Der britische Historiker Douglas Murray hat mit „Der Selbstmord Europas“ ein Buch veröffentlicht, das nicht nur auf gründlicher Analyse umfangreichen statistischen Materials sondern auch auf den Ergebnissen seiner ausgedehnten Forschungsreisen durch ganz Europa basiert. Es wurde in Großbritannien unmittelbar nach Erscheinen im März letzten Jahres zum Bestseller und ist soeben in deutscher Übersetzung erschienen. Für seine deutschen Leser hier sein exklusives Vorwort.
In meinem Buch „Der Selbstmord Europas“ geht es um Europa im Allgemeinen und um Deutschland im Besonderen. Die darin beschriebenen Ereignisse wurden von Deutschland angetrieben und können nur korrigiert werden, wenn sie von Deutschland vernünftig angegangen werden. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, sehe ich keinen Grund zum Optimismus, weder diesbezüglich noch sonst.
Natürlich weiß ich, dass nichts weniger willkommen ist, als wenn jemand aus einem anderen Land – aus Großbritannien vermutlich am wenigsten – den Deutschen sagt, was sie tun und lassen sollen. Aber dieses Buch will keine politischen Vorschläge geschweige denn Vorschriften machen oder den Menschen sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Es versucht vielmehr, die Lage zu beschreiben, in der wir uns befinden und zu der viele unglückliche und unaussprechliche Tatsachen gehören. Es stellt die große Frage: »Sind Sie sich sicher, dass Sie damit zufrieden sind?« Wenn es einen Grund für den Erfolg dieses Buches in Großbritannien gibt, dann ist es die Bereitschaft so vieler Menschen, die Fakten vollständig kennenzulernen und die Frage – wie schon vermutet – mit »nein« zu beantworten. Wenn aber die Antwort der Mehrheit »nein« ist, dann besteht die Notwendigkeit, die bisher eingeschlagene Richtung ernsthaft und schnell zu ändern, um die Katastrophen, vor denen in den letzten Kapiteln des Buches gewarnt wird, zu vermeiden.
Zurzeit ist eine Kurskorrektur in Deutschland unwahrscheinlich. Und wenn es einen guten Grund gibt, diese Vorhersage zu wagen, dann ist es die gravierende Einschränkung und Behinderung der öffentlichen Debatte. Schon sehr lange beobachte ich die in Europa hin und her wabernden Debatten über die Einwanderung und frage mich, wie zwei Einschätzungen miteinander vereinbar sein können. Ein Teil der Öffentlichkeit (wahrscheinlich die Mehrheit) beklagt, dass man über die Einwanderung nicht reden könne. Ein anderer (zweifellos kleinerer) Teil antwortet darauf: »Warum sagen Sie so etwas? Wir reden über nichts anderes mehr als über die Einwanderung.« Normalerweise würde man sagen, beide Erklärungen können nicht gleichzeitig wahr sein. Aber diesmal schon. Es ist wahr, dass wir viel Zeit damit verbringen, über die Einwanderung zu reden. Doch was nicht stattfindet, ist die Diskussion, die sich die Menschen wünschen.
Politiker aller Richtungen haben versucht, das Thema so zurechtzubiegen, dass es ihren eigenen politischen Ansichten dienlich ist und sie so gut wie möglich in ihren politischen Nachrufen wegkommen. Fakten kann man bis zu einem bestimmten Grad zurechtbiegen. Aber wenn sie in einem Maße bekannt werden, wie es in Deutschland zurzeit täglich passiert, dann können sie nicht mehr zurechtgebogen werden. In einigen Ländern wie Frankreich und Holland gibt es eine weitgefächerte und lebhafte Debatte. In anderen Ländern – und dazu gehört auch Großbritannien – ist die Diskussion furchtsam und fast nicht vorhanden. Deutschland scheint mir das Land zu sein, in dem diese Fragen am wenigsten diskutiert werden und in dem die Debatte am stärksten eingeschränkt und politisiert ist. Zum Teil ist das eine Spiegelung der Medien, die immer noch glauben, ihre Aufgabe sei es, zwischen der Öffentlichkeit und den Tatsachen zu vermitteln, statt die Tatsachen offenzulegen.
Aber selbst die treuesten Mainstream-Medien müssen immer noch in einem gewissen Maße über Tatsachen berichten. Denn sowohl in Deutschland als auch in allen anderen Ländern kann sich die Öffentlichkeit die Fakten auch so zusammenreimen. Sie findet sie in den Kurznachrichten der Zeitungen und erkennt die Geschichten, die früher ein Aufmacher gewesen wären und jetzt auch noch unaufhaltsam durchsickern. Die Bürger glauben nicht, dass die Notwendigkeit, während der Silvesterfeiern in Berlin einen Schutzraum für Frauen zu errichten, entstanden ist, weil die Frauenfeindlichkeit unter normalen Deutschen plötzlich zugenommen hat. Auch glauben sie nicht, dass das Anwachsen der sexuellen Gewalt und der Gesetzlosigkeit einfach so über Nacht geschehen ist. Sie sind sehr gut imstande, die Zusammenhänge zu erkennen. Wenn die Bürger die Nachrichten über die Zunahme von Gewalt im Jahr 2017 lesen, wissen sie genau, wie es geschehen konnte, auch wenn alle, deren Aufgabe wäre, sie zu informieren, ihr Bestes tun, um sie davon abzuhalten.
Natürlich gibt es noch Nachhutgefechte und Versuche, die Öffentlichkeit daran zu hindern, die offenkundigen Zusammenhänge zu erkennen. Immer noch kann man sich darauf verlassen, dass Experten, die von der Regierung unterstützt und gefördert werden, Gegenargumente und Falschmeldungen verbreiten. Es gibt sogar »Experten«, die behaupten, Deutschland sei heute sicherer denn jemals zuvor. Das sind die gleichen Leute, die vermutlich auch davon überzeugt sind, dass die Migration niemals für Probleme verantwortlich, sondern vielmehr die Lösung für alle Probleme sei. Ich gehe auf diese Auffassungen in den vorderen Kapiteln meines Buches ein. Seitdem die erste Ausgabe erschienen ist, habe ich allerdings eine Steigerung dieser Tendenz in Deutschland beobachtet, die sich kein Satiriker hätte ausdenken können, und zwar die Behauptung eines regierungstreuen Experten, dass das Problem der Gewalttätigkeit unter Migranten nur durch noch mehr Migration gelöst werden könne.
Auch wenn die Öffentlichkeit diese Behauptungen durchschaut, ist ihr nun ein neues Hindernis in den Weg gestellt worden: die immer schärfere Kontrolle der Meinungen und der Möglichkeit, sie auszudrücken. Das Netzdurchsetzungsgesetz (Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken), das unlängst in Kraft getreten ist, ist nur ein weiteres Instrument, die deutschen Bürger daran zu hindern zu sagen, was sie mit ihren eigenen Augen sehen. Aufwiegelung war bis dahin schon eine Straftat und wurde verfolgt, nun ist »Hassrede« zur Hauptlosung in einem Kampf geworden, der in Wahrheit um das Recht auf Redefreiheit geführt wird. Es geht nicht darum, dass die bestehenden Gesetze, die sich gegen Aufwiegelung richten, zu schwach wären. Jetzt wird auf Leute gezielt, die nichts anderes tun, als Ansichten zu äußern, die in scharfem Gegensatz zur gegenwärtigen Politik der deutschen Regierung stehen. Es ist eine der finstersten Entwicklungen der letzten Jahre, dass ein Zusammenschluss von Regierungsbehörden und privaten Firmen darüber entscheidet, was »Hassrede« ist. Dem kommt nur noch die – auch an Kinder – gerichtete Aufforderung gleich, Leute zu melden, die falsche Ansichten äußern.
Wollte man die dahinterstehenden Motive wohlwollend interpretieren, könnte man sagen, dass die Regierung und die mit ihr zusammenarbeitenden privaten Internetunternehmen in vorderster Front gegen eine nativistische Gegenreaktion auf die Politik der deutschen Regierung kämpfen. Tatsächlich ist der Versuch, legitimen Dissens für illegal zu erklären, der sicherste Weg, um eine solche Gegenreaktion hervorzurufen. Wenn jene, die so agieren, tatsächlich die Wiederkehr von Vergangenem verhindern wollen, dann haben sie die denkbar dümmste Vorstellung von der Vergangenheit. Wer wirklich glaubt, die Probleme der Weimarer Republik seien dadurch entstanden, dass man damals keine Gesetze gegen »Hassrede« hatte, der weiß nichts über die Weimarer Republik.
Natürlich schickten die deutschen Wähler 2017 eine eindeutige Botschaft an die Kanzlerin, die die Entgleisung und den Zusammenbruch der europäischen Einwanderungspolitik zu verantworten hat. Die Unzufriedenheit war unübersehbar, trotzdem gab es kaum Zeichen dafür, dass sie registriert worden wäre. Vielleicht hat Angela Merkel inzwischen eingesehen, dass sie einen Fehler gemacht hat. Vielleicht besteht sie deshalb darauf, die Grenzen weiterhin offen zu halten und die »Familienzusammenführung« fortzusetzen, weil man einen Fehler dieses Ausmaßes nicht zugeben kann. Doch es war nicht nur ihr Fehler. Es war ein Fehler der ganzen politischen Klasse, die sich geweigert hat, die Konsequenzen ihrer kurzfristigen Aktionen zu überdenken. Es war ein Fehler der Medien, die sich einbildeten, ihre Aufgabe sei es zu belehren, statt zu informieren. Und es war ein Fehler des ganzen Kontinents, der nun, entweder in einem Anfall von Pflichtvergessenheit oder Geistesabwesenheit, zu einer neuen Identität gelangte.
Die Wahlen 2017 in Deutschland zeigten – wie auch in Österreich – noch etwas anderes: nämlich wie man die Fehler einer ganzen Generation wieder beheben kann. In beiden Ländern gibt es jeweils eine Partei, die Antworten auf die Sorgen der mit Merkels Politik unzufriedenen Bürger sucht. In beiden Ländern werden sie als »Populisten«, »Fanatiker«, manchmal sogar als »Faschisten« und »Nazis« bezeichnet. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, wohin sich diese Parteien entwickeln werden. Vielleicht werden einige unter ihnen ihre schärfsten Kritiker bestätigen. Oder sie werden diesen Weg nicht gehen, und es wird die Zeit kommen, in der erkannt wird, dass man sich Sorgen um die Zukunft des eigenen Landes machen kann, ohne ein »Faschist« zu sein. Aber es kann auch schiefgehen. Ein Urteil ist an der gegenwärtigen Wegkreuzung nicht möglich. Wir müssen die Reaktionen auf die von Kanzlerin Merkel über unseren Kontinent gebrachte Realität im Auge behalten. Wenn wir diesen Prozess steuern wollen, müssen wir – unter anderem – unsere Warnungen »trocken halten« wie einst das Schießpulver und nicht zulassen, dass sie durch übermäßigen Gebrauch unwirksam werden. Wir müssen die Erklärungen und Aktionen dieser neuen Parteien sorgfältig prüfen, sie fair und genau beurteilen und mit ihnen wie mit jeder anderen Partei umgehen statt in der Art eines Scharfrichters, der sich schon für die Hinrichtung entschieden hat, bevor er auch nur einen Beweis gesehen hätte.
Vor allem müssen die Mainstream-Parteien des Zentrums und ihre Anhänger die Sorgen und Herausforderungen aufgreifen, die in meinem Buch beschrieben werden. Sie sollten nicht nur auf sie reagieren, sondern sie ehrlich aufnehmen und sie ansprechen. Ich hoffe, sie werden es tun. Denn wenn aus dem Zentrum keine Antworten kommen, werden die Bürger zulassen, dass sie von anderswo kommen. Die Zukunft Deutschlands und ganz Europas hängt davon ab, ob der politische Mainstream ernsthaft auf diese Fragen antwortet. Ernsthaft und bald.
Douglas Murray
5. Februar 2018
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Das Interview mit Douglas Murray (Englisch) – sowie mit deutscher Übersetzung HIER