Tichys Einblick
»Willkommen in Europa«

So gut wie jeder, der in Lampedusa ankam, blieb in Italien

Was Douglas Murray auf Lampedusa zu Beginn der Flüchtlingskrise analysierte, klingt in der Rückschau nahezu prophetisch. Ist es aber nicht. Es hat in Politik und Medien nur der Mut gefehlt, zu benennen was ist. TE hat dieses bahnbrechende Werk nach Deutschland gebracht - niemand kann sagen, er habe es nicht gewusst.

Die Insel Lampedusa ist der südlichste Vorposten Italiens. Sie liegt näher zur Küste Nordafrikas als zu Sizilien. Die Fähre von Lampedusa nach Sizilien braucht neun Stunden. Auf Lampedusa fühlt man diese Abgeschiedenheit. Die trockenen Felsen von kaum mehr als acht Quadratkilometern erinnern mehr an die Landschaften Tunesiens oder Libyens als an die Italiens. Über Jahrhunderte war die ansonsten reizlose Insel ein nützlicher Vorposten im Mittelmeer. Der Besitz wechselte immer wieder, und ihre aufgezeichnete Geschichte handelt von abwechselnden Ent- und Neubevölkerungen. Überfälle von Piraten waren ein ständiges Problem, vor allem im 16. Jahrhundert, als Piraten aus der Türkei an die 1000 Inselbewohner gefangen nahmen und in die Sklaverei verschleppten. Im 18. Jahrhundert fand ein englischer Besucher nur einen einzigen Bewohner vor.

Die Fürsten von Lampedusa waren vernünftig genug, auf Sizilien zu bleiben, selbst nachdem die Regentin Maria Anna ihnen den Titel 1667 verliehen hatte. Aber sie ermutigten zur Besiedlung der Insel. Wenn heute der Name der Insel fällt, denkt man außer an ihr jetziges Elend noch am ehesten an den vorletzten Träger dieses Titels, an den Autor des Romans »Der Leopard« Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Auf der Insel erinnert heute nichts mehr an ihn, nichts, was auf seinen Namen verweisen würde. Die verfallende Großartigkeit seines sizilianischen Barock scheint unendlich weit weg zu sein von diesem staubigen Felsen und den einfachen niedrigen Häusern.

Zurzeit bewohnen die Insel, meist um den Hafen herum, etwa 5000 Menschen. Es gibt eine Hauptstraße mit Läden, die zum Hafen führt: die Via Roma. Dort hängen die Jugendlichen der Insel in Gruppen herum oder rasen zu zweit mit ihren Rollern durch die wenigen Straßen der Stadt. Alte Frauen sitzen auf den Bänken rund um den zentralen Platz vor der Kirche, ständig grüßen einander die Männer, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Das ist ein Ort, von dem jeder ambitionierte Jugendliche um jeden Preis flüchten würde. Und trotzdem riskieren täglich Tausende ihr Leben, um hierherzukommen.

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Natürlich sind seit vielen Jahren Menschen aus Nordafrika geflüchtet. Und wie der Friedhof der Insel beweist, endete die Flucht nicht erst in den letzten Jahren tödlich. Neben den Gräbern der Einheimischen sind einige jener Menschen zu finden, die Lampedusa zum Ziel hatten, aber dort nie ankamen. »Migrante non identificato. Qui riposa«, besagt einer der Grabsteine, errichtet von der lokalen Regierung. »29. Settembre 2000«.

Während der 2000er-Jahre kamen Boote voller Migranten regelmäßig auf Lampedusa an, und sie brachten nicht nur Menschen aus Nordafrika und Schwarzafrika hierher, sondern auch aus dem Nahen Osten und Fernost. Die Schleuser verlangten hohe Preise für die Bootsreise, aber die verzweifelten Menschen zahlten für die kurze Überfahrt. Da die Überfahrt selbst mit einem schlecht motorisierten Boot nur einen Tag dauert, galt sie schnell als eine der besten Routen in Richtung neues Leben. Wer einmal in Lampedusa ankam, war in Italien, und wer es dorthin geschafft hatte, war in Europa.

Es ist ein seltsamer erster Anblick des Kontinents. Wer die Küste erreicht, wird nicht vieles entdecken, was anders ist als der Ort, den er verlassen hat. Wer in den südlichen Hafen einläuft, sieht eine kleine Bucht, ein paar ruhige Geschäfte und Cafés, eröffnet für die italienischen Touristen, die früher hier Urlaub machten. Fischerei ist die Haupteinnahmequelle auf der Insel. Auf einer hohen Säule steht die Statue der Madonna mit dem Kind, die über die ein- und auslaufenden Schiffe wacht.

Während der 2000er-Jahre machten sich die lokalen Behörden zunehmend Sorgen über die hohe Zahl der Ankömmlinge und sahen sich gezwungen, ein Aufnahmezentrum zu eröffnen. Es war ursprünglich für 350 Menschen gedacht. Die Idee war, die Migranten schnell abzufertigen und dann mit Booten nach Sizilien oder auf das italienische Festland zu bringen, um dort ihre Asylanträge zu bearbeiten. Es hatte sich allerdings schnell gezeigt, dass das Zentrum nicht ausreichte, denn die Zahl der Ankömmlinge stieg immer weiter. Mit 500 Menschen war das Zentrum bereits überfüllt, aber während dieser Jahre hielten sich dort manchmal bis zu 2000 Menschen auf, und so quoll das Zentrum über, und eine Zeltstadt entstand. Es sammelte sich lokaler Unmut an und drohte zum Problem zu werden.

Obwohl Italien damals schon knapp bei Kasse war, musste es die ganze Zeit die finanzielle und menschliche Last des Prozesses fast ohne Hilfe tragen. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Regierung improvisierte. In dem Jahrzehnt, das das letzte unter der Herrschaft des Obersten Gaddafi in Libyen werden sollte, schlossen die Italiener ein geheimes Abkommen mit seinem Regime: Alle Afrikaner, die nicht das Recht hatten, in Italien zu bleiben, wurden deportiert. Als Details dieses Abkommens bekannt wurden, kam in allen europäischen Ländern Kritik auf. Aber die gehörte nur zu den üblichen Bedenken und Kompromissen, mit denen bald alle in Europa Bekanntschaft machen sollten. Auch was darauf folgte, dürfte alsbald allen bekannt vorgekommen sein: So gut wie jeder, der in Lampedusa ankam, blieb in Italien.

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Selbst jene, deren Asylantrag bearbeitet und abgelehnt, deren Einsprüche ebenfalls abgelehnt und deren Abschiebung angeordnet wurde, blieben trotzdem. Es kamen zu viele, und die zusätzlichen Kosten für die oft erzwungene Abschiebung waren zu hoch. Ab einem bestimmten Zeitpunkt, ob mit offizieller Zustimmung oder als Teil einer inoffiziellen Anerkennung des Unvermeidlichen, erschien die Rückführung der Menschen nicht nur finanziell, sondern auch diplomatisch als zu teuer. Es war einfacher zuzulassen, dass sie sich im Land zerstreuten oder nach Europa weiterbewegten, wenn sie es konnten, und wenn nicht, dann in Italien blieben und dort versuchten, ihr Überleben zu sichern. Manche fanden den Weg in die Staatsbürgerschaft. Die meisten fanden Zugang in die schwarze Ökonomie des Landes und arbeiteten häufig für Löhne, die nicht viel höher waren als in ihren Heimatländern, und oft auch für Banden aus der Heimat, die ihre Netzwerke in Europa ausbauten.

Während man im restlichen Italien hoffte, dass die Größe des Landes ausreichte, um das Problem zu verwässern, quoll das Aufnahmelager direkt hinter dem Zentrum des Hafens in Lampedusa regelmäßig über und verlangte nach Antworten. Immer mal wieder wurde die Lage gefährlich, kam es zu Kämpfen und Aufständen unter den Lagerinsassen, meistens angefeuert durch Konflikte unter den Ethnien.

Das Lager sollte ein Auffangzentrum sein, aber die Migranten fingen an, sich in der Stadt herumzutreiben, und wenn der Haupteingang bewacht wurde, riss man eben Löcher in den Zaun weiter hinten und verließ das Lager auf diesem Wege. Das Zentrum war schließlich kein Gefängnis und die Migranten keine Häftlinge. Die Frage nach ihrem wirklichen Status wurde durch Improvisation umgangen, und die Migranten wussten meist sehr genau, welche Rechte sie hatten und was die italienischen Behörden tun durften und was nicht.

Es war nur natürlich, dass die Einheimischen, die außerordentlich mitfühlend und verständnisvoll mit den Neuankömmlingen waren, hin und wieder durch die hohe Zahl nervös wurden, manchmal überstieg die Zahl der Flüchtlinge sogar die der Gesamteinwohnerschaft. Obwohl die Ladenbesitzer ihren begrenzten Warenbestand an die Neuankömmlinge verkauften oder sie sogar beschenkten, war klar, dass die Abfertigung schneller gehen musste. Insbesondere mussten die Migranten schneller nach Sizilien und auf das übrige Festland gebracht werden. Das war Lampedusa während des relativen »Rinnsals« während der 2000er-Jahre.

Von 2011 an, nach den Ereignissen, die als »Arabischer Frühling« bekannt wurden, schwoll das Rinnsal zu einer Flut an. Zum Teil flohen die Menschen wegen der Regierungswechsel und der Unruhen. Außerdem brachen die fragwürdigen Übereinkünfte mit den alten Diktatoren zusammen, die bis dahin die Tätigkeit der Schleuserbanden etwas eingedämmt hatten. Von 2011 an kamen täglich, Tag und Nacht, Tausende Menschen auf Lampedusa an.

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Sie kamen auf klapprigen Holzbooten, alten Fischerbooten aus Nordafrika, die von den Schleusern gekauft (oder gestohlen) wurden. Die ließen ihre Kunden den »Fahrpreis« bezahlen, auch wenn das Schiff seeuntauglich war. Bald wurde es zum Problem, was man mit all den Schiffen auf Lampedusa anfangen soll. Da man keine weitere Verwendung für die Wracks fand, wurden sie in großen Haufen im Hafen und an anderen Orten auf der Insel aufgetürmt – es entstanden riesige Friedhöfe der erbärmlichen Boote. Hin und wieder, wenn die Haufen zu groß wurden, fackelte man sie ab.

Das erste Jahr des »Arabischen Frühlings« war eine besonders schlimme Zeit für die Insel. Wurden 500 Menschen aufs Festland verschifft, kamen 1000 neue an. Ab 2011 platzte das Aufnahmezentrum immer wieder mit bis zu 2000 Menschen aus allen Nähten. Und natürlich kamen nicht alle an, die die Überfahrt in den von den Schleusern bereitgestellten, immer heruntergekommeneren Booten gewagt hatten. Auf der Insel wiesen die Behörden neue Begräbnisstätten für die Toten aus. Manche konnten identifiziert werden, andere wurden mit einem Kreuz und einer Identitätsnummer beerdigt, die dem Toten nach der Ankunft auf der Insel gegeben worden war. »Wo sind die anderen Toten?«, fragte ich einen Einheimischen. »Das Meer hat sie«, war die Antwort.

Von Beginn des syrischen Bürgerkrieges an waren viele der Ankömmlinge Syrer, unter ihnen wohlhabendere Mitglieder der Mittelklassen. Eines Tages kam eine Jacht mit gut gekleideten Syrern an Bord, sie wurden abgefertigt wie alle anderen auch. Nach 2011 kamen eher Ärmere, und ihre Zahl nahm allmählich ab.

Jene, die ankamen, berichteten über eine Route über Ägypten, die unter anderem durch ein umfangreiches Tunnelsystem führte, in dem die Kinder Sauerstoffmasken tragen mussten. Die einzelnen ethnischen Gruppen kamen auf unterschiedlichen Routen, und jede Gruppe hatte andere Erwartungen und Wünsche. Die meisten wollten in Italien bleiben. Nur die Eritreer lehnten das ab, vielleicht weil sie sich an ihre früheren Kolonialherren erinnerten. Sie waren die Einzigen, die den Wunsch äußerten, weiter in den Norden Europas zu reisen.

Etwa 80 Prozent der Ankommenden waren junge Männer, unter ihnen auch Kinder und unbegleitete Minderjährige, die den Behörden die meisten Sorgen machten. Alleinstehende Kinder aus Nigeria wurden häufig verschickt, um in Europa zur Handelsware zu werden. Es kamen auch einige Frauen, denen man Arbeit versprochen hatte. Erst nachdem sie den Kontakt ihres Schleusers in Italien getroffen hatten, der ihnen Geld lieh und dessen Schuldner sie nunmehr waren, begriffen sie, dass der »Job«, den man ihnen versprochen hatte, Prostitution war. Muslimische Frauen und Mädchen machen sich allerdings nur selten allein auf den Weg, die meisten wissen, wie gefährlich die Reise für sie ist.


Erster Teil eines Auszugs aus:
Douglas Murray, Der Selbstmord Europas. Immigration. Identität. Islam. Edition Tichys Einblick, FBV, Hardcover mit Schutzumschlag, 386 Seiten, 24,99 €.


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