Am 26. September 1988 erschien Salman Rushdies Roman „Die satanischen Verse“ im englischen Original. Bei einer Veranstaltung in der Chantanqua Institution, New York, stach der 24-jährige Hadi Matar am 22. August 2022 mehr als ein dutzend Mal auf Rushdie ein. Der Autor verlor dabei die Sehfähigkeit auf einem Auge, durch eine Nervenverletzung bleibt wahrscheinlich eine Hand gelähmt. Vierunddreißig Jahre liegen zwischen Buchpremiere und dem Attentat eines Muslim, der versuchte, das von Ruhollah Chomeini 1989 verkündete Todesurteil gegen Rushdie zu vollstrecken.
In diesen drei Jahrzehnten und vier Jahren stach ein anderer Vollstrecker auf den italienischen Übersetzer der „Satanischen Verse“ Ettore Capriolo in dessen Mailänder Wohnung ein (3. Juli 1991), ermordete ein anderer den japanischen Übersetzer Hitoshi Igarashi (11. Juli 1991, an der Universität Tsukuba erstochen); ein Mob im türkischen Sivas brannte das Hotel nieder, in dem sich Rushdies türkischer Übersetzer Aziz Nesin befand, 37 Menschen starben dabei, Nesin konnte entkommen (2. Juli 1993). Im Oktober 1993 verletzte ein muslimischer Attentäter den norwegischen Verleger William Nygaard schwer. Chomeinis Fatwa richtete sich nicht nur gegen Rushdie selbst, sondern gegen alle, die mit dem Buch in irgendeiner Verbindung standen und stehen, Verleger, Übersetzer, Händler. Und eigentlich auch seine Leser. Die Tatsache, dass der Roman in Großbritannien erschien, führte dort zu Demonstrationen, zu öffentlichen Verbrennungen des Buches (zum ersten Mal am 14. Januar 1989 in Bradford, genau einen Monat vor der Fatwa des iranischen Revolutionsführers) und zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Teheran und London durch den Iran.
Weltweit fanden sich sehr viele, die das Buch trotzdem verlegten, übersetzten, verkauften, kauften und lasen. Die meisten erklärten Feinde von Buch und Autor lasen es offenbar nicht. Nur so lässt sich erklären, warum sie einen drei Jahrzehnte langen Feldzug gegen einen fantastischen und über weite Strecken komödiantischen Roman über zwei indische Schauspieler führten, in dem es auch um Religion geht, allerdings als Nebenstrang, als gewitzte Überschreibung alter Texte, als waghalsige literarische Erfindung.
Eins sollten Leser allerdings vorher wissen: Wer nicht ein gewisses Maß an Koran- und Islamkenntnis mitbringt, dürfte den raffinierten Anspielungsapparat Rushdies mit seinen doppelten und dreifachen Böden kaum verstehen. Was im Übrigen gar nicht das eigentliche Lesevergnügen ruinieren würde; auch derjenige, der sich am Ende fragt, warum es um Himmels Willen gegen diesen Text, seinen Verfasser, Verleger und Übersetzer überhaupt eine Todesfatwa gibt, kann sich vorher in eine farbenprächtige Geschichte vertiefen, die teils in Bombay spielt, teils an Bord eines entführten Flugzeuges, teils in England, teils im Kopf des Helden Gibril, die von Liebe handelt, Verwandlung und Rache mit tödlichem Ausgang, erzählt in einer melodiösen Sprache, die von den ersten Seiten an einen Sog erzeugt und jeden mitreißt, der sich darauf einlässt.
Vermutlich glauben viele Religionseiferer (und nicht nur sie), Rushdie hätte so etwas wie satanische Verse geschrieben. Deshalb ein ganz kurzer Einschub, was es mit diesem titelgebenden Phänomen auf sich hat.
Bei den „satanischen Versen“ oder „satanischen Einflüsterungen“ handelt es sich um Verkündigungen, die Mohammed von Erzengel Gabriel in dem Glauben entgegennahm, sie kämen wie alles aus dessen Mund von Allah. Tatsächlich stammten sie von Satan, dem es für kurze Momente gelang, Gabriel zu verwirren, um mit seiner Hilfe falsche Zeilen in den Korantext zu bringen, beispielsweise eine Lobpreisung der drei vorislamischen, also heidnischen Gottheiten von Mekka. So jedenfalls die Überlieferung. In sehr frühen Biografien Mohammeds finden sich diese Verse, etwa in der Chronik der Propheten und Könige von Jarīr ibn Yazīd al-Ṭabarī (839–923). Falls sie tatsächlich in antike Koran-Ausgaben Eingang fanden, wurden sie längst aus dem Text entfernt. Aber ein großer Teil des islamischen Denkens von Klerus und Laien kreist bis heute um die Idee des unbezweifelbaren Wortes Gottes mit dem (abschließenden) Siegel des Propheten, dessen Reinheit ständig gegen Fälschungen, aber auch Abweichungen und Neuerungen verteidigt werden muss.
Die rituelle Steinigung des Satan an einer bestimmten Stelle bei der Hadsch in Mekka gehört in diesen Zusammenhang: Denn dort, an dieser Stelle lauert nach der Überzeugung von Millionen Muslimen der Scheitan in Person, um nach wie vor falsche Worte in die heilige Schrift zu schmuggeln. Durch den schottischen Orientalisten William Muir kam 1858 die Wendung „satanische Verse“ auch in die westliche Welt. Die diabolischen Webfehler gehören also sowohl zur Geschichte des Islam als auch zu seinem religiösen Überzeugungssystem.
Der eine, der früh verwaiste Ismail Najmuddin, dem seine Mutter den zusätzlichen Namen Gibril, also Gabriel gab, den er dann auch zu seinem Künstlernamen macht, stammt aus einer armen Familie und wäre wahrscheinlich wie sein Vater ewig ein Dabbawala geblieben, also ein Essenausträger, wenn nicht sein Ziehvater den gutaussehenden Knaben zum Vorsprechen in ein Bollywood-Studio geschickt hätte.
Dieser okkultistisch interessierte Ziehvater bringt ihn auch auf die Idee der Wiedergeburt, die dann noch eine große Rolle spielen soll. Von ihm stammt noch ein anderer romanbestimmender Gedanke (Rushdie streut seine Anspielungen in kleinen Bröckchen ein), nämlich der an Gott und Teufel. Mhatre, der Ziehvater, erzählt ihm, wie er einmal einen Flaschengeist befragte, ob es Gott gebe, und der Dschinn stumm blieb. „Na ja, okay, sagte ich, wenn du die Frage nicht beantworten willst, versuch ich’s doch mit der, und fragte ganz direkt: Gibt es einen Teufel? Daraufhin begann die Flasche – babrebap! – zu vibrieren, anfangs langsamlangsam, dann schneller-schnell, wie ein Wackelpudding, bis sie – ai-hai – vom Tisch sprang, in die Luft und – o ho! – in tausendundein Stück zerbrach, kaputt.“ War das nun ein Ja? Oder eine Ermahnung, die Frage nie wieder zu stellen? Der spekulative Gedanke, es gebe vielleicht keinen Gott, aber sehr wohl einen Teufel, dieser Geist schlüpft aus der Flasche, um durch den Roman zu spuken, was bedeutet, in verwandelter Form und an unerwarteten Stellen wieder aufzutauchen.
Als Bollywood-Star gelangt Gibril schnell zu Berühmtheit, er spielt in sogenannten theologischen Seifenopern Götter, den Elefantengott Ganesha, den Affenkönig Hanuman. Das Filmgeschäft verschafft ihm Reichtum und ein üppiges Liebesleben, in dem er die Verehrerinnen massenweise konsumiert, ohne sich sonderlich um deren Gefühle zu scheren. Bis ihn, den Schauspielergott, eine rätselhafte Krankheit befällt und fast tötet. Als er sie überlebt, stellt er fest, dass er nicht mehr an Allah glaubt. Er lässt sich in ein Luxushotel fahren und stopft sich am Büffet mit Schinken und Schweinswürsten voll. Als das Strafgericht ausbleibt, ist die Glaubensangelegenheit für ihn endgültig erledigt. Bei der Gelegenheit verliebt er sich zum ersten Mal im Leben, und zwar in eine englische Bergsteigerin, die ihm in diesem Hotel über den Weg läuft. Er besteigt das Flugzeug, eben das, was dann zum Ziel der Terroristen wird, um ihr zu folgen und sein altes Leben hinter sich zu lassen.
Nach ihrem Sturz verwandeln sich beide: Den neuerdings ungläubigen Gibril umgibt eine strahlende Aura, um ihn kümmert sich eine Witwe, die ihn buchstäblich unten aufliest. Selbst der hartnäckige Mundgeruch des Stars – eine Schauspielerin meint: „wenn Filme riechen könnten, würde er noch nicht einmal die Rolle des Aussätzigen kriegen“ – verflüchtigt sich. Vielmehr, er geht auf Saladin über, der sich obendrein auch durch plötzlich durchbrechende Hörner in ein ziegenbock- beziehungsweise scheitanähnliches Wesen verwandelt und – als Engländer mit Überidentifikationssyndrom– Ärger mit der Polizei und den Einwanderungsbehörden bekommt, die ihn für einen illegalen Migranten halten. Gibril, der ihn hätte retten können, schweigt, und verrät ihn damit.
Schon seit seiner Flugreise plagen ihn Träume, in denen er glaubt, tatsächlich Gabriel zu sein („Ich bin der verfluchte Erzengel, Gibril, persönlich, in Lebensgröße“). Den unwilligen Engel quälen Vision von der Urzeit des Islam, in der der Prophet Mahound heißt, in der Stadt Jahila (was so viel wie Unwissenheit vor dem Auftauchen des Islam heißt) seine wenigen Gefolgsleute um sich schart, und ihnen den Plan zu einem politischen Geschäft erklärt: er werde unter den eigentlich verbannten Götzen drei auswählen, die weiter verehrt werden dürften, dafür, so hatten es ihm andere angeboten, werde er einen Sitz im Rat von Jahila und damit weltliche Macht erhalten. Erzengel Gabriel bestätigt ihn angeblich genau darin – es sind die oben erwähnten apokryphen, satanischen Einflüsterungen.
Während Gibril, der das nicht will und sich sogar dagegen wehrt, den Wandel zu einer Prophetengestalt durchläuft, gewinnt der zum gehörnten Schaitan verhexte Saladin die Macht, Gedanken und Träume von Menschen zu beeinflussen.
Rushdies literarisch-märchenhafte Erzählung über den Islam setzt geschickt an genau den Stellen an, in denen Mohammed sich vor allem als gewiefter Politiker erweist, der in der Tat sehr oft Verkündigungen empfängt, die ihm wunderbar passen (unter anderem sogar in seinem häuslichen Ehestreit mit Haupt- und Nebenfrau um eine Untreue mit Maria der Koptin, den Gott einmal sehr kleinteilig und wohlgefällig für ihn löst. Wer etwas tiefer darin eindringen will, dem sei die Sure 66 – „at-Tahrim, das Verbieten“ – empfohlen).
Zweifellos erkannten einige Theologen die Schärfe und den Witz, den Rushdie in seinem Roman mehr versteckt, als dass er ihn seinem Leser unter die Nase reibt, sie erkannten jedenfalls die Gelegenheit, aus dem Buch eine Machtfrage zu machen. Das wurde sie. Und sie blieb es bis heute.
Rushdies „Satanische Verse“ ist mehr denn je ein Buch für die Gegenwart. Und gleichzeitig ein zeitloser Roman, einer der wenigen, der auch die nächsten Generationen von Liebhabern und Feinden dieses Romans überleben wird.
Salman Rushdie, Die satanischen Verse. Roman. Penguin, Hardcover mit Schutzumschlag, 720 Seiten, 28,00 €