Tichys Einblick
Der „Capitano“ ist 47 und kann warten

Ein aufschlussreiches Buch zu Matteo Salvini

Die deutsche Presse hat nach den jüngsten italienischen Regionalwahlen für Matteo Salvini schon mal das Sterbeglöckchen aus dem Schrank geholt. Doch es hieße, den Lega-Chef zu unterschätzen, wenn man meinte, man könne ihn jetzt abschreiben.

Politik und Presse in Deutschland sind irgendwie verrückt – ver-rückt im Sinne von „neben die Realität gerückt“. Eine Politik, die auf die Abschaffung Deutschlands durch Massenzuwanderung und Deindustrialisierung hinarbeitet, wird gelobt und kräftig befördert, Kritik daran findet kaum noch statt. Weil Politik und Medien aber doch ein wenig motzen wollen, sucht man sich andernorts die Objekte der Kritik. Es entbehrt zwar nicht eines gewissen Gähnfaktors, aber es sind immer die gleichen ausländischen Politiker, über die man Klischee über Klischee stülpt und die man meint, sich zur Brust nehmen zu müssen: Donald Trump, Boris Johnson, Viktor Orban, Sebastian Kurz, Andrzej Duda, Benjamin „Bibi“ Netanjahu – und seit geraumer Zeit den von Juni 2018 bis September 2019 amtierenden italienischen Innenminister, Lega-Chef und jetzigen Oppositionsführer Matteo Salvini.

Jetzt haben viele deutsche Journalisten nach den jüngsten italienischen Regionalwahlen für Matteo Salvini schon mal das Sterbeglöckchen aus dem Schrank geholt. Aber da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Gewiss, Salvini ist aktuell nicht als glänzender Sieger hervorgegangen, und es wird vorerst keine Neuwahlen geben. Aber es gibt ein Patt, und die Conte-Regierung ist alles andere als gestärkt.

Doch es hieße, Matteo Salvini maßlos zu unterschätzen, wenn man meinte, man könne ihn jetzt abschreiben. Was in diesem Mann an Polittalent, Erfahrung, Cleverness, auch Chuzpe steckt, hat TE-Autor Gioivanni Deriu in einem sehr lesenswerten Buch beschrieben.

Greifen wir Wichtiges heraus: Salvini, 1973 in Mailand geboren, ist und war schon alles Mögliche: Pizzabäcker, Kurier, Journalist, Mailänder Stadtrat, stolzer Lombarde, Kommunist, „Piazza-del-Popolo“-Volkstribun – oft mit „Tricolori“, Polit-Zocker, AC-Mailand-Fan, gustatorischer Genießer, Parteisekretär, Abgeordneter der Abgeordnetenkammer (Camera dei deputati), Senator, Mitglied des EU-Parlaments (2004 – 2006, 2009 – 2019), Europäer und zugleich leidenschaftlicher EU-Gegner, Erdogan-Gegner, Israel-Freund, Schmuddelkind für die Linke Presse innerhalb und außerhalb Italiens – und eben 15 Monate lang Innenminister und Stellvertretender Ministerpräsident Italiens.

Salvini ist mit allen rhetorischen, ja demagogischen Wassern gewaschen und ein durchaus wendiger Populist. Die „Lega“ wurde mit ihm zu einer Bewegung gegen die EU, den Euro, die Globalisierung, die „Seenotrettung”, das Schengen-Abkommen. Aktuell hat Salvini ein Ermittlungsverfahren wegen Freiheitsberaubung, illegaler Festnahme und Machtmissbrauch am Bein. Er hatte unmittelbar nach seinem Amtsantritt als Innenminister das Schiff „Aquarius“ mit über 600 Schiffbrüchigen nicht anlanden lassen. Im Februar 2020 wurde Salvinis Immunität aufgehoben, beginnen soll das Verfahren Anfang Oktober 2020. Ende Juli 2020 hob auch der italienische Senat Salvinis Immunität auf, um in einem weiteren Verfahren in Palermo Vorwürfe des Amtsmissbrauchs gegen ihn beurteilen zu lassen. Salvini hatte als Innenminister dem Schiff „Open Arms“ mit zahlreichen Flüchtlingen an Bord die Anlandung in Italien verweigert, obwohl sechs EU-Staaten zur Aufnahme der Flüchtlinge bereit gewesen wären. Vorübergehend, dann eingestellt, hatte er eine Verleumdungsklage der „Seenotretterin“ Carola Rackete am Hals.

Was all das für die Zukunft Matteo Salvinis, der Lega Nord und insgesamt Italiens bedeutet, ist derzeit kaum abzuschätzen. Wenn man das äußerst kenntnisreiche Buch „Reizfigur Salvini“ von TE-Autor Giovanni Deriu gelesen hat, neigt man zur Prognose: Salvini ist nicht kleinzukriegen. Der „Capitano“ ist ein Politiker zum Anfassen. Die Ergebnisse der soeben veranstalteten Regionalwahlen und auch Corona werden ihn kaum stoppen, auch wenn sein „Elezioni subito“ (Neuwahlen sofort!) erst mal auf die lange Bank geschoben ist.

Salvini, gerade erst 47 Jahre alt, kann warten. Die Krisen, die er vermutlich zu nutzen weiß, werden ihm in den Schoß fallen: Flüchtlingskrise, Asylbetrug, Finanzkrisen, Corona … Salvini wird es, wie es Donald Trump 2016 mit „America first“ gelang, wohl wieder schaffen, die italienischen Wähler zu mobilisieren – mit „Prima gli Italiani“. Er beherrscht, wie Giovanni Deriu schreibt, „Sprache und Emotionen“, metaphernreich und für jeden verständlich; er bedient sich dieses seines Talents bürgernah und authentisch, gerade auch weil er die „Pawlow’schen Reflexe der Journalisten und der Medien“ kennt. Jedenfalls, so Giovanni Deriu, wäre ohne eine vorwiegend linksliberale und sozialdemokratische Politik Salvinis Aufstieg nicht möglich gewesen.

Rekapitulieren wir in diesem Zusammenhang, wie es zu stets raschen Regierungswechseln in Italien kam und warum Leute wie Berlusconi oder Salvini die Geschicke eines der größten EU-Länder bestimmen konnten bzw. wohl auch weiter können. Es könnte zu tun haben mit dem Niedergang der Partei Democrazia Cristiana (DC) im Jahr 1993. Die DC hatte vom 1945 bis 1993 fast alle italienischen Regierungschefs gestellt. 1993 war sie an internen Missständen (Korruption) und politischer Profillosigkeit untergegangen. Die CDU/CSU Deutschlands sollte sich eine mögliche Parallele zu Herzen nehmen.

Giovanni Deriu, Reizfigur Salvini. Ruhland Verlag, 191 Seiten, 22,80 €


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