In Deutschland ist endlich die über Jahre hin von der politisch-medialen Klasse unterdrückte Debatte über Charakter und Folgen der Einwanderung entbrannt: Merkel gegen Seehofer, Grünbein gegen Tellkamp, die („links“-)liberalen Einheitsmedien gegen die als „rechts“ diffamierten Nachdenklichen und Nonkonformisten im Lande. „Gehört der Islam zu Deutschland?“ – die Frage ist so müßig wie dringlich. Die Existenz einer nach Millionen zählenden, kontinuierlich – durch unverminderte Immigration sowie exorbitante Geburtenzahlen – wachsenden Minderheit aus diversen islamischen Weltregionen ist schwerlich zu negieren. Das abgegriffene Schlagwort „Integration“ berührt dabei indes nur die Oberfläche der eigentlichen Thematik. Hinter dem Begriff „Migration“ („Zuwanderung“) erheben sich die Fragen nach der Vereinbarkeit grundverschiedener Kulturtraditionen in einer res publica, nach dem Verhältnis von freiheitlicher Demokratie und Islam, von voraufklärerischer Religion und Säkularismus. Es geht um die kulturellen Ressourcen des Alten Kontinents angesichts der vermeintlich zu „integrierenden“ Migranten aus dem Morgenland. Es geht um die deutsche und europäische Zukunft.
Die Antwort auf derlei bedrängende Fragen geben der Titel sowie der erste Satz des soeben auf deutsch (in der Edition Tichys Einblick) erschienenen Buches von Douglas Murray: „Der Selbstmord Europas.“ Schwache Hoffnung klingt sodann in den Folgesätzen auf, wo der Autor fragt, ob die europäischen Bürger tatsächlich bereit sind, ihren Führern auf dem Weg dahin zu folgen.
In Großbritannien (UK) stand das Buch nach Erscheinen Anfang Mai 2017 monatelang auf den Bestsellerlisten. Zyniker mögen bemerken, das Buch verdanke seinen Erfolg vornehmlich der Vielzahl von Anschlägen, Morden und Gewalttaten, die sich allein anno 2017 in England und anderswo ereigneten. In seinem der deutschen Ausgabe beigefügten Nachwort zählt der Autor die vielen Schreckenstaten – allesamt mit „migrantischem Hintergrund“ und akzentuiert von „Allahu-akbar“-Geschrei – auf. Man könnte noch die nach Erscheinen der deutschen Übersetzung aufgedeckte, jahrelang nördlich von London von mehrheitlich pakistanischen Einwanderern mit „weißen“ Mädchen aus proletarischem Milieu betriebene Sexsklaverei zitieren. In jenen ersten Kapiteln, die sich mit den englischen Zuständen befassen, erinnert er an frühere Fälle, darunter die von 2004 bis 2012 im vermeintlich bürgerlichen Oxfordshire praktizierte Zwangsprostitution mit Minderjährigen. Danach sprach man in den Medien von „asiatischen“ Banden statt von neun muslimischen Pakistanis.
Die Phänomene kulturell-sozialer Desintegration – die Herausbildung von Parallelgesellschaften, statistisch nicht zu kaschierende Kriminalitätsraten, der Rückzug der einheimischen Bevölkerung aus den „Problembezirken“ – sind in ganz Westeuropa zu beobachten – zugespitzt in dem sich lange seiner „Weltoffenheit“ rühmenden Schweden. Die Abwehr von Kritik an der Einwanderung geschieht mit bekannten Klischees wie „bereichernde Vielfalt“, „Islamophobie“ sowie mit den Allzweckwaffen „Rassismus“ oder – so 2002 der damalige britische Innenminister (Home Secretary) David Blunkett – „als an Faschismus grenzend“. Den Regierenden geht es, unbeeindruckt von der sozialen Wirklichkeit, um nichts anderes, als die sich in „populistischen“ Protestbewegungen und -parteien formierende „Gegenreaktion im Zaum zu halten“ (Kapitel 15).
Höchst aufschlussreich sind des Autors Erfahrungen in Deutschland. Während der „Flüchtlingskrise“ erklärte ihm in Berlin ein Gesprächspartner (ein „Intellektueller“) dass alle Deutschen Antisemiten seien und schon aus diesem Grund verdienten, als Volk ersetzt zu werden – ein offenes Bekenntnis zu der in den herrschenden „Diskursen“ stets als Fiktion abgewiesenen Vorstellung vom „großen Austausch“. Der Mann „dachte nicht einmal daran, dass einigen der Menschen, die ins Land gebracht wurden, die Deutschen des frühen (sic!) 20. Jahrhunderts … womöglich als leuchtende Vorbilder erscheinen lassen könnten.“ Murray hätte hinzufügen können, dass der Mann mit derlei Projektionen mutmaßlich seine höchsteigenen Sentiments enthüllte. Aus Politikermund hörte er folgendes Argument: zum einen seien offene Grenzen für Migranten eine moralische Verpflichtung, zum anderen habe der Zustrom inzwischen von selbst nachgelassen. Mit derlei Logik vermochte der betreffende Bundestagsabgeordnete seine humanitäre Grundhaltung bekräftigen und zugleich ausblenden, dass der Zustrom allein durch Merkels „Deal“ mit dem türkischen Präsidenten Erdogan gedrosselt wurde. Ein Bundesminister eröffnete Murray bezüglich der unter menschenrechtlicher Fahne inszenierten blutigen Interventionen im Irak, in Afghanistan und Libyen, es gebe „Werte“, für die sein Land eines Tages nicht nur zu kämpfen und zu sterben, sondern zu töten habe. Ob er ihn zitieren dürfe, fragte der Brite. Natürlich nicht, antwortete der wertebewusste Minister.
Dass hinter den „Werten“ sich der Horizont des europäischen Nihilismus auftut, dass hier die tiefere Ursache für die Selbstaufgabe Europas zu suchen ist, ist eine Erkenntnis, der sich insbesondere deutsche Intellektuelle verweigern. In den beiden Kapiteln, wo er über „Die Tyrannei der Schuld“ (Kap. 10) und die „Müdigkeit“ Europas (Kap. 13) schreibt, zielt Douglas Murray ins Zentrum der gesamten Migrationsproblematik. Wo eine Kultur ihre Substanz eingebüßt hat und sich über diesen Verlust mit Phrasen hinwegsetzt, hat sie die Fähigkeit zur Integration von Minderheiten, erst recht von zu Mehrheiten anwachsenden Minderheiten, verloren.
Die Reflexionen Murrays treffen den Nerv des zeitgenössischen Liberalismus. Es geht um das Dahinschwinden der jüdisch-christlichen – oder schlicht christlichen – Grundlagen der europäischen Kultur. Zu Recht vermerkt der Autor – er selbst versteht sich als christlicher Atheist –, dass der nachaufklärerische Liberalismus noch immer von „einer leichten Aura von Religion“ überhöht war. Im Gefolge materialistischer Radikalaufklärung, unter den Schlägen zeitgenössischer Atheisten wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens – er hätte auch den unlängst verstorbenenen Stephen Hawking nennen können – hat der Liberalismus seine letzte metaphysische Substanz eingebüßt. Als Surrogat zurück bleibt die „Tyrannei der Schuld“. Als Verstärker fungieren maßgeblich die ihrer eigenen Glaubenstradition entrückten protestantischen Kirchen. Christus erscheint nicht mehr als der Erlöser, sondern – so tut die schwedische Erzbischöfin Antje Jackelén kund – „Jesus war selbst ein Flüchtling.“
Murray – er ist keineswegs ohne Mitgefühl für Not und Elend in den von ihm aufgesuchten Flüchtlingscamps – zerlegt die Lebenslügen der linksliberalen Intelligentsia. Dazu gehört die Rede von den Segnungen der Multikultur sowie das Argument von der Schuld des „weißen Mannes“ – zuletzt vom Redenschreiber der Bundeskanzlerin Merkel für ihre Rede auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos in den Mund gelegt.
Zu den tiefgründigsten Passagen des Buches gehören Murrays Überlegungen zur Rolle der deutschen Kultur- und Denktraditionen im Prozess der geistigen Selbstzerstörung Europas. Maßgeblich dank deutscher Philosophie gewann das aufgeklärte Europa einst sein ideelles Selbstbewusstsein. In ihrer spezifisch deutschen Tendenz, die Dinge „radikal“ zu Ende zu denken sowie, ins Absolute zielend, jeglicher Metaphysik zu entkleiden, zerstörten deutsche Denker die christlich-religiösen Wurzeln ihrer Kultur: von Hegel über Feuerbach zu Heidegger. Als einschlägiges Beispiel nennt der Autor den Göttinger Orientalisten Johann Gottfried Eichhorn, der anno 1825 mit radikal rationalistischer Bibelkritik die Glaubenszuversicht des jungen Engländers Edward Pusey – später eine Führungsfigur des hochkirchlichen Anglo-Katholizismus – erschütterte.
Übrig blieben die kunstreligiösen Phantasien Richard Wagners – und das europäische ennui, Synonym für Sinnverlust oder „Müdigkeit“ – eine Erkenntnis, die der „falsche Liberalismus“ (im englischen Original the fudge of liberalism) nicht wahrhaben will. Beim Flug über Deutschland überkommen den Autor die Bilder der deutschen – und europäischen – Selbstzerstörung im Nationalsozialismus. Mit derlei Überlegungen zielt der Autor in die kulturellen Tiefenschichten der Migrationsthematik.
Für jeden Kenner der deutschen Verhältnisse sei offenkundig, „dass das Land einem Desaster täglich näher rückt.“ Vielleicht schöpft der Autor gerade daraus noch einen Funken Hoffnung: „Wahrscheinlich wäre Deutschland das einzige Land in Europa, das den Kontinent aus der Stagnation führen könnte.“
Bei der linksliberalen Intelligentsia der postnationalen Bundesrepublik wird ein solcher Satz Entsetzen auslösen, ebenso bei Berufseuropäern wie Jean-Claude Juncker (Christdemokrat) und seinem Luxemburger Kollegen Jean Asselborn (Sozialdemokrat), die unentwegt die Notwendigkeit weiterer Einwanderung proklamieren. Nichtsdestoweniger gibt es Anzeichen einer Selbstbesinnung „in diesem unserem Lande“ (Angela Merkel), selbst unter deutschen Intellektuellen. Murrays aufrüttelndes Buch trifft auf eine Gesellschaft, die sich nicht mehr mit Hypermoral dirigieren und mit verharmlosenden Worten sedieren lässt. Ein Indiz ist dafür ist das vorliegende Buch. Die erste Auflage war nach wenigen Tagen ausverkauft. Dazu beigetragen hat die flüssig lesbare Übersetzung ins Deutsche durch Krisztina Koenen.