als Berufsanfänger auch zwischen 80 und 90 Wochenstunden gearbeitet. Das geht rein körperlich auf Dauer nicht gut. Inzwischen garantieren viele Großkanzleien eine Arbeitszeit von etwa 41, 42 Stunden pro Woche und ein Gehalt, an das ein Richtergehalt bei Weitem nicht heranreicht. Das Einstiegsgehalt in einer Großkanzlei beträgt bis zu 140 000 Euro jährlich – das verdient in Deutschland kein OLG­Präsident, geschweige denn ein junger Richter.

Gibt es eigentlich noch die vom Grundgesetz verlangte unabhängige Justiz?

Die gab es in Deutschland nie. Wir haben in der Schule gelernt, dass es die Gewaltenteilung, die Judikative als dritte Staatsgewalt neben Legislative und Exekutive gibt. Diese strenge Trennung gibt es in Deutschland aber gar nicht. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass die Gerichte nicht selbstverwaltet sind, sondern dass sie dem jeweiligen Justizministerium des Landes unterstehen und das Justizministerium bestimmt, wer Präsident eines Landgerichts oder Direktor eines Amtsgerichts wird. Das Ministerium nimmt über diese Posten auch Einfluss auf die Beförderung der einzelnen Richter. Der frühere BGH­Richter Thomas Fischer hat einmal gesagt, er sei davon überzeugt, dass jenseits einer bestimmten Besoldungsstufe nichts mehr ohne parteipolitische Hintergundmusik passiert. Da muss ich ihm zustimmen. Es ist eine Aufweichung des Prinzips der Gewaltenteilung, derer sich kaum jemand bewusst ist. Sie geht auf das Kaiserreich zurück und danach auf die von Hitler bewusst eingeführte Gerichtsverfassungsverordnung von 1935. Sie ist im Ergebnis bis heute nicht abgeschafft worden.

Welche Lösungen schlagen Sie vor?

Der wichtigste Punkt ist die Selbstverwaltung der Gerichte. Diese ist dringend reformbedürftig. Zweitens muss mehr Geld in die Besoldung sowie in die Ausbildung der Richter und auch in die technische Ausstattung gesteckt werden. In NRW führen wir jetzt erst die elektronische Akte ein, mit der man endlich die Möglichkeit hat, Akten auch von zu Hause aus zu bearbeiten. Diese Möglichkeit hatte ich in einer Großkanzlei, in der ich gearbeitet habe, schon 2007.

Lassen Sie uns auf konkrete öffentliche Kritik an der Justiz kommen: Haben wir eine Kuscheljustiz?

Interview TE 11-2019
Richter Schleif: Der Rechtsstaat weicht zurück
In vielen Punkten ist die Kritik der Medien berechtigt. Es wird aber immer schnell nach härteren Gesetzen gerufen, die meiner Meinung nach gar nicht erforderlich sind. Es würde ausreichen, wenn unsere Strafgesetze angewendet würden. Ein Beispiel: Eine gefährliche Körperverletzung hat als Mindeststrafe nach dem Gesetz sechs Monate, als Höchststrafe zehn Jahre Freiheitsstrafe. Wenn bei sehr vielen Fällen aber die Strafe stets auf sechs bis zehn Monate angesetzt wird, wird das Gesetz nicht ausgeschöpft. Als Richter muss ich das Selbstbewusstsein haben, eine harte Strafe auszusprechen, wenn sie erforderlich ist. Das fehlt vielen Kollegen, die aus falsch verstandenem Mitleid zu geringen Strafen neigen.

Der Jugendrichter Andreas Müller sagt, der Staat erschaffe Intensivtäter, weil sie zu viel Zuwendung statt einer schnellen Ahndung bekämen. Zu Recht?

Ich bin ja neben meinen Aufgaben als Strafrichter und Vorsitzender des Schöffengerichts in Dinslaken auch Jugendrichter. Ich finde, Strafe muss schnell erfolgen und eine gewisse Härte sowie vor allem eine gewisse Konsequenz haben. Deshalb stimme ich dem Kollegen zu. Ich würde sagen, man schafft nicht, aber man begünstigt das Entstehen von Intensivtätern. Bei Intensivtätern, die 20 Taten hinter sich haben, bezweifle ich, dass mehr Zuwendung auf den rechten Weg zurückführt.

Erkennen Sie den politischen Willen, die Jugendgewalt einzudämmen?

Nein. Es gibt immer wieder politische Bestrebungen, aber die kommen momentan eher von politischen Parteien, die dem Randbereich zugeordnet werden. Sie müssten aus der Mitte, gerade von der Großen Koalition, kommen.

Im Sommer erregte der Schwertmord durch einen Asylbewerber in Stuttgart große Aufmerksamkeit. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sagte dazu, viele Menschen seien auf dem linken Auge blind, und wurde prompt heftig angefeindet. Zu Recht?

Kriminalität im Kontext von Zuwanderung
Bundeskriminalamt mit anderem Bild zur Zuwanderungskriminalität als Bundesinnenminister
Wir haben seit 2015 in der Bevölkerung die Sorge, dass insbesondere die Ausländerkriminalität erhöht ist. Tatsächlich sieht man in der Statistik des BKA für 2018, dass 34 Prozent der Tatverdächtigen Ausländer sind. Die Zahl der Tatverdächtigen bei Mord, Totschlag oder Tötung auf Verlangen liegt sogar bei 43 Prozent. Die Sorge der Bevölkerung muss also ernst genommen werden. Das Problem kann gelöst werden, und es ist peinlich für einen Rechtsstaat, dass er es noch nicht gelöst hat.

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wurde kürzlich heftig kritisiert, als er sagte, Migranten seien „gewaltbereiter“.

Ich verstehe nicht, wieso man da gleich losschreit. Das ist die Statistik. Wenn man anfängt, die Statistik zu verleugnen, verleugnet man die Realität. Man muss dringend darauf reagieren, aber nicht mit Hysterie.

Ein Fall, der neulich für Aufruhr sorgte, ereignete sich in Köthen: Ein Einheimischer kam durch zwei Afghanen zu Tode. Vor Gericht war vom „versagensbereiten Herz“ des Getöteten die Rede. Seitdem wird das „Victim Blaming“ diskutiert.

Das ist kompletter Unfug. Genauso wie bei Vergewaltigungsopfern und ihren kurzen Röcken. Egal, ob der Rechtsanwalt oder der Richter so argumentiert, nach wie vor ist das Opfer das Opfer und der Täter der Täter.

Ein anderes Beispiel: Ein Marokkaner erstach neulich seine Tochter, um ihre Ehre zu retten. Das Gericht befand, dass man die kulturellen Befindlichkeiten berücksichtigen muss. Richtig?

Keine Sonderrechts-Zonen
Rechtsstaat statt Scharia
Falsch! Ein in Deutschland geschehenes Verbrechen muss nach hiesigen Maßstäben beurteilt werden. Ehrenmorde sind nicht akzeptabel.

Viel diskutiert wird die Clankriminalität. Ist unsere Justiz zu lasch?

Ich kann nur wiederholen: Eine schwache Staatsgewalt, die sich zurückzieht, bildet eine Art rechtsfreien Raum. Egal ob für Links- oder Rechtsextreme oder für gewaltbereite Ausländer. Toleranz kann sich nur der Stärkere erlauben. Diese Stärke haben wir momentan nicht. Wir haben den Rechtsstaat zurückweichen lassen.

Häufig hört man, dass Richter von Delinquenten bedroht werden. Ist Ihnen das auch schon passiert?

Nein. Ich hatte mal einen spektakulären Fall um die Messerstecherei zweier verfeindeter Familien. Die Polizei sagte mir, dass die Angehörigen mit mindestens 100 Leuten im Prozess Stimmung machen wollten. Man regte an, dass ich den Prozess vertage. Ich sagte Nein. In dem Moment wäre der Rechtsstaat zurückgewichen. Wenn ich in Dinslaken essen gehe, treffe ich öfter auf Leute, die ich schon verurteilt habe. Die grüßen freundlich, ich frage, wie es ihnen geht. Da war neulich ein ganz lieber, früher heroinabhängiger Kerl, der gerade fast drei Jahre abgesessen hatte. Er war clean und stellte mir seine Verlobte vor. So was freut mich. Viele junge Kollegen sagen mir: Die Menschen tun mir doch leid. Mir tun die Menschen auch leid. Wenn sie mir nicht mehr leidtun, bin ich ein Arsch und sollte aufhören, Richter zu sein. Wenn ich allerdings das Gesetz nicht mehr anwende, bin ich unfähig und sollte ebenfalls aufhören.

Das Interview mit Thorsten Schleif führte Marie Kellner, es ist in der Oktober-Ausgabe von Tichys Einblick erschienen (Heft Nr. 11/2019)

Thorsten Schleif, Urteil: ungerecht. Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt. Riva, 192 Seiten, 19,99 €.


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