Wem sagte der Name Herbert Belter etwas? Oder Werner Ihmels? Diejenigen, die am Montagabend zur Vorstellung des neuen Buchs von TE-Autor Klaus-Rüdiger Mai „Der kurze Sommer der Freiheit“ in die sachsen-anhaltische Landesvertretung kamen, erfuhren etwas über diese Männer, für die es bis heute keine angemessene Erinnerung gibt. Eingeladen hatte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff (CDU) – den gebürtigen Wittenberger verbindet mit Mai, geboren in Staßfurt, nicht nur generell das staatsferne Leben in der DDR, sondern auch die regionale Herkunft.
An dem Abend ging es, natürlich, um Klaus-Rüdiger Mais Buch, die Erinnerungen an die Zeit vor 1989, aber auch um die großen weißen Flecken in der heutigen Gedenkpolitik. „Der kurze Sommer der Freiheit“ beschreibt die wenigen Jahre in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR zwischen 1945 und 1953, dem Jahr, als die sowjetischen Truppen zusammen mit den SED-Sicherheitskräften vor 70 Jahren den Aufstand der Bürger mit Waffengewalt niederschlugen.
Nein, die reelle Chance, auf eine freie Gesellschaft, das stellte der Autor in seinem Buch und auch auf dem Podium in Berlin fest, gab es in der östlichen Zone von Anfang an nicht. Bekanntlich traf die Gruppe Ulbricht schon vor dem 8. Mai 1945 auf deutschen Boden mit der Instruktion ein, unter und neben der sowjetischen Besatzungsmacht ein Regime Moskauer Prägung zu errichten. Wie das zu geschehen hatte, schärfte der spätere SED-Generalsekretär seinen Genossen mit den legendären Worten ein: „Es muss demokratisch aussehen – aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Eben deshalb, sagt Mai, habe es nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus auch in der künftigen DDR anfangs durchaus die Hoffnung auf ein eine demokratische Normalisierung gegeben. Es sah ganz am Anfang zumindest noch nicht offen diktatorisch aus. Immerhin gab es noch die Möglichkeit, nach Westberlin zu fahren, es fanden auch halbwegs freie Wahlen statt. Bis 1946 existierte eine zwar bedrängte, aber noch unabhängige SPD auch im Osten. Haseloff erinnerte daran, dass Sachsen-Anhalt damals als einziges Ostzonenland keine Regierung unter Führung der SED, sondern für kurze Zeit eine bürgerliche CDU-LDP-Koalition bekam. Viele konnten oder wollten sich in dieser Übergangszeit nicht vorstellen, dass auf eine Diktatur die nächste folgen sollte.
Herbert Belter, Jahrgang 1929, glaubte an die Möglichkeit, als Student an der Universität Leipzig mit Gleichgesinnten das Abgleiten der DDR in die autoritäre Ordnung noch aufhalten zu können – mit Mitteln, die im Rückblick anrührend und heroisch zugleich anmuten. Der junge Student, übrigens SED-Mitglied, lieferte drei Artikel über Ereignisse in Leipzig an den Rias. Außerdem holte er SED-kritische Flugschriften aus Westberlin ab. In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1950 verteilten Belter und sein Freund Helmut du Mênil in Leipzig Flugblätter. Deutsche Sicherheitskräfte verhafteten die beiden, dann auch andere junge Männer aus ihrem Umkreis, und überstellten die dem sowjetischen Sicherheitsapparat. Der machte aus dem Fall des Studenten die „Gruppe Belter“ (die es so stringent wahrscheinlich gar nicht gab).
Hinrichtungen, Tod im Zuchthaus, Deportation
Es handelte sich damals nicht um die ersten Verhaftungen an der Leipziger Universität. Werner Ihmels, ein junger Theologiestudent, geriet schon 1947 in die Fänge des Sicherheitsapparats, weil er offen gegen die beginnende Gleichschaltung in der SBZ und besonders an der Hochschule protestierte. Er hätte sich beinahe retten können – die politische Polizei nahm ihn auf dem Leipziger Hauptbahnhof, als er die Stadt verlassen wollte, um auf die Universität Tübingen zu wechseln. Ihmels starb mit 23 Jahren an Lungentuberkulose im „Gelben Elend“, dem Zuchthaus Bautzen.
Belter wusste, dass er viel riskierte. Aber er hielt es aber für einen Irrtum, als ihn das sowjetisches Militärtribunal wegen Spionage zum Tod durch Erschießen verurteilte. Der Spionagevorwurf war auch völlig absurd. Seine drei Berichte für den Rias bezogen sich auf öffentlich bekannte Vorgänge und Veranstaltungen. Dass er Flugblätter verteilte, passte schon gar nicht zu dieser Spionageanklage nach dem berüchtigten Paragraf 58 des sowjetischen Strafgesetzbuchs. In der Haft richtete er ein Gnadengesuch an den Vorsitzenden des Obersten Sowjet, in dem er bittet, seine Todes- in eine Haftstrafe umzuwandeln. Auch aus diesem Text, den Mai an diesem Abend vorliest, spricht der Unglaube des jungen Mannes, für diese Bagatellen tatsächlich sterben zu müssen. Er ahnte auch nicht, dass sein Todesurteil schon vor der Verhandlung feststand. Doch genau das passierte: Herbert Belter wurde 1951, gerade 21jährig, in Moskau erschossen. Es gebe Parallelen zwischen Sophie Scholl, meinte Mai (zu deren Leben der Autor auch gerade eine beeindruckende Studie vorgelegt hatte) – beide junge Studenten, beide nach einer Flugblatt-Verteilaktion in der Universität festgenommen, beide zu Tode verurteilt. „Nur“, so Mai: „Sophie Scholl wusste, was sie erwartete. Herbert Belter nicht.“ Auch das gehörte zu den Illusionen des kurzen Sommers einer Freiheitserwartung, die das Regime gnadenlos erstickte.
Es ging darum, ein Exempel zu statuieren. Andere verhaftete aus dem Kreis um Belter wie Helmut du Mênil wurden in das Arbeitslager Workuta deportiert.
Auch ihm, obwohl sehr geschichtsinteressiert, hätten die Namen dieser Studenten aus dem frühen demokratischen Widerstand der DDR bis zur Lektüre von Mais Buch nichts gesagt, so Haseloff. Er erzählte, dass er am Morgen ein Gymnasium in Jessen besucht hatte; die Schüler dort, so sein Eindruck, hätten generell bestenfalls ein sehr vages Wissen über die DDR. Vielleicht liegt in der Beschäftigung mit den Schicksalen von Belter, Ihmels und anderen, damals kaum älter als Gymnasiasten heute, eine Chance, den nach-DDR-Generationen einen realistischen Blick auf die zweite deutsche Diktatur zu öffnen, vorbei an Trabbimodell-Kitsch und Verklärung der niedrigen DDR-Mieten. Es gebe „große weiße Flecken“ in der kollektiven Erinnerung, sagte der sachsen-anhaltische Regierungschef. Ein Buch wie das von Mai seine eine Möglichkeit, die noch nicht einmal vergessenen, sondern bis heute kaum bekannt gewordenen Namen der Oppositionellen überhaupt erst ins Gedächtnis zu bringen, auch die Umbenennung von Straßen, idealerweise dann mit einem Erklärtext: „Aber das muss ein ein gesamtdeutsches Thema sein, von München bis nach Schleswig-Holstein, von der Oder bis an den Rhein.“
In Berlin gibt es zumindest den Versuch, öffentlich den 70.Jahrestag des Aufstandes in der DDR anders zu begehen als unter der rot-rot-grünen Koalition. Unter den Linden stehen große Tafeln historischer Fotos, die Demonstranten zeigen – und die auffahrenden Panzer.
Im Jahr 2020 hieß es in einem historischen Rückblick zum 17. Juni 1953 noch, sowjetische Truppen „greifen konsequent durch“. https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/das-berliner-abgeordnetenhaus-verschleiert-die-taeter-des-17-juni-1953/
Von getöteten Demonstranten war damals zwar die Rede – aber nicht davon, wer für ihren Tod verantwortlich war.
Ob die Politikerreden 2023 bei der Benennung von Tätern, Opfern und historischen Verhältnissen konkreter werden, wird sich in drei Tagen zeigen. Eine Herbert-Belter-Straße im Zentrum Berlin wäre der Beginn einer Erinnerungspolitik, die den Namen verdient.