Im Jahre 2018 erhielten Jan und Aleida Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Beide haben sich in der Tat große Verdienste um eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses erworben und können zu den prominentesten Geisteswissenschaftlern in Deutschland gerechnet werden; sie gehören in der intellektuellen Szene Deutschlands gewissermaßen zu den „great and the good“, wie man im Englischen sagen würde.
Der Preis war namentlich Aleida Assmann auch verliehen worden, weil sie sich immer erneut um eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Vergangenheit bemüht hat und in dieser Auseinandersetzung auch ein Fundament für ein aufgeklärtes Nationalbewusstsein und eine gemeinsame europäische Identität schaffen möchte. Anders als ein Autor wie Robert Menasse, für den alles Böse in der Welt, soweit es politisch ist, mit dem Nationalstaat zusammenhängt, bemüht sich Assmann durchaus um eine differenzierte Sicht der Dinge, das wird auch in ihrem 2018 erschienenen Buch Der Europäische Traum deutlich (Aleida Assmann, Der Europäische Traum: Vier Lehren aus der Geschichte, München 2018).
Ihr geht es letzten Endes darum, eine Vision für ein Europa zu entwickeln, das in ähnlicher Weise wie die Nationalstaaten durch ein gemeinsames Wir-Gefühl seiner „Bürger“ (dieser Begriff ist in diesem Zusammenhang freilich nicht unproblematisch) zusammengehalten wird. Ein solches Wir-Gefühl, so ihr Argument, könne nur aus gemeinsamen historischen Erfahrungen hervorgehen und sei auf sinnstiftende Erzählungen, ja auf „Mythen“ im weiteren Sinne des Wortes angewiesen. Hier wird man ihr kaum widersprechen wollen. Auffällig ist freilich, auf welche historischen Erinnerungen sie zurückgreift, um eine solche gemeinsame Identität zu begründen. Die ältere Geschichte Europas vor 1800 spielt nämlich für das politisch relevante kulturelle Gedächtnis aus ihrer Sicht kaum eine größere Rolle. Selbst die Aufklärung oder die Französische Revolution sind für Assmann im Kontext der Suche nach einem gemeinsamen europäischen Traum eigentlich kaum erwähnenswert, ganz zu schweigen von der langen christlichen Tradition Europas oder vom Erbe der Antike, das immerhin, wenn man von Demokratie und republikanischer Ordnung spricht, durchaus bedeutsam sein könnte.
Vielleicht ist diese Verengung des Blicks auch dadurch bedingt, dass es Assmann in ihrem Manifest vor allem um konkrete moralische Lehren aus der Geschichte und damit primär um die Zukunft geht. Das wird auch daran deutlich, dass sie ihr Buch den „Trägern und Stützen der Willkommenskultur“ gewidmet hat, eine Zueignung, die freilich bei allen Lesern, die moralische Belehrungen im Stil von grünen Partei- oder evangelischen Kirchentagen (soweit denn diese beiden Veranstaltungen überhaupt noch getrennt voneinander abgehalten werden) wenig schätzen, sofort ein gewisses Unbehagen wird aufkommen lassen.
Lehren aus der europäischen Geschichte
Aber lassen wir das für den Moment bei Seite. Wenn Assmann als Lehren aus der europäischen Geschichte vor allem das Bekenntnis zur Demokratie, zum Frieden und zu universalen Menschenrechten sowie die Bereitschaft zur beständigen Erweiterung des nationalen Gedächtnisses um eine Dimension, die es erlaubt, auch an das Leiden anderer Nationen zu erinnern, präsentiert, dann sind das auf den ersten Blick, namentlich in den ersten drei Punkten nur die weithin üblichen Formeln, denen man in jeder Sonntagsrede begegnet, und die ganz und gar dem offiziellen Selbstverständnis der EU, die Assmann weitgehend mit Europa gleichsetzt, entsprechen. Gar so einfach macht es sich Assmann freilich doch nicht, denn sie anerkennt durchaus, dass in Europa – legitimer Weise – unterschiedliche Erinnerungstraditionen aufeinanderstoßen und dass etwa die osteuropäischen Staaten, die sich erst 1989 von der Herrschaft der UDSSR befreien konnten, die gemeinsame europäische Geschichte aus einer anderen Perspektive sehen als die Westeuropäer.
Gemeinsames Geschichtsbewusstsein setzt also eine kritische und oft auch kontroverse Auseinandersetzung mit der Geschichte, eine Arbeit an der Erinnerung voraus; es kann nicht einfach verordnet werden, dessen ist sich Assmann durchaus bewusst. Weniger gut kommen dennoch die Briten weg, denen sie vorwirft, schon in ihren Planungen für die Feiern zum hundertjährigen Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges gezeigt zu haben, dass sie mit Europa nicht viel anfangen könnten und nur ihre eigene Nationalgeschichte respektive die des Commonwealth und des Empire wahrnähmen. Von daher sei der Brexit dann auch die logische Folge dieser Weigerung, die eigene Geschichte in einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur aufgehen zu lassen.
1945, 1989 und 2015 als Wendepunkte der europäischen Geschichte
Was sind die entscheidenden Wendepunkte jener europäischen Geschichte, die es stets zu erinnern, aber auch zu feiern gilt? Es sind für Assmann die drei Jahre 1945 – mit dem Datum des 8. Mai als Tag der Befreiung Europas von der Nazi-Diktatur -, 1989 – das Jahr, in dem die Herrschaft des Kommunismus über Osteuropa endete – und 2015. Das letzte Datum mag überraschen, aber es markiert für Assmann, die an dieser Stelle den Publizisten, Philosophen und renommierten Handballkritiker Wolfram Eilenberger zitiert, den Moment, in dem die europäische „Lebenslüge“ zusammengebrochen sei, die im illusionären Glauben bestanden habe, man könne sich gegen das Elend und das Leid Asiens und Afrikas in der „Festung Europa“ abschotten.
Spätestens an dieser Stelle wird man dann doch hellhörig. Denn die Flüchtlingskrise, auf die Assmann hier Bezug nimmt, führte natürlich nach der kaum eingedämmten Eurokrise zu weiteren schweren Spannungen in der EU. Sowohl beim Brexit wie auch bei der Revolte Ungarns und Polens gegen Brüssel war sie ein entscheidender Faktor. 2015 wurde deutlich, dass die EU von ihren Mitgliedstaaten, soweit sie zum Schengen-Raum gehörten, verlangte, auf die Kontrolle ihrer nationalen Grenzen zu verzichten, selbst aber zumindest damals (die Lage hat sich mittlerweile ein Stück weit verändert) nicht bereit oder nicht dazu in der Lage war, ihre Grenzen zu schützen. Dass diese Gleichung nicht aufging, überrascht nicht.
Aber hinter der Flüchtlingskrise verbirgt sich ein fundamentaleres Problem, unter dem auch das Buch von Assmann leidet. Nicht wenige Passagen ihres Manifestes erwecken den Eindruck, dass sie sich eine EU wünscht, die ein Nationalstaat im Großen ist. Der europäische Staatsbildungsprozess würde somit einfach in größerem Maßstab die Entstehung der Nationalstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert nachvollziehen. An anderen Stellen hat man hingegen eher den Eindruck, dass es ihr um etwas ganz anderes geht: um eine Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsordnung, die keinen wirklich politischen Charakter mehr hat, weil in ihr nicht mehr zwischen Bürgern und Fremden, nicht mehr zwischen dem Eigenen und dem Anderen und am Ende auch nicht mehr zwischen Freund und Feind unterschieden wird. Das trifft das gegenwärtige Projekt der EU ja tatsächlich bis zu einem gewissen Grade. Man hat sich in Brüssel nie darauf einigen können, ob der Erweiterungsprozess der EU jemals ein Ende haben soll, oder ob jedes Land soll beitreten können, das ein demokratischer Rechtsstaat ist, vorausgesetzt, dass es den bisherigen EU-Ländern irgendwie benachbart ist. Damit könnten eines Tages möglicherweise nicht nur die Türkei und die Ukraine, sondern auch Russland und, sagen wir, Tunesien oder Marokko, Mitgliedsländer der EU werden. Die EU wäre dann heute weniger ein unvollendeter Bundesstaat, sondern ein Reich, ein Imperium mit universaler Mission und ohne echte Grenzen, sondern bestenfalls mit vagen Grenzzonen.
Dazu kommt, dass die EU sehr stark zögert – und hier liegt Assmann mit ihrem Buch wieder ganz auf der offiziellen Linie -, sich womöglich auch mit einem Gefühl des Stolzes zu einem spezifischen Erbe der europäischen Geschichte zu bekennen, das nicht aufgeht in der kritischen Reflektion über die Irrwege der europäischen Nationalstaaten seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Dass Europa seit dem 17. Jahrhundert die Wiege der modernen Naturwissenschaft war, dass es das Römische Recht hervorgebracht hat oder von der Antike bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts durch eine spezifische humanistische Kultur geprägt war, kommt im Selbstverständnis der EU heute allenfalls noch am Rande vor, vom Christentum ganz zu schweigen. Wäre der Staatenbund EU wirklich auf dem Weg zu einem echten Staat, wäre das sehr überraschend, denn Nationalstaaten rekurrieren doch in der Regel auf eine sehr viel weiter zurückreichende Geschichte der politischen oder kulturellen Gemeinschaft, die sie trägt, als die EU es tut, mag diese Geschichte auch zum Teil plausible Konstruktion und nicht einfach reale Erfahrung sein.
Das EU-Projekt als radikale Überwindung von Staatlichkeit und ein möglicher Gegenentwurf
Allerdings könnte man auch der Ansicht sein, dass es dem Projekt EU in Wirklichkeit ohnehin nicht um die Schaffung eines neuen Staates, sondern um die Abschaffung von Staatlichkeit an sich geht. Eine politische Ordnung mit klaren Strukturen von Verantwortung und Autorität soll ersetzt werden durch eine unpolitische Verwaltungs- und Rechtsordnung, in der das, was Politik wirklich ausmacht – der offene Konflikt zwischen unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen – hinter dem Schleier einer scheinbar neutralen Technokratenherrschaft einerseits und sorgfältig konstruierten Konsensfassaden andererseits bei weitest gehender Intransparenz der wichtigsten Entscheidungsprozesse verschwindet. Politik im engeren Sinne des Wortes findet gar nicht mehr statt, weil das die offene Austragung von Konflikten voraussetzen würde, und Bürger gibt es auch nicht mehr, denn Bürger kann man nur in einem Gemeinwesen sein, das klare Grenzen hat und in dem Fremde daher auch weniger Rechte haben, als die, die dieses Gemeinwesen als Staatsbürger in der Vergangenheit getragen haben und in der Gegenwart immer noch tragen.
Auf diesen inneren Widerspruch des gesamten europäischen Projektes hat vor einigen Jahren schon der französische Philosoph Pierre Manent hingewiesen (Pierre Manent, A World beyond Politics? A Defense of the Nation State, Princeton 2006, S. 62-63 (die französische Originalausgabe erschien 2001). Er sieht die EU sich eher in Richtung auf eine Zukunft hin entwickeln, in der sich Europa vor allem als Wirtschafts- und Verwaltungsraum begreift, in dem das Individuum wirtschaftliches und moralisches Subjekt ist, aber eigentlich kein Bürger mehr.
Man hat den Eindruck, dass auch der europäische Traum von Aleida Assmann auf ein solches Ziel ausgerichtet ist, denn als Aufgabe der EU betrachtet sie es in zentraler Weise, die Macht der Nationalstaaten zu begrenzen und an ihrer Stelle global geltende Menschenrechte im Namen eines universalen „Weltethos“ (S. 64- 68) durchzusetzen, so wie es aus ihrer Sicht in der Flüchtlingskrise der Jahre 2015-2017 geschah. Was bei solchen Überlegungen ganz wegfällt, ist ein Nachdenken darüber, dass Europa sich heute vor allem durch Eines vom Rest der Welt unterscheidet:
Durch ein Ausmaß sozialer Absicherung für den Einzelnen, wie es sonst auch in der übrigen westlichen oder verwestlichten Welt, man denke an die USA, kaum anzutreffen ist, vom Rest des Globus ganz zu schweigen. Namentlich die eigentlichen Kernstaaten der alten EU, Deutschland, Frankreich, und die Benelux-Staaten, aber auch Skandinavien und Österreich geben gemessen an ihrem Sozialprodukt sehr viel mehr für den Wohlfahrtsstaat aus als die meisten anderen Staaten in der Welt. Dass ein solches Maß an sozialer Absicherung sich mit der umfassenden Öffnung der eigenen Grenzen für alle Mühsamen und Beladenen aus der ganzen Welt auf Dauer verträgt, ist eher unwahrscheinlich; der Sozialstaat wäre dann schon bald überfordert, was sich ja auch jetzt schon abzeichnet.
Aber ein so kleinliches Rechnen liegt der bedeutenden Literaturwissenschaftlerin fern. Ihr Traum vom Europa ist eben am Ende ein unpolitischer. Sie wünscht sich, so mag es zumindest scheinen, eine Welt, in der eine eigentlich private Moral auch in der Politik allein die Maßstäbe setzt. In dieser Hinsicht hat sie ein sehr deutsches Manifest verfasst. Die Deutschen konnten mit der Idee Staatsbürger in einer freien Res Publica noch nie sehr viel anfangen. Eher wollten sie wahlweise unpolitische Kosmopoliten und Weltbürger oder aber loyale Untertanen sein, die sich von aufgeklärten Beamten oder wohlwollenden, väterlichen Herrschern (oder wie heute, mütterlichen Herrscherinnen) ohne Widerspruch lenken ließen. Wo wäre es leichter, beides zugleich zu sein, Kosmopolit und Untertan, als in jener EU, von der Aleida Assmann in ihrem Buch träumt? Ob freilich unsere europäischen Nachbarn in Ost und West die Idee des Staatsbürgers genauso rasch aufgeben werden wie wir, das könnte man wohl bezweifeln. Die Briten haben sich jedenfalls fürs Erste dagegen entschieden.
Wenn Europa überhaupt ein Minimum an Zusammenhalt bewahren will – und dass dieser Zusammenhalt heute auch wegen der erheblichen politischen Fehler, für die die EU leider verantwortlich ist, gefährdet ist, ist unbestritten – , dann wird das im exklusiven Rahmen jener Erinnerungskultur, die für Assmann fast allein im Zentrum ihres europäischen Traumes steht, kaum gelingen. Wie der schon erwähnte französische Philosoph Pierre Manent zurecht insistiert, müssen die Europäer sich vielmehr auf ihre eigenen Traditionen zurückbesinnen, statt alles der vollständig freien Bewegung von Kapital, Waren und Menschen unterzuordnen, sie müssen bereit sein, Grenzen zwischen sich und dem Rest der Welt zu ziehen, was keineswegs mit einer vollständigen Abschottung verbunden sein muss (Pierre Manent, Beyond Radical Secularism: How France and the Christian West Should Respond to the Islamic Challenge, South Bend, Ind. 2016.)
Nicht jeder wird sich freilich auf die geistige Tradition stützen können oder wollen, die Manents Vision von Europa prägt, denn es ist weitgehend diejenige des Römischen Katholizismus, dem er die Fähigkeit zuschreibt, im Dialog mit den Verteidigern rein weltlich begründeter individueller Menschenrechte, aber auch mit dem Islam und dem Judentum gegensätzliche Positionen in die eigene Sicht der Welt integrieren zu können. Man wird ihm aber immerhin zugute halten müssen, dass ihm solidere Bausteine für seine Deutung der Geschichte zur Verfügung stehen als einem Geschichtsbild, das Europa ganz primär, ja fast ausschließlich durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts und das Bekenntnis zu Frieden, zu Demokratie und zu universalen Grundrechten definiert sieht, so großartig dies alles auch klingen mag.