Tichys Einblick
Haarsträubender realer Wirtschaftskrimi

Ein Kartenhaus namens Wirecard

Die Geschichte eines abgestürzten DAX-Unternehmens, an das viel zu viele als deutsches FinTech-Vorzeigeunternehmen viel zu lange glauben wollten

Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, spielte noch im Herbst 2019 bei einem Staatsbesuch in China die Türöffnerin für Wirecards Markteintritt in China. Acht Monate zuvor aber hatte die seriöse Londoner „Financial Times“ bereits handfeste Hinweise auf Bilanzmanipulationen veröffentlicht. Doch weil kein Geringerer als der schillernde frühere Politstar und Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg im Kanzleramt für Wirecard antichambriert hatte, schellten weder in Merkels Umfeld noch bei ihr selbst die Alarmglocken. Dass auch die Leitungsebene des Vizekanzlers und Bundesfinanzministers Kontakte zum heute in Untersuchungshaft sitzenden Vorstandsvorsitzenden Markus Braun unterhielt, ist ebenfalls bekannt.

Bis Ende Januar dieses Jahres hielt Olaf Scholz an BaFin-Präsident Felix Hufeld fest, dessen Finanzaufsichtsbehörde alle Warnungen vor betrügerischen Bilanzmanipulationen bei Wirecard über Jahre hinweg nicht nur systematisch ignoriert, sondern deren Mitarbeiter teilweise selbst Insiderhandel mit der FinTech-Aktie betrieben haben. Krönung der zweifelhaften BaFin-Aktivitäten waren einmal die Einschaltung der Staatsanwaltschaft, um gegen zwei Aufklärungsjournalisten der „Financial Times“ wegen Marktmanipulation vorzugehen. Außerdem der Erlass eines Leerverkaufsverbots gegen die Wirecard-Aktie, die an den Finanzmärkten damals als eine Art behördlichen Freispruchs gegen alle Manipulationsvorwürfe verstanden wurde.

Allein es fehlt der Wille
Der Wirecard-Skandal ist symptomatisch für die Schwäche des politischen Betriebes
Doch im Bundestagswahljahr wurde es Scholz dann doch zu heiß. Deshalb entließ er nach sechsmonatigem Zögern den umstrittenen BaFin-Chef, der sich in der Causa Wirecard nie zu einer Verantwortung seiner Behörde bekannt hatte. Auch BaFin-Vizepräsidentin Elisabeth Roegele verliert ihren Posten. Das Kalkül des SPD-Kanzlerkandidaten: Mit einer Neuaufstellung der BaFin will er sich selbst aus dem Schussfeld nehmen und der vor allem von der Opposition im Bundestags-Untersuchungsausschuss vorangetriebenen Skandal-Aufklärung offensiv mit eigenen personellen und konzeptionellen Veränderungen die Angriffswucht nehmen.

Ernst & Young (EY), die Wirtschaftsprüfer des Skandalunternehmens Wirecard, die ein Jahrzehnt lang gutgläubig testierten, was ihnen an manipulierten Unterlagen aus dem Unternehmen vorgelegt wurde, büßen ihr Kontrollversagen inzwischen auch kaufmännisch. Sie verlieren dem Vernehmen nach gut dotierte Bilanzprüfungen bei Großkonzernen. Gegen zwei EY-Abschlussprüfer verhängte der parlamentarische Untersuchungsausschuss vergangenen November Bußgelder, weil die beiden Vorgeladenen nicht konkret zum Fall aussagen wollten. EY sieht sich auch mit Sammelklagen von Wirecard-Geschädigten konfrontiert, die auf Schadensersatz klagen, weil nicht nur ihnen nicht einleuchten will, dass Wirtschaftsprüfer von 2009 bis 2018 uneingeschränkte Prüfungstestate für ein Unternehmen erteilen, bei denen ihnen dann endlich im Juni 2020 bei der Verweigerung des Testats für 2019 auffällt, dass 1,9 Milliarden Euro auf vermeintlichen Treuhandkonten auf den Philippinen fehlen.

Im Porno-Milieu gestartet, im DAX gelandet – und dann abgestürzt!

Spannend wie ein Krimi liest sich „Die Wirecard Story – Die Geschichte einer Milliarden-Lüge“, die Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg, zwei „Wirtschaftswoche“-Journalisten, flott niedergeschrieben haben. Bereits Jahre vor der Insolvenz des Unternehmens haben die beiden in der Causa Wirecard recherchiert. Wie trickreich der langjährige Vorstandsvorsitzende Markus Braun, der in Untersuchungshaft sitzt, sein flüchtiger Ex-Vorstandskollege Jan Marsalek und eine Reihe weiterer Personen in Diensten oder im Umfeld des Zahlungsdienstleisters agiert haben, erschließt sich bei der lohnenden Lektüre dieses realen Wirtschaftskrimis.

METZGERS ORDNUNGSRUF 48-2020
Olaf Scholz: Ein Pharisäer als Laudator für Dan McCrum
Wie kann ein Unternehmen, das in der Anfangszeit des kommerziellen Internets mit Dialer-Einwahlprogrammen für die Abrechnung von Pornoseiten-Nutzung Geld verdient, später mit Internet-Glücksspielen am Rand der Legalität hohe Margen generiert, im Jahr 2018 im höchsten deutschen Börsensegment DAX landen, dort mit 20 Milliarden Euro Börsenkapitalisierung punkten und zeitweise von der Fusion mit der deutlich niedriger bewerteten Deutschen Bank phantasieren?

Dazu bedurfte es nicht nur der kriminellen Energie der verantwortlichen Akteure, die ein undurchsichtiges Firmenkonstrukt mit Drittpartnern geschaffen haben, sondern auch des kollektiven Wegsehens der Finanzaufsicht, der Wirtschaftsprüfer – und der deutschen Wirtschaftspresse. Über deren unkritische Rolle, die sich in unzähligen Jubelberichten über das angeblich so erfolgreiche deutsche FinTech-Unternehmen niedergeschlagen hat, ist im Buch leider wenig zu lesen, obwohl sich die beiden Autoren in diesem Punkt nichts vorzuwerfen haben. Den Deutschen Journalistenpreis 2020 haben sie völlig zu Recht für ihre Recherchen in Sachen Wirecard erhalten. Auch die deutsche Polit-Prominenz hat sich das angebliche deutsche Vorzeige-Projekt Wirecard von der britischen Wirtschaftspresse nicht madig machen lassen wollen und deshalb nicht von der jahrelangen und – wie sich im Nachhinein herausstellte – berechtigten Kritik am Kartenhaus Wirecard irritieren lassen.

Ob die juristische Aufarbeitung einer der größten betrügerischen Börsenpleiten in Deutschland noch weitere personelle Konsequenzen bescheren wird, ist noch nicht abzusehen. Der Bundestags-Untersuchungsausschuss arbeitet weiter und je tiefer man im Wirecard-Sumpf wühlt, desto schmutziger scheint es zu werden.

Melanie Bergermann/Volker ter Haseborg, Die Wirecard-Story. Die Geschichte einer Milliarden-Lüge. FinanzBuch Verlag, 272 Seiten, 19,99 €.


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