Tichys Einblick
Narren, Schwindler, Unruhestifter

Die Taschenspielertricks des Theodor W. Adorno

Adorno sagt nicht direkt, dass die »Alternative« zum kapitalistischen System und der Warenkultur Utopia sei. Doch das ist es, was er meint. Utopia jedoch ist keine echte Alternative. Und deshalb ist seine Alternative zur scheinbaren Freiheit der Konsumgesellschaft selbst eine Scheinalternative

Adorno nahm eine Idee von Lukács auf, als er das Konzept des »Warenfetischismus« zu einem Teil seiner umfassenden Kulturkritik machte. In einer kapitalistischen Ökonomie, meinte er, würden die Menschen nicht durch andere, sondern durch sich selbst versklavt, indem sie der Anziehungskraft der glitzernden Warenwelt um sich herum erliegen. Ihr »falsches Bewusstsein« verleite sie dazu, der immer gleichen Anziehungskraft nachzugeben, und so werde ihre wahre Freiheit durch die illusorischen Freiheiten der Konsumkultur verdrängt. Adorno hat das Ergebnis der Konsumkultur in Hollywood erlebt und war von ihr angewidert, nicht nur wegen ihrer Vulgarität, sondern auch wegen der entspannten Art, wie die Amerikaner den sie versklavenden Müll zu genießen schienen.

Die Massenkultur ist eine Ware, dessen Aufgabe es ist, den kritischen Geist zu neutralisieren und eine illusorische Akzeptanz einer illusorischen Welt zu erzeugen. Sie ist ein »ideologisches« Produkt im Marx’schen Sinne, ein Schleier, der über die gesellschaftliche Realität gelegt wurde, um an ihrer Stelle eine tröstliche Illusion zu erzeugen. Mit anderen Worten: Die Massenkultur ist ein Teil des falschen Bewusstseins von der kapitalistischen Gesellschaft, und Adorno wollte zeigen, wie sie den Weg zu den wahren Gefühlen umgeht und immer zu Klischees und einer routinierten Sentimentalität führt.

Adornos Hoffnung als Komponist und Musikwissenschaftler war, die kreative Logik der großen Meister, die mit der Realität gekämpft und den ihren Ideen entsprechenden Stil gefunden hatten und niemals vor der Qual des wahren musikalischen Arguments zurückgeschreckt waren, jenem Kitsch gegenüberzustellen, der den kürzesten Weg zum Trost sucht wie die populären Schlager, die sich am Ende zum Tonikaakkord heimschleppen. Der Kulturfetisch ist durch seine »standardisierte« Natur gekennzeichnet, durch die routinierte Präsentation vorverdauten Materials und die Ablehnung, seinen eigenen Status als Ware anzuerkennen.

Aus dem Maschinenraum des Nonsens
Konservativer Philosoph dekonstruiert die Lieblingstheorien der Linken
Adorno folgte dem Weg von Lukács, indem er die Theorie des Warenfetischismus mit der Theorie der Verdinglichung verband. Gemeint war die Art, wie Menschen ihre subjektive Freiheit verlieren, wenn sie sie für Objekte außerhalb ihres Selbst einsetzen. Lukács behauptete, dass Menschen verdinglicht würden, indem ihre Freiheit hinausströmt und zu Objekten gerinnt: Ihre Freiheit werde auf Objekte, die sie repräsentieren, transferiert und durch diese gefangengenommen. Institutionen, Gesetze, Beziehungen – sie alle sind der Verdinglichung ausgesetzt, die die Welt ihrer menschlichen Bedeutung beraubt, indem sie die freien zwischenmenschlichen Beziehungen durch mechanische Beziehungen zwischen Dingen ersetzt. Auch die Kunst ist verdinglicht, sie verkommt zu einer schmückenden Zugabe zur bourgeoisen Einrichtung, und so verliert sie ihre authentische Natur als Instrument der Kritik.

Aus der Zusammenführung der beiden Ideen des Warenfetischismus und der Verdinglichung folgt, dass in der kapitalistischen Kultur die freien Beziehungen zwischen Subjekten, auf denen unsere menschliche Erfüllung beruht, durch die alltägliche Beziehung zwischen Objekten überlagert und durch sie ersetzt werden. Das war der großartige Weg – der Weg der klassischen deutschen Philosophie –, um endlich zum Punkt zu kommen: In der kapitalistischen Massenkultur werden Subjekte zu Objekten und Objekte zu Subjekten! Kein Wunder, wenn Adorno glaubte, durch den Schleier der Massenkultur die darunterliegende Realität erblickt zu haben. Er übertrug den Jargon von Subjekt und Objekt auch auf den Bereich der klassischen Musik. Hier ein Beispiel, wie er ihn auf Bach anwendet:

»Bach, als der fortgeschrittenste Generalbassmeister, sagte zugleich, als altertümlicher Polyphoniker, der Tendenz der Zeit, die er selber ausprägte, den Gehorsam auf, um jener Tendenz zu ihrer eigenen Wahrheit zu verhelfen, der Emanzipation des Subjekts zur Objektivität in einem bruchlosen Ganzen, das in Subjektivität selber entspringt.
Es geht um die ungeschmälerte Koinzidenz der harmonisch-funktionellen und der kontrapunktischen Dimension bis in die subtilsten Bestimmungen der Struktur. Das längst Vergangene wird zum Träger der Utopie des musikalischen Subjekt-Objekts, der Anachronismus zum Boten der Zukunft.«

In dem Abschnitt macht Adorno eine alltägliche Feststellung – dass nämlich bei Bach die Logik des Kontrapunkts und der funktionalen Harmonie übereinstimmen, sodass keiner der beiden den anderen dominiert. Aber diese Beobachtung wird umgearbeitet, und nun beinhaltet sie, dass Bach irgendwie die »Utopie des musikalischen Subjekt-Objekts« verkündet. Diese Art Umarbeitung ist typisch für Adornos Taschenspielertricks. Der verwendete Jargon beschwört eine Schlussfolgerung, die Adorno nicht beweisen kann, nämlich dass Bach seine Bedeutung der Tatsache verdanke, dass seine Musik, trotz des antiquierten Stils auf der richtigen Seite der Geschichte stehe, nämlich auf der Seite, wo nach Utopia gesucht und wo – in objektiver Form – die echte Freiheit des Subjekts bewahrt werde.

Klassiker neu gelesen
Ohne Massenbewegung ist totale Herrschaft nicht möglich
Wieso waren Schriften der Art, wie ich sie zitiert habe, so einflussreich? Diese Frage bringt uns wieder zurück zum revolutionären Geist der 1960er und 1970er Jahre. Die Befürworter der »Befreiung« waren sich in den Tiefen ihrer Herzen durchaus der Wohltaten bewusst, die sie der Marktwirtschaft zu verdanken hatten. Sie gehörten einer Generation an, die Freiheit und Wohlstand in einem Maße genießen konnte, wie es jungen Menschen niemals vorher gegeben war. Die Ablehnung der kapitalistischen Ordnung im Namen der Freiheit schien ein wenig lächerlich, wo doch der Kontrast zur sowjetischen Alternative so offensichtlich war.

Um den neuen revolutionären Geist zu erwecken, brauchte man eine Theorie, die nachwies, dass die kapitalistische Freiheit eine Illusion war, eine Theorie, die die wahre, von der Konsumgesellschaft negierte Freiheit aufzeigte. Das war es, was Adorno, Horkheimer und Marcuse geliefert haben. Adornos Angriff auf die Massenkultur gehörte zur gleichen Bewegung wie Marcuses Anklage der »repressiven Toleranz«. Es war ein Versuch, die Lügen zu durchschauen. Die Theorien des Fetischismus, der Verdinglichung, der Entfremdung und der Unterdrückung, die um 1968 herum zirkulierten, hatten ein überragendes Ziel: die illusorische Natur der kapitalistischen Freiheit aufzuzeigen und die kritische Alternative hochzuhalten, eine Befreiung, die nicht zu einer anderen, finstereren Form des Staatskapitalismus führen würde, die, wie behauptet wurde, über Ost und West herrschte.

Indem sie die Kritik am amerikanischen Kapitalismus und dessen Kultur ständig verschärften, sich jedoch nur zurückhaltende und herablassende Hinweise auf den echten Albtraum der kommunistischen Herrschaft erlaubten, zeigten diese Denker ihre bodenlose Indifferenz dem menschlichen Leid gegenüber und ebenso die unseriöse Natur ihrer Empfehlungen. Adorno sagt nicht direkt, dass die »Alternative« zum kapitalistischen System und der Warenkultur Utopia sei. Doch das ist es, was er meint. Utopia jedoch ist keine echte Alternative. Und deshalb ist seine Alternative zur scheinbaren Freiheit der Konsumgesellschaft selbst eine Scheinalternative – eine bloße Idee, deren einzige Funktion ist, das Ausmaß unserer Probleme zu beleuchten. Doch Adorno war sich durchaus bewusst, dass es sehr wohl eine aktuelle Alternative zum Kapitalismus gab, eine, die Massenmord und kulturelle Auslöschung bedeutete. Denn Adornos Ablehnung dieser Alternative als eine nur »totalitäre« Version des gleichen Staatskapitalismus, den er in Amerika erfahren hatte, war von Grund auf unehrlich.

Was Europa einmal zusammenhielt
Ein ebenso zeitgemäßes wie unzeitiges Buch: »Abendland«
Nach alledem muss der Gerechtigkeit halber gesagt werden, dass die Frankfurter Kritik der Konsumgesellschaft auch ein Element der Wahrheit enthält. Es ist eine Wahrheit, die viel älter ist als die marxistischen Theorien, mit denen sie Horkheimer und Adorno ausgeschmückt haben. Tatsächlich ist es eine Wahrheit, die im Alten Testament enthalten ist und die über die Jahrhunderte immer wieder formuliert wurde: die Wahrheit, dass wir unsere bessere Natur betrügen, wenn wir uns vor Götzen verbeugen. Die Thora breitet vor uns eine Vision der menschlichen Erfüllung aus. Sie erklärt, dass wir dem Gesetz Gottes verpflichtet sind, das keinen Götzendienst duldet und unsere absolute Hingabe verlangt. Doch indem wir uns Gott zuwenden, werden wir zu dem, was wir wirklich sind, Geschöpfe einer höheren Welt, wo unsere Erfüllung mehr bedeutet als die Erfüllung unserer Wünsche. Durch den Götzendienst fallen wir ab in eine niedere Existenz – in den Zustand der Selbstversklavung, in dem unsere Begierden als Götter erscheinen und die Herrschaft über uns ergreifen.

Adorno glaubte freilich nicht an Gott und hatte auch wenig für die Lehren der Thora übrig – viel weniger als sein Held Arnold Schönberg, der in seinem unvollendeten und nicht vollendbaren Meisterwerk Moses und Aron versucht hatte, die eben dargelegten Ideen als Drama darzustellen. Doch Adornos Angriff auf die Massenkultur sollte in diesem alttestamentarischen Geist gesehen werden, als die Zurückweisung des Götzendienstes und als die Bestätigung der jahrhundertealten Unterscheidung zwischen wahren und falschen Göttern – zwischen der Anbetung, die uns veredelt und erlöst, und dem Aberglauben, der uns in den Abgrund führt. Adornos wahrer Gott ist Utopia: die Vision von freien Subjekten, die sich der Welt in ihrer Realität bewusst sind und sie für sich behaupten. Der falsche Gott ist der Fetisch des Konsumismus, der Gott der Begierden, der unsere Sicht vernebelt und unsere Wahlmöglichkeiten vernichtet.

In dieser Hinsicht unterschied sich Adorno grundsätzlich von den 68er Revolutionären, obwohl er eine Sprache benutzte, die diese glaubten, ebenfalls nutzen zu können. Die Befürworter der »Befreiung« suchten nach einer anderen Gesellschaftsordnung, in der Menschen wahrhaft frei sein würden, frei, weil sie den Schleier der Illusionen zerrissen und begonnen haben, eine weniger repressive Welt zu errichten. Aber die Erlösung, die Adorno versprach, konnte nicht durch Gesellschaftsreformen erreicht werden: Ihm schwebte eine persönliche Erlösung vor, das Zurücklassen der Fantasien auf dem Weg zur Selbstentdeckung.

Wer seinen Geist an eine Utopie heftet, tritt in Verbindung mit seiner Subjektivität und braucht eine wahre geistige Disziplin. Dieser Mensch ist nicht dadurch motiviert, Elend und Leid zu vermeiden, denn er weiß, dass diese die Prüfungen der menschlichen Freiheit sind. Nichts stößt ihn mehr ab als der Fetisch, der aus dem Land der Illusionen stammt und der das höhere Leben verneint und zerstört, weil er Tragödie und Leid verneint. Doch den Trost, den Kythera (die Insel Kythera gilt in der Mythologie als Reich der Liebe, fern aller Konflikte – Anm. d. Red.) spenden kann, verbietet das gleiche moralische Urteil, und eine »Befreiung«, die Sex, Sünde und Müßiggang der Liste der Konsumgüter hinzufügt, ist nur ein neuer Name für die altbekannte Versklavung.

»Bekenntnisse eines Häretikers«
Roger Scrutons konservative Streifzüge
Um es genauer zu sagen: Adornos Perspektive ist nicht die des Revolutionärs, der den Kapitalismus stürzen will, sondern die von Hegels »schöner Seele«, die dazu verdammt ist, in einer götzendienerischen Welt zu leben und ständig daran zu arbeiten, die geistige Disziplin, die ihre moralische Abgeschiedenheit bestimmt, zu bewahren. Der Hegel’sche Jargon von Subjekt und Objekt verweist auf die wirkliche Botschaft Adornos, die nichts mit dem Konflikt zwischen den kapitalistischen »Produktionsverhältnissen« und irgendeiner emanzipierten Alternative zu tun hat. Ihr Gegenstand ist die Kunst und der Unterschied zwischen der wahren Kunst und ihrem götzendienerischen Ersatz. Wahre Kunst ist wichtig, weil sie uns mit unserem wahren Wesen verbindet und ermöglicht, dass wir auf jener höheren Ebene existieren, auf der Freiheit, Liebe und Erfüllung möglich sind. Doch wir sind von Scheinkunst umzingelt, von Sentimentalität, Klischees und Kitsch. Diese Scheinkunst kettet uns an die Welt der »Verdinglichung«, weil sie Dinge mit einem Wert durch Dinge, die einen Preis haben, ersetzt, und durch sie verliert das menschliche Leben seinen Wert, weil es von monotonen Begierden regiert wird.

So verstehe ich die Last, die Adornos Kritik der Massenkultur zum Ausdruck bringt. Wie die anderen Kritiken ähnlichen Inhalts von Ruskin, Arnold, Eliot und Leavis entspringt sie der Verdammung des alttestamentarischen Götzendienstes und enthält als solche einen wahren Kern. Die Probleme entstehen dadurch, dass Adorno die Sprache des Marxismus benutzt und der daraus entstehenden Implikation, dass er eine politische Alternative zur »bourgeoisen« Gesellschaft umreißt und auf Mängel hinweist, die durch eine marxistische Revolution überwunden werden könnten. Die einzige Revolution, die sich Adorno vorstellen kann, findet in der Welt der Kultur statt. Sie ist keine politische, sondern eine ästhetische Revolution, der Versuch, Utopia durch die Kunst zu verstehen. Kunst – stellt Adorno fest –, die sich wie die Propagandakunst von Brecht und Eisler direkt in den Dienst der Revolution stellt, verrate die einzige Art von Wahrhaftigkeit, der die Kunst fähig ist. Der Drang zur Utopie müsse innerhalb der Kunst verteidigt werden, durch die innere Revolution der Kreativitätsformen. »Denn der unmittelbare Einspruch (…) wäre in Kunst reaktionär.« Genau auf diese Art konnte Adorno zur 68er Revolution gehören und zugleich ihres Zugriffs entweichen und zum Nachdenken über Dinge zurückkehren, die ihm wirklich wichtig waren, wie die Zukunft der Tonalität, die Natur der Massenkultur und die Herrschaft des Kitsches.

Um die Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Roger Scruton, Narren, Schwindler, Unruhestifter. Linke Denker des 20. Jahrhunderts. Edition Tichys Einblick im FBV, Hardcover, 368 Seiten, 25,00 €


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