Tichys Einblick
Historiker Egon Flaig

Die sechs gestürzten Säulen des Konservatismus

Die freien Gesellschaften des Westens werden eingeholt von kulturellen Entwicklungen, die in den 70er Jahren auf breiter Front eingesetzt haben. Wenn die zentralen Säulen des Konservatismus nicht wieder errichtet werden, ist nicht nur der Konservatismus am Ende. Von Egon Flaig

IMAGO / Panthermedia

Der Konservatismus hat seine kardinalen Pfeiler umstürzen lassen, und er kann aus der geistigen Landschaft Europas verschwinden, wenn er sich nicht aufrafft. Und er wird nun eingeholt von kulturellen Entwicklungen, die in den 70er Jahren auf breiter Front eingesetzt haben und in den 90er Jahren einen starken Schub erhielten. Der kulturelle Wandel vollzieht sich üblicherweise langsam. Diese Allmählichkeit beinhaltet häufig eine Unmerklichkeit; darum werden die verhängnisvollen Seiten des Wandels von den allermeisten Beobachtern erst spät wahrgenommen. Wandlungen sind immer, Historiker wissen das, unumkehrbar; doch sie sind meistens korrigierbar. Und sie zu korrigieren obliegt jenem abnehmenden Segment der intellektuellen Eliten, welches über hinreichende Maßstäbe verfügt, um ein Übel als Übel diagnostizieren zu können, und welches sich um Leitlinien bemüht, entlang derer man aus Übeln herausfindet. Diese Intellektuellen werden Konservative genannt. Um dem Imperativ des Dichters zu folgen, welcher da lautet „Erkenne die Lage!“ nenne ich knapp sechs Orte mit umgestürzten oder geborstenen Säulen: 

  1. Die anwachsende Feindseligkeit gegen zentrale Institutionen des demokratischen Staates. Sie hat insbesondere den Ehrenschutz der Soldaten beseitigt. Der straflose Spruch „Soldaten sind Mörder“ hat selbstverständlich Konsequenzen für die Bereitschaft der Bürger, für ihr Land und ihre Verfassung mit Leib und Leben einzustehen; und wir sehen nun die Konsequenzen. Straflos ist auch der Slogan ‚alle Polizisten sind Bastarde‘ hat dramatische Folgen für die Autorität unserer Ordnungsorgane; und wir bekommen diese Folgen nun zu spüren. Die Konservativen haben hier nicht konsequent und nachhaltig Institutionen verteidigt, an deren Funktionieren unsere Demokratie hängt.
  2. Das immer offenere staatliche Agieren der EU. Dieser eurokratische Moloch hat keine Verfassung, sondern hat sich konstituiert über Verträge. Wie der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm stets betont, sind diese Verträge ‚sekundäres Recht‘; denn anders als die nationalen Gesetze, die direkt oder indirekt der Volkssouveränität entspringen und darum ‚primäres Recht‘ sind, werden diese Verträge nicht getragen von einem europäischen Volkswillen. Sie sind kündbar, wie der Brexit zeigt. Indes, die europäische Jurisprudenz hat sich angewöhnt, die EU-Verträge so zu behandeln, als seien sie Verfassungsrecht. Und als Verfassungsrecht stünden sie über den nationalen Gesetzen. Nach einem Diktum von Grimm sind daher „die Mitgliedstaaten […] zwar noch die ,Herren der Verträge‘, aber nicht mehr die Herren des auf ihrem Territorium anwendbaren Rechts.“ Weil die Juristen sich zunehmend angewöhnt haben, den EU-Verträgen den Rang einer Verfassung zu geben, ist ein Rechtssystem entstanden, das sich nicht mehr aus der Gesetzgebung souveräner Völker speist, sondern allmählich die Volkssouveränität entlegitimiert. Die schiere Existenz eines nichtdemokratischen Staatenverbundes über mehr als eine Generation hat die Sozialisation, den Habitus und die Denkweise der politischen Klasse in allen zugehörigen Ländern von Grund auf deformiert. Schlimme ist, dass nun reihenweise junge Juristen dazu erzogen werden, keinen Zusammenhang mehr zu sehen zwischen Volkssouveränität und Gesetzgebung. Ist dieser Zusammenhang gelöst, dann kann jede Verfassung demokratiefeindlich interpretiert werden.
  3. Das Verschwinden des Bewusstseins, dass Staaten nicht nur eine Staatsgewalt haben, sondern – entsprechend der Jellinekschen Trias – auch ein Staatsvolk und ein Staatsgebiet. Ein Volk im politischen Sinne besteht aus seinen Staatsbürgern und hat somit eine klare ‚Außengrenze‘; das Staatsgebiet ist eo ipso begrenzt und definiert sich über seine Außengrenze. Nun beruht jedwede Demokratie auf ihrem Demos, dem Volk.  Dieser Kernsatz der Demokratie ist seit langem diskreditiert worden; nun droht er vollends zur verbotenen Ansicht zu werden. Angesichts der desaströsen Folgen der Grenzöffnung von 2015/2016 wäre zu erwarten gewesen, dass ein Umdenken in einer ernüchterten politischen einsetzt. Das geschah nicht. Am 29. November 2018 stimmte der Deutsche Bundestag dem Migrationspakt zu – nach einer lächerlich kurzen Diskussion – mit den Stimmen der SPD und CDU; nur 4 Abgeordnete der CDU stimmten dagegen. Im gemeinsamen Antrag von CDU und SPD wird die Bundesregierung aufgefordert, sicherzustellen“, dass durch den Pakt „die nationale Souveränität und das Recht Deutschlands, über seine Migrationspolitik selbst zu bestimmen“, nicht beeinträchtigt werde. Außerdem heißt es, dass der UN-Pakt „keine einklagbaren Rechte und Pflichten“ begründe und „keinerlei rechtsändernde oder rechtssetzende Wirkung“ entfalte. Doch einige Verfassungsrechtler hatten gewarnt, dass der Pakt – einmal unterzeichnet – selbstverständlich rechtliche Wirkungen entfalten wird, egal was im Beschluss steht. Die Gerichte werden aus dem Pakt schneller oder langsamer geltendes Recht machen. Ein demokratiebasierter Konservatismus hätte alles dransetzen müssen auch um das Risiko der schlimmsten Diffamierungen, um diesen entscheidenden Schritt zur Staatsauflösung zu verhindern.
  4. Der Beschluss des Bundestages vom 30.06.2017 zugungsten der ‚Ehe für alle‘. Da nirgendwo die Menschen als Erwachsene auf die Welt kommen, fungieren die Generationen als Scharnier zwischen der biologischen Reproduktion eines jeden Staates und der Sterblichkeit seiner Individuen. Die Ehe ist in allen Kulturen diejenige Institution, welche die biologische Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten hat. Kinderlose Ehen waren in allen Kulturen ein Kümmernis. Wenn die Kinderlosigkeit nicht mehr als Mangel oder gar als Unglück empfunden wird, sondern als soziale Strategie zur Verbesserung der beruflichen Chancen, dann hat das zwei Folgen: Erstens wird eine vorsätzlich kinderlose Ehe in ihrer Funktion nicht mehr unterscheidbar von einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft; und damit wandelt sich für dieses Segment der Gesellschaft der Sinn der Ehe. Es hätte ausgereicht, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften rechtlich gleichzustellen mit der Ehe, um jeden Verdacht zu entkräften, Homosexuelle würden diskriminiert. Den gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften das Recht zur Adoption zu geben, war indes im Hinblick auf die soziale Reproduktion fatal. Hätten wenigstens noch 350 Abgeordnete im Bundestag gewusst, welchen besonderen Wert der Ehe zukommt, wäre ein uferloser Unsinn nie zum Gesetzestext geworden. Rückenwind erhalten nun jene Strömungen, die gegen die naturgegebene Dualität der Geschlechter anrennen. Wenn der Bezug zur Wirklichkeit verloren geht, dann ist – wie Hannah Arendt sagte – alles möglich. Die zweite Folge ist bereits wahrnehmbar: Wenn der Begriff der Familie sich ablöst von der Notwendigkeit der Generationenfolge, dann wandelt sich der Zeithorizont unserer Kultur nachhaltig. Es geht das Bewusstsein verloren, dass Kulturen sich in der Zeit bewegen und für die nachfolgenden Generationen Sorge tragen müssen. Und dann entsteht – wie der Philosoph Michael Großheim aufgewiesen hat – ein radikal verkürzter Zeithorizont, folglich wird die Sinngebung vollkommen aktualistisch und modisch. Unweigerlich geht auch der Bezug zur Vergangenheit verloren und damit die Dankbarkeit für die enormen kulturellen Errungenschaften, die wir geerbt haben. Und diese geistige Eindimensionalität macht die Menschen völlig wehrlos gegen die moralischen Moden und gegen momentane Hysterien.
  5. Die Kirchen bieten keine moralischen Residuale mehr. Sie haben sich in NGOs verwandelt, die an vorderster Front gegen die staatliche Souveränität kämpfen. Das hat traditionelle konservative Strömungen erheblich desorientiert.
  6. Unser umgekrempeltes Bildungssystems zeitigt nun kulturelle Folgen. Der Prozentsatz der Abiturienten innerhalb eines Jahrgangs ist seit 1970 stetig in die Höhe getrieben worden, anfangs zu Recht und mit guten Gründen. Doch die Wucht des Trends kann nur noch beängstigen. Im Jahre 2000 betrugen die Studienanfänger 33% eines Jahrgangs; 2009 waren es 43%, 2011 wurden die 55% erreicht; seit 2013 sind es 58%. Diese abnorm hohe Zahl von Studierenden hat eine doppelte Konsequenz erbracht: Erstens verzeichnen wir ein dramatisches Absinken des Leistungsniveaus, vor allem in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern. Zweitens begegnet uns ein Überschuss an unqualifizierten Akademikern, welche sich in die öffentlichen Dienste drängen; und diese blähen sich allerorten auf. Drittens ist es zu einem dramatischen Mangel an ausgebildeten Handwerkern gekommen; er macht sich überall bemerkbar; und er wird sich auswirken auf den Zustand unserer Infrastruktur. Dasselbe Phänomen findet sich auch in Frankreich und anderen Ländern. Die unqualifizierten Studenten drängen auch in die NGOs, wo immer mehr Stellen zur Verfügung stehen; ferner stellen sie die Manövriermasse für die Protestbewegungen, und zudem sind sie ein idealer Träger für die cancel culture. Die Mentalität unserer akademischen Elite wird für mindestens anderthalb Generationen von diesen Umständen geprägt. Konservative Intellektuelle haben das lange schon gesehen. Aber sie wurden nicht gehört von jenen Konservativen, die sich noch an Schaltstellen befanden – in den Medien und in der Politik. Nun ist es zu spät für eine absehbare Korrektur, weil es dreißig Jahre mindestens dauern wird, bis die Universitäten sich so umstrukturiert haben, dass die Pseudo-Fächer abgestoßen werden und die Massenfächer wieder verschlankt werden. Und einen starken und nachhaltigen politischen Willen bei großen Teilen der politischen und medialen Elite ist eine solche Korrektur gar nicht zu haben.

Wir brauchen einen konservativen Neustart – gemäß dem Dichterwort „Rechne mit Deinen Beständen!“ Diese bieten uns Maßstäbe, mittels derer sowohl die Demokratie als auch die Wissenschaft verteidigbar sind. Und wir sollten ein Motto beachten und ein praktisches Ziel verfolgen. Das Motto heißt: Konservative müssen mehr als andere im Auge behalten, dass jeder Wandel seinen Preis hat und dass alle Errungenschaften verlierbar sind. Und das praktische Ziel sollte heißen: Den Sinn für Realität einspeisen in die politische Sphäre.


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