Wie ein Warnhinweis steht ein Satz ganz am Anfang von Monika Marons neuem Roman: „Ich wollte in das Haus nicht einziehen.“ Und er markiert die zentrale Beziehung des Buchs, jene zwischen der Ich-Erzählerin Eva und dem Schlösschen in Bossin, das zwar in der Nähe von Berlin liegt, aber eben auch ausreichend entfernt von der Stadt.
Der Erbin Katharina erscheint das Anwesen zu groß für sich allein. Einer kleinen Gesellschaft erscheint es als guter Platz für eine Alterskommune. Wie sich dann herausstellt, bietet es aber auch zu wenig Platz für die unterschiedlichen Charaktere, die dort einziehen.
Der Roman entwirft die Konstellation der abgeschlossenen Gesellschaft, die sich in der Literatur nicht ganz selten findet, am prominentesten in Thomas Manns „Zauberberg“, in Vicky Baums „Menschen im Hotel“ und William Goldings „Lord of the Flies“. Kein Autor baut mit seinem Personal an einem isolierten Ort die Gesellschaft als Ganzes nach. Dann hätte die besondere Konstellation auch wenig Sinn. Aber jede geschlossene Gruppe schwingt mit der Welt, die sowieso nie ganz draußen bleibt, ob im Sanatorium oder auf einer Insel.
Das gilt natürlich auch für den Roman einer Autorin, die in ihren Büchern fast immer das Private mit dem verbindet, was in der Gesellschaft stattfindet, ohne dass das eine einfach als Chiffre für das andere steht. Welche Signale von draußen dringen nun in das Landgut, in dem die Bewohner aus unterschiedlichen Motiven einen Rückzugsort sehen, manche sogar eine Rettung?
Niemand, das stellt sich ziemlich schnell heraus, kommt ohne Last und ganz unbeschädigt in dieses Bossiner Gutshaus. Hinter der Eigentümerin Katharina liegt eine Ehe, die sie als Bedrückung empfand und an deren Ende sie sich fühlte „wie von Ganzkörpergips befreit“. Der Naturwissenschaftler Johannes Bertram, von seiner jüngeren Frau verlassen, braucht einen Ort, an dem er als ungewollt Einzelner leben kann, ohne zu vereinsamen. So ähnlich geht es auch Michael Jahnke und der Buchhändlerin Mary – beide halten nach dem Tod ihrer Ehemänner den Einzug in die Kommune für besser, als allein in der Großstadt zu leben. Sylvie, Evas Freundin, die sich am Anfang begeistert vom Landleben zeigt, behält, wie sich herausstellt, ihre Berliner Stadtwohnung. Auch sie betritt das Brandenburger Idyll nur auf Widerruf.
Nur ein Ehepaar gehört zu der Runde, die Müllers, wobei eigentlich lediglich er wegen seiner Krankheit den Umzug will; seine Frau folgt ihm widerwillig. Für die Ich-Erzählerin gibt es einen äußeren Anlass: die Dauerbauarbeiten in dem Berliner Haus, in dem sie bisher lebte. Außerdem erklärt sie Bossin für sich von vornherein als Provisorium, das sie auch wieder verlassen will. Wobei: Sie nähert sich dieser Zwischenlösung erst einmal an.
Ein wenig ähnelt Evas vorsichtiges Herantasten einer Liebesgeschichte im Alter, in der jemand versucht, sich an einen vielleicht nicht idealen, aber immerhin möglichen Partner zu gewöhnen. Nur dass hier das Haus mit seiner Kommune den Platz eines Gefährten einnimmt.
„Notre-Dame brennt!“
Bei Anton Tschechow heißt es: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert.“ Bei Maron kündigt sich das Verhängnis in den Abendnachrichten an. Am Abend von Evas Einzug stürzt jemand in die Weintrinkerrunde mit dem Ruf: „Notre-Dame brennt!“ Die Kommune versammelt sich vor dem Fernseher, und schnell kommt die Frage auf, ob es eigentlich ein deutsches Gegenstück zu der Pariser Kathedrale gibt, einen Symbolort, der nicht allen, aber zumindest vielen etwas bedeutet.
Johannes, der aus Dresden stammt, nennt die Frauenkirche, andere werfen andere Orte in die Debatte. Aber sie merken, dass nichts diese Stelle wirklich füllt. Zu dem Ereignis der Brandkatastrophe gehörten damals auch Bilder von Zuschauern, oft sehr jungen, die angesichts der Flammen vor der Kathedrale niederknieten und beteten. Wo würden Menschen in Deutschland anfangen, öffentlich zu beten? Beim zweiten Brand der Frauenkirche? Einige vielleicht.
Nach diesem ersten Auftritt eines Feuers wird es in „Das Haus“ noch zwei andere geben. Aber erst einmal stellen die Alterskommunarden unfreiwillig fest, dass es selbst in ihrer ziemlich homogenen Gemeinschaft – alle haben bürgerliche Manieren, alle sind abgeklärt – nur sehr schwache Kräfte gibt, die das ganze in der Balance halten. Ein banaler Streit treibt die Runde beinahe auseinander. Katharina, von Beruf Tierärztin, nimmt einen pflegebedürftigen Pudel auf, Frau Müller legt dagegen Protest ein, angeblich wegen einer Allergie, tatsächlich aber wegen ihrer Hundeangst. Und Katharina stellt fest, was jeder weiß, nämlich dass es sich um ihr Haus handelt. Das, die Erinnerung daran, in Bossin Gast und nicht ideeller Mitbesitzer zu sein, führt bei einigen schon zu Verbitterung.
Liebe, Familie, Religion
Monika Maron nähert sich der Frage, was den Zirkel im Haus und die Welt draußen zusammenhalten kann, indem sie einzelne Möglichkeiten (beziehungsweise Unmöglichkeiten) aufscheinen lässt. Liebe oder zumindest erotisches Interesse kommt kurz ins Spiel, als ein deutlich jüngerer Autor von Kriminalromanen, ein Bekannter Evas, in Bossin aufkreuzt. Jeder Bewohner des Hauses reagiert auf ihn in dezenter Weise. Es kommt zu keiner Affäre; der Durchreisende verschwindet auch wieder. Genauso wie die Familie der Müllers mit vielen Kindern, die für einen Moment die Szenerie beleben. Zur Religion pflegt keiner der Bewohner ein tröstendes Verhältnis. Auch hier blitzt nur sehr kurz etwas auf, als Eva sich an die Begegnung mit einem seltsamen Heiligen in Berlin auf der Straße erinnert, der sie segnete.
Neben den Klassikern Liebe, Familie und Religion, die leider nicht oder nur kleinster Dosierung zur Verfügung stehen, bietet auch die große politische Gesellschaft wenig an, worauf sich mehrere Gruppen und Milieus einigen könnten. Noch nicht einmal die Schlösschenbewohner. Ob es nun darum geht, mit welchem Recht Erben (Katharina) das besitzen sollen, was ihnen zufällt, ob Klimakatastrophismus und andere Themen: Jeder im Haus gibt seine Ansichten zu Protokoll. Dabei bleibt es aber auch.
Die Handlung spielt in der Zeit vor Corona. Und nur deshalb, das darf der Leser jedenfalls vermuten, führen die Risse nicht zum Bruch. Das, was mittlerweile das ganze Land prägt, die Enge des Debattenraums, die Verhärtung, dieses Klima dringt auch in Bossin ein, obwohl die Bewohner versuchen, sich von dem Leben draußen fernzuhalten.
Im Kern des Romans steht der nicht ausbuchstabierte Befund, dass es ein Minimum an Gemeinsamkeiten braucht, damit eine kleine und erst recht eine große Gesellschaft nicht zerfällt. Und dass ein Mangel an Bindungen sich nur sehr schwer wieder beheben lässt. Möglicherweise überhaupt nicht.
„Das Haus“ handelt von einem zweiten Großthema, das eng mit dem ersten zusammenhängt, Alter und Einsamkeit. Eva verlässt eben nicht nur wegen des Baulärms Berlin. Die Ich-Erzählerin bleibt in Bossin distanziert zu den anderen. In der Alterskommune fühlt sie sich etwas fehl am Platz. Aber welcher Platz wäre der richtige? „Nein, das war nichts für mich, das wusste ich auch“, sagt sie sich. „Aber was war noch etwas für mich? Ich hatte keinen Beruf mehr, keine Wohnung, eigentlich auch keine Familie, meine Tochter wohnte am anderen Ende von Deutschland, mein Enkelsohn studierte in Wien. Was soll aus diesem Rest des Lebens werden, in dem man nicht mehr sein durfte, wer man bis dahin war.“
Die Geschichte der unmöglichen Flucht aus der Gesellschaft erzählt Monika Maron in ihrem lakonischen Ton, den ihre Leser aus anderen Büchern kennen, auch mit einer Selbstdistanz, die an ihre Hauptfigur erinnert – mit dem wichtigen Unterschied, dass sich die Autorin durchaus für ihr Romanpersonal interessiert.
Zur Lakonie kommt eine dunklere Einfärbung. Auf die Fragen nach dem Minimalvorrat an Gemeinsamkeiten, danach, was bei Einsamkeit tröstet, gibt es keine wirklich befreienden Antworten. Das Finale des Romans versöhnt nicht. Aber es führt buchstäblich ins Offene.
Monika Maron. Das Haus. Roman. Hoffmann und Campe, 240 Seiten, 25 €.