Bisher schien es sicher, dass wir, die Babyboomer, die nach dem Krieg aus dem neuen Wohlstand hinaus in die Welt blinzelten wie Nietzsches „letzte Menschen“, dass wir die „Generation ohne Schicksal“ waren: keine Trümmer, kein Krieg, keine Bombenopfer, kein Hunger, keine Schuld.
Nun, zumindest wir Deutsche im Westen; die Schwestern und Brüder im Osten hatten, so die gemeine Lesart, als Opfer einer zweiten, nämlich der roten Diktatur, all das abzubüßen, was wir, die Deutschen, in der vorausgehenden braunen Diktatur an moralischer Schuld auf uns geladen und mit der militärischen Niederlage zurückzuzahlen hatten.
Nun aber scheint sich doch so etwas wie ein kollektives Schicksal vor uns aufzutürmen; da ist die heimtückische Seuche, da ist eine entkoppelte Politik mit Notstandsverordnungen, ein aufgetürmter Schuldenberg, der noch die kommenden Generationen wie eine Sisyphos-Last niederdrücken wird, dazu europaweit eine neue Spaltung in Ost und West, und Nord und Süd, in links und rechts sowieso, dazu in Alt und Jung und was die Bürgerkriegsszenarien sonst noch hergeben.
Man darf die Geschichte dieser Margo, die eigentlich Margarete Hegewald heißt, durchaus als Emanzipationsgeschichte lesen, wenn man darunter kein ideologisches Konzept, sondern eine ungewöhnlich leidenschaftliche lebensgeschichtliche Befreiung versteht. Diese Margo ist willensstark und witzig.
Wir treffen sie in den 1920er-Jahren, wo sie die Schule schmeißt, um in einem Fotogeschäft zu arbeiten, dort auf eine Fotografin trifft, sich in den gleichen schmucken, Klavier spielenden Mann verliebt, Flucht und Hunger und Verlust ihres Neugeborenen übersteht, während die andere, Helene Pinkus, das KZ-Bordell von Buchenwald überlebt und sich nach dem Krieg im „antifaschistischen Teil“ Deutschlands der guten Sache der Weltrevolution verschreibt und „Kundschafterin“ wird.
Kein Mangel an Schicksal
Wir erleben den Nachkrieg, die Studentenrevolte, die Terroristen und die Fahndungshysterie und schließlich die Wende – und wir erleben sie genial erzählt von beiden Seiten.
Wir erleben unter anderem jenen lauten, aber ziemlich einnehmenden Journalisten im Palasthotel 1989, der sagt: Ideen interessieren mich nicht, mich interessieren diejenigen, die sie denken, die sind spannender als jede Ideologie.
Und Cora Stephan beweist, wie recht der Mann hatte. Und wie es sich für eine gute Krimi-Autorin gehört, sorgt sie dafür, dass die Welt, die moralisch aus dem Lot geraten ist, wieder in Ordnung gebracht wird. Dazu aber muss vorher geklärt werden, wer den Treuhandchef erschossen hat – die RAF war es nicht –, und vor allem, wohin das dem Volk geklaute sogenannte „Parteivermögen“ der SED unter ihren diversen politischen Nachfolgebriefkästen verschwunden ist. Die Auflösung: ein prächtiges Überraschungsei!
Mit ihren beiden „Margo“-Romanen ist Cora Stephan ein Pageturner gelungen, der überraschend, fesselnd, klug und enorm unterhaltsam ist. Wenn der Verlag Kiepenheuer & Witsch klug wäre, würde er beide Romane in einem Geschenkschuber in edelster Ausstattung präsentieren, denn sie beweisen, dass wir Deutsche in allen Generationen uns über eines nicht beklagen können: über einen Mangel an Schicksal. Ein Stoff, der ähnlich wie „Babylon Berlin“ TV- oder Kinoproduzenten nicht kaltlassen dürfte.