In einem Interview mit Gabor Steingarts Pioneer-Portal »über die Soziologie der Ampelkoalition und über den Umgang mit Impfgegnern« sagte der Soziologe Heinz Bude Anfang Dezember 2021 u.a. auch diesen Satz: »Klare Kante, klare Richtung: Impfgegner müssen fühlbar Nachteile haben. Und im Grunde, in gewisser Weise, kann man sich nicht länger mit denen beschäftigen. Das ist so. Die kann man nicht nach Madagaskar verfrachten.«
Zu diesem Zeitpunkt galt der von den Firmen BioNTech und Pfizer in Rekordzeit entwickelte Impfstoff als ein Allheilmittel gegen Corona. Er sollte Gesunde gegen das Virus immunisieren und bei Erkrankten für einen »milderen Verlauf« der Krankheit sorgen. Von möglichen Nebenwirkungen fantasierten nur »Impfgegner« und »Coronaleugner«. CSU-Generalsekretär Markus Blume meinte, »Impfen sollte zur patriotischen Selbstverständlichkeit werden«, der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gab auf Twitter bekannt, Impfen sei »ein patriotischer Akt«, wer sich gegen Corona impfen lasse, schütze nicht nur sich selbst, sondern »uns als Gesellschaft«.
Der »Präsident« des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, ein Radiologe im Ruhestand, klagte bei Anne Will über die »Tyrannei der Ungeimpften«. Blume, Spahn und Montgomery waren nicht die Einzigen, die der Volksgesundheit zuliebe gerne »kurzen Prozess« mit den Ungeimpften gemacht hätten. Sie gaben der allgemeinen Stimmung nur ihre Stimme. Insofern lag Budes Empfehlung, Impfgegner müssten »fühlbare Nachteile« haben, voll im Zeitgeist.
Nun, es gab schon einmal einen Plan, eine bestimmte Gattung von Volksschädlingen nach Madagaskar zu verfrachten. Schauen wir einfach bei Wikipedia nach:
Der sogenannte Madagaskarplan war eine vom nationalsozialistischen Regime Deutschlands zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kurzzeitig verfolgte Erwägung, vier Millionen europäische Juden auf die vor der Ostküste Afrikas gelegene Insel Madagaskar, damals eine französische Kolonie, zu deportieren. Der Referatsleiter für »Judenfragen« im Auswärtigen Amt, Franz Rademacher, wurde beauftragt, »einen Plan zur Umsetzung der Deportationen nach Madagaskar zu erarbeiten«. Anfang Juli 1940 legte Rademacher seinen Plan der Reichsregierung vor. Madagaskar sollte eine »jüdische Wohnstätte unter deutscher Oberhoheit« werden, ein »Großghetto« für Millionen von Juden aus ganz Europa. Die Kosten der »Zwangsumsiedlung« sollten »aus dem jüdischen Vermögen der jeweiligen Heimatländer« beglichen werden.
Der Plan scheiterte aufgrund von Konkurrenzdenken innerhalb der NS-Bürokratie. Hitler erklärte die Causa zur Chefsache und sprach ein Machtwort: Die Juden sollten »nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben werden«. Damit war die Option »Madagaskar« vom Tisch.
Aber eben nicht ganz, auf irgendeine vertrackte Art und Weise wirkt sie auch 80 Jahre später noch nach. Wie der Schatten einer Erinnerung, die sich in den Tiefen des Unterbewusstseins festgesetzt hat.
Wie kann so etwas passieren?
Diese Sätze wurden – so würde man es heute sagen – »antisemitisch gelesen«, als Beleg für Fassbinders eigenen versteckten Antisemitismus. Nur: Fassbinder war vieles, ein Antisemit war er nicht. Kein Judenhasser würde darüber reflektieren, wie »es« in ihm denkt.
Er wüsste nicht einmal, dass er ein »Es« hat, das mit dem »Ich« und dem »Über-Ich« asynchron agiert. Der Satz, den Fassbinder Hans von Gluck sagen lässt, ist die theatralisch aufbereitete Übersetzung einer Sottise – »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen« – des aus Wien stammenden israelischen Arztes und Privatgelehrten Zvi Rix – ein Geistesblitz, der in wenigen Worten das beschreibt, woran sich die Antisemitismusforscher erfolglos abarbeiten: den Judenhass wegen Auschwitz. Und für den sind vor allem die Angehörigen der denkenden Klassen anfällig. »Es« denkt in ihnen, so wie »es« in Günter Grass dachte, als er »mit letzter Tinte« den Satz zu Papier brachte, »die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden«.
Heinz Budes Sätzchen, man könne Impfgegner »nicht nach Madagaskar verfrachten«, ist dagegen ein harmloser Kalauer, zugleich aber auch eine Offenbarung, die man sich wie eine Trüffelpraline auf der Zunge zergehen lassen muss, um zu begreifen, was alles in ihr steckt.
Henryk M. Broder/Reinhard Mohr, Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampelrepublik. Europa Verlag, Klappenbroschur, 224 Seiten, 20,00 €.