Tichys Einblick
Gefangene der Zeit

Die Spuren der Geschichte in der Gegenwart entdecken

Anders als beträchtliche Teile des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses, für den politisch korrekte Haltung das erste Karrieregebot ist, bewahrt Christopher Clark eine erfrischende Unvoreingenommenheit. Er zeigt, wie historische Ereignisse und Taten über die Zeiten hinweg fortwirken – bis heute.

In einem Interview hat Clark einmal erzählt, wie er als neunjähriger australischer Junge anfing, eine Leidenschaft für das Mittelalter zu entwickeln. Die australische Geschichte begann damals im Schulunterricht mit Captain Cooks „Entdeckung“ des fünften Kontinents und dem Eintreffen der ersten elf Schiffe, die Verurteilte für die künftige englische Strafkolonie ablieferten. Das Woher und Warum beschäftigte die Neugier des Knaben, der eine Parallelwelt entdeckte, in der die realen Ursachen der Gegenwart liegen: die Geschichte.

Seine späteren Reisen nach Europa überwältigten ihn – hier gab es Städte, die viele Male so alt wie die heimatlichen waren, die zahllose Perspektiven des Schönen und Dramatischen boten. Zu allem Überfluss erlebte er an seinem Studienort Berlin das Nebeneinander zweier Gesellschaftssysteme, in denen beiden eine gemeinsame historische Spur des untergegangenen Preußen verdeckt lag. Und wo 1989 mit dem Einreißen der Mauer ein säkularer Epochenbruch seinen sichtbarsten Ausdruck fand.

Christopher Clark hat sich seine jugendliche Neugier auf alle Aspekte der Geschichte bewahrt, seien es nun die Wirkungen geistiger Strömungen, von Religion, Machtpolitik und Kriegen oder die „Rolle der Persönlichkeit“ in den epochalen Umbrüchen. Clark ist dem deutschen Publikum durch seinen internationalen Bestseller „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (2012/2013 dt.) bekannt geworden. Seine These, der Erste Weltkrieg sei nicht allein auf deutsches und österreichisches Schuldkonto zu setzen, provozierte wütende Reaktionen bei englischen Konservativen und beim linksliberalen Mainstream der deutschen Historikerzunft.

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Für Britanniens Rechte und deutsche Linke ist seit den Arbeiten Fritz Fischers der Kriegsalleinverantwortliche das Weltmachtstreben des wilhelminischen Kaiserreichs. Abweichende Auffassungen wie die Clarks oder Herfried Münklers („Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918“) wurden vom comme-il-faut der Zunft als geschichtsrevisionistisch verketzert. Als politisch korrekt galt noch jüngst die verquere Unterstellung: Wer an der alleinigen deutschen Schuld am Weltkrieg Eins zweifelt, der bereitet die Leugnung der Schuld am Weltkrieg Zwei vor. Nebenbei für junge Radikale angemerkt: eine linke Auffassung ist das nicht. Für die gesamte marxistische Imperialismustheorie von Lenin bis Luxemburg, Kautsky und Bucharin spielen ganz andere Ursachen eine Rolle, als die Fehler einzelner Diplomaten und Staatsmänner.

Die Aufregungen und die Anwürfe gegen die „Geschichtsrevisionisten“ haben sich in den letzten Jahren etwas gemäßigt.  Clark konnte sogar ohne übliche Empörungsstürme in den „sozialen Medien“ für das ZDF drei je sechsteilige Dokumentationsreihen zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte moderieren.

Die Essaysammlung „Gefangene der Zeit“ ist ein einladender Opener in die Arbeit dieses außergewöhnlichen Historikers. Sie zeigt ihn als einen souveränen und stilistisch brillanten Terrainvermesser so unterschiedlicher Stoffe wie antike, jüdische, Religions-, Militär-, Medizin- und politische Geschichte. Im Gegensatz zu der verbreiteten Theorie- und Methodenfixierung großer Teile der Zunft versucht Clark für seine Themen einen jeweils angemessenen Interpretationsrahmen zu finden. Er verwendet nach bester angelsächsischer Tradition dasjenige Werkzeug, das passt. Er scheut dabei weder Instrumente der französischen Annales-Tradition noch deutscher Bielefelder Strukturhistoriker.

Clarks Essays umschreiten große Gebiete, die auf weitere intensive Forschung und Reflexion warten. Warum gibt es so unendlich viele Arbeiten zu militärischen und diplomatischen Ereignissen der Vergangenheit, und so wenige über die großen Seuchen und Pandemien, die im letzten Jahrtausend geschätzt ähnlich viele Opfer forderten wie Kriege und Naturkatastrophen? Lässt die lange Tradition der Beschäftigung mit Staatsangelegenheiten die Leiden der Schlachtfelder leichter begreifen als die Nöte und Opfer in den Krankenhäusern? Oder erlaubt ein unbefangener Blick auf das menschliche Miteinander die schlichte Diagnose:

„Historiker und Menschen allgemein sind geradezu süchtig nach menschlicher Urheberschaft, sie lieben Geschichten, in denen Menschen einen Wandel bewirken oder auf ihn reagieren.“

Sind deshalb schon immer Narrative von schuldigen Personenkreisen an Epidemien populär? Bei der Großen Pest des 14. Jahrhunderts wurden die Juden als Brunnenvergifter verfolgt, im Mailand des 16. Jahrhunderts „untori“, Fremde aus anderen italienischen Kommunen, die angeblich Kirchenaltäre mit einer pestbringenden Paste bestrichen; im Paris des 19. Jahrhunderts jagte man während der Choleraepidemie vermeintliche „Giftmischer“.  Die Nähe zu einigen der heutigen Verschwörungsmythen ist offensichtlich.

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Bis vor wenigen Jahren galt dem akademischen Establishment das Genre Biographie als etwas anrüchig. Statt übersichtlicher Statistiken, Tabellen und Ressourcenberechnungen muss sich der Forscher mit kleinstteiligen Lebensäußerungen der darzustellenden Person beschäftigen – Briefe, Reden, Anwesenheitslisten, Zeitungsausrisse, Berichte Dritter. Ein Muster solch emsiger Fleißarbeit ist der deutsch-englische Historiker John Röhl, der Wilhelm II. eine über 4000seitige Biographie gewidmet hat. Er treibt mit seinem Subjekt – geschichtsphilosophisch betrachtet – die Bedeutung des Individuums auf die absolute Spitze. Unter Bekundung des Respekts für die ungeheure Sammelleistung seines thematischen Widersachers unterminiert Clark Röhls Grundthese, der Kaiser sei an allem schuld, insbesondere am Weltkrieg, sozusagen die Verkörperung des deutschen Weltmachtstrebens in einer Person. Röhl versucht mit unzähligen Zitaten die bizarre, teils bösartige Gesinnung seines Antihelden zu belegen und folgert daraus dessen beherrschenden Einfluss auf das Geschehen.

Was aber, fragt Clark, wenn die zum Teil an Donald Trump gemahnenden Sprüche und Entgleisungen des Kaisers, dieses „wandelnden Tourette-Syndroms im Herzen der deutschen Exekutive“, vor allem eines zeigen, nämlich das Fehlen einer kohärenten politischen Vision? Wenn es angesichts dieses „Inbegriffs der Unbeständigkeit“ unmöglich ist, Intentionen und Resultate gegeneinander abzuwägen? „Der Kaiser griff Ideen auf, verlor das Interesse und ließ sie wieder fallen. Unablässig kam er mit neuen Bündnisvorschlägen daher: eine Allianz mit Russland und Frankreich gegen Japan und England, oder mit Russland, England und Frankreich gegen die Vereinigten Staaten; oder mit China und den Vereinigten Staaten gegen Japan und die Triple Allianz; oder mit Japan und den Vereinigten Staaten gegen die Entente und dergleichen mehr.“ 1902 erwog er zur Entrüstung der Beamten im Auswärtigen Amt gar eine „dauerhafte Versöhnung mit Frankreich“. Er unterstützte auch kurzzeitig Theodor Herzls Plan eines jüdischen Palästinas, um ihn nach geäußerter Skepsis des Sultans sofort wieder ad acta zu legen.

Vergleichbar inkonsistent ist die Stimmungslage im gegnerischen Lager. Den Peinlichkeiten Wilhelms entsprechen zahllose kriegsbegeisterte Äußerungen auf französischer und russischer Seite. Beim Treffen der Generalstäbe versichert man sich gegenseitig enthusiastische Kriegsbereitschaft. In der führenden russischen Militärzeitschrift wird offen vom bevorstehenden „Vernichtungskrieg“ zwischen den slawischen und germanischen Völkern gefaselt.  In den zwanziger Jahren haben deutschnationale Historiker mit Bienenfleiß bellizistische Zitate aus dem Alliiertenlager gesammelt und damit „bewiesen“, dass in Wahrheit England, Frankreich oder Russland „schuld“ waren – ein Eldorado für Verschwörungsmythologen. Die Akten sind, darf man annehmen, auch nach den jüngsten Debatten noch lange nicht geschlossen.

Mit der notwendigen Distanz des Forschers zu seinem Objekt übertreibt es Clark nicht. Er hält mit seinen liberalen Auffassungen nicht hinterm Berg. Den Abscheu vor Donald Trump, den er psychologisch mit Wilhelm II. vergleicht, teilt er mit dem europäischen Mainstream. Im Gegensatz jedoch zu beträchtlichen Teilen des derzeitigen geisteswissenschaftlichen Nachwuchses, für den politisch korrekte Haltung das erste Karrieregebot ist, bewahrt Clark bei allen Themen eine erfrischende Unvoreingenommenheit.

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So zeigt er mit Reflexionen über den Generaloberst Blaskowitz, wie viele Schattierungen „die Grauzone zwischen militärischem Gehorsam und Widerstand“ aufwies. Dieser hatte als Oberbefehlshaber Ost der Wehrmacht gegen die Gräueltaten deutscher Polizei- und SS-Verbände bei der Besetzung Polens 1939 protestiert, war deshalb kaltgestellt und seines Postens enthoben worden. 1944 übernahm er beim Abzug aus Frankreich eine aktive Kommandorolle. Dabei untersagte er ausdrücklich Vergeltungsmaßnahmen gegen französische Zivilisten während der Operationen gegen die Resistance. Blaskowitz ist ein Repräsentant jener Reichswehrkultur, die sich als jenseits und über der Politik definierte. Aus dieser Mentalität einer Verpflichtung dem Ganzen der Nation und nicht dem Regime gegenüber wuchs später neben einem heute kaum nachvollziehbaren soldatischen Gehorsam auch die Bereitschaft einer Elite zum Putschversuch und zum Attentat des 20. Juli. Blaskowitz apolitische soldatische Gesinnung, er weigerte sich sogar mit seiner Frau über Hitler zu sprechen, verhinderte seine Beteiligung. Nach dem Krieg war er als hoher Militär wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen drei Jahre inhaftiert, zuletzt in Nürnberg: Da beging er am Vorabend seines Prozesses, bei dem ihm nach Aussage des amerikanischen Staatsanwalts ein Freispruch bevorstand, Suizid.

Eine andere Perspektive auf die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte ist die Beschäftigung mit den Werdegängen der Nazigrößen. Clark versucht mit einem Psychogramm Heinrich Himmlers einen der Hauptakteure des Holocaust zu ergründen. Dessen „Aufstieg zum Chefarchitekten des NS-Völkermords zählt zu den merkwürdigsten Strängen der Geschichte des Regimes. Es war weder offensichtlich noch vorhersehbar, dass Himmler absolute Macht über Leben und Tod von Millionen Menschen erhalten sollte.“  Im bürgerlichen Alltag – er war diplomierter Agronom – scheiterte er mit diversen Ausflügen in die Landwirtschaft. Seine Hühner wollten keine Eier legen, seine Pflanzungen gingen ständig ein. Er hatte ein unvorteilhaftes Aussehen, pummelig, unsportlich und ein extrem fliehendes Kinn – insgesamt fast eine Karikatur des Naziideals vom kraftvollen germanischen Krieger. Bei seinen Kommilitonen an der TU München war er höchst unbeliebt. Auch seine Versuche einer Parteikarriere blieben zunächst erfolglos. Man schätzte seine Wichtigtuerei überhaupt nicht. Doch seine bedingungslose Loyalität zum Führer verschaffte ihm nach dem Röhm-Putsch 1934, als Hitler die SA-Führer ermorden ließ, das uneingeschränktes Kommando über die SS.

Die Geschichte, wie dieser scheinbar seelenlose Bürokrat aus einer kleinen Eliteeinheit einen Staat im Staate machte, ist vielmals erzählt worden. Man kann Vergleiche mit den „Bluthunden“ des Stalinismus anstellen, den Jagoda, Jeschow und Berija. Aber Clark geht einen anderen Deutungsweg. Er weist auf das untergründig Religiöse in Himmlers Wesen hin. „Die klerikale schwarze Tracht entsprach dem Mystizismus eines Mannes, der den katholischen Glauben seiner Kindheit verloren und stattdessen eine Reihe esoterischer, nachchristlicher Wahnvorstellungen verinnerlicht hatte.“ Auf der Wewelsburg sollte eine altgermanische Weihestätte installiert werden, in der die SS-Führung auf die Unterwerfung des Ostens vorbereitet werden sollte. Gläubige Christen haben in Himmlers Gestalt das dämonische Wirken Satans gesehen.

Clark verliert sich nicht in solche Folgerungen, doch er achtet durchaus auf das Bizarre: In seinem Forschungsinstitut „Ahnenerbe“ lässt Himmler untersuchen, ob – wie er selbst überzeugt ist – die Germanen Blitze als Waffen eingesetzt haben. Des Weiteren beauftragte er zur Wiederentdeckung eines vermuteten unterdrückten okkulten Wissens ein SS „Hexen-Sonderkommando“, das alle Prozesse seit dem Mittelalter nach entsprechenden Hinweisen durchforsten sollte. Nach Tibet wurde eine SS-Expedition geschickt, um die Postulate der „Welteislehre“ des Ingenieurs Hanns Hörbiger zu bestätigen.

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Ein spezifischer Charakterzug Himmlers war der zwanghafte Drang, andere zu überwachen und zu kontrollieren. Nach seinem Aufstieg konnte er das voll ausleben. Er befahl in Briefen „SS-Männern Kinder zu zeugen, keine Schimpfwörter zu gebrauchen, ihre Bräute von Gynäkologen auf ihre Gebärfunktion hin zu untersuchen und sich nicht länger von ihren Frauen herumkommandieren zu lassen. Einem Mann wurde geraten, seine Schwiegermutter in die Irrenanstalt einzuweisen, einem anderen, Diät zu halten.“ Gepaart war der Kontrollzwang mit einer Art Ehrenkodex, „Anstand“ ist ein Dauerthema in seinen Briefen und Reden. Dies gipfelte in seiner berüchtigten Posener Rede von 1943, in der er die große Leistung der SS würdigte, Tausende Leichen nebeneinander liegen gesehen zu haben „und dabei anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.“

Es ist unstrittig, dass Himmler, Heydrich und Hitler selbst die treibenden Kräfte des Massenmords an den Juden waren. Himmler selbst plante darüber hinaus in der Ukraine und „Russland-Mitte“ riesige „tote Zonen“, aus denen alle Slawen zu Sklavenarbeit entfernt werden sollten. Alle Zurückgebliebenen seien als „bandenverdächtig“ einzustufen und sofort zu erschießen. Dieses Programm für die Zeit nach dem Sieg „hätte die Vernichtung Dutzender Millionen Slawen bedeutet.“

Was ist an diesem dämonischen Leben interessant? „Der Blick des Biographen wirkt sich, wenn er auf die schlimmsten Übertäter der Geschichte gerichtet ist, gelegentlich mildernd auf unsere feindselige Haltung gegen den Forschungsgegenstand aus – etwa, weil die Schilderung von Kindheit und Jugend uns mit der Person konfrontiert, die noch keine Schuld an den Missetaten des Erwachsenen traf. Dieser Effekt fehlt im Fall Himmlers eklatant.“ Tyrannischer Vater, Vernachlässigung, Missbrauch? Alles Fehlanzeige. „Der kontrollierende, pedantische Saubermann der jugendlichen Tagebücher ist allzu offensichtlich die Larvenform des erwachsenen Reichsführers SS.“

Clark versucht eine Deutung dieses Charakters durch Verweis auf die Nachkriegsgeneration Jugendlicher aus der Mittelschicht, die traumatisch unter der deutschen Niederlage litten. Sie waren seriös, höflich und wohlhabend, ihr Ideal aber war die Revanche für Versailles durch eine nüchterne und gnadenlose Verfolgung der Interessen „des Volkes“. Man hat sie die „Generation der Unbedingten“ genannt. Sie billigten extreme Brutalität im Namen des Volkes und kombinierten sie mit sorgfältiger Planung und Durchführung. Himmler besaß wie sie alle den Ehrgeiz, hart, ‚rational‘ und immun gegen Mitleid und Selbstzweifel zu werden.

„Das Außergewöhnliche an Himmler ist nicht die Verruchtheit der Person, sondern die einzigartige politische und kulturelle Konstellation, die so einem Menschen die Ressourcen in die Hand gab, für andere Menschen zu einem Albtraum zu werden.“

Lesenswert sind auch Clarks Ausführungen die die Geschichte der Konzepte von Macht und Legitimität, über die Bedeutung pietistischer Vorstellungen bei der Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, über die Frage der christlichen Judenmission, über die Überwindung des Eurozentrismus in den avanciertesten Forschungen zur indischen und chinesischen Geschichte.

Manches Aha-Erlebnis beschert sein Essay über die Zukunft des Krieges. En passant fällt dabei ein Schlaglicht auf die nie aussterbende Gattung der Zukunftspropheten. Im Jahr 1763 erschien in London das Buch „The Reign of George VI., 1900 – 1925“. In dieser Zukunftsvision wird Frankreich noch (schlecht) regiert von den Bourbonen, in Mitteleuropa währt das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ in seiner ganzen Zersplittertheit fort, und Nordamerika ist immer noch eine englische Kolonie. Gleich zu Beginn seiner Herrschaft muss George Krieg gegen Russland und Frankreich führen. Er besiegt beide, aber bald darauf fallen diese im Reich ein. Die Briten müssen erneut eingreifen, die Deutschen retten, Frankreich unterwerfen und die Bourbonen absetzen.  Im Weiteren werden noch Mexiko und die Philippinen erobert, bis endlich am 1. November 1917 ein allgemeines Friedensabkommen unterzeichnet wird.  Der Autor dieses Zukunftsszenarios hat keinerlei Vorstellung von möglichen Revolutionen, geschweige von der dramatischen weiteren Entwicklung der Kriegstechnologie. Die gefährlichste Waffe der Zeit ist für ihn das Flaggschiff der Royal Navy, die Britannia, die „wegen der vernichtenden Breitseiten ihrer 120 Messingkanonen“ weltweit gefürchtet wird.

Spätere Zukunftspropheten sind beim Thema Krieg nicht glücklicher. Die technische Entwicklung vorherzusagen verfehlten fast alle. Nie ganz falsch lagen in der Regel die Pazifisten, die schlimmste Opfer auf allen Seiten prognostizierten – und damit meist recht behielten. Die Militärs waren von solchen Vorhersagen nie beeindruckt. Sie waren in Betracht der je erreichten Waffenentwicklung stets optimistisch hinsichtlich eines siegreichen Einsatzes. Derselbe Geist beherrscht heutzutage auch den kleinen, dicken Diktator aus Nordkorea, der nach jeder neuen Fertigungsstufe seines Raketenarsenals vom Sieg über die USA phantasiert.

Lehren aus der Geschichte für die Zukunft zu ziehen – das lehnt Christopher Clark im Wissen um die zeitgeistbedingten Begrenzungen des historischen Blicks ab. Je komplexer unsere Welt wird, desto schwerer lassen sich aus der Vergangenheit Rezepte für die Zukunft formulieren. Seine Leser werden sich jedenfalls daran erinnern, wie sehr die überschwängliche Siegesgewissheit auf allen Seiten zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrug.

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Christopher Clark, Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. Pantheon, 336 Seiten, 16,00 €.


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