Tichys Einblick
Berliner Silvesterkrawalle nicht überraschend

Die Schule des Verbrechens – Neukölln ist erst der Anfang

Der Berliner Bezirk Neukölln steht für Arbeitslosigkeit, Gewalt, Verwahrlosung, Selbstjustiz und Staatsverachtung. Falko Liecke kämpft gegen die Misere an, wird jedoch massiv verbal und körperlich angefeindet: von gewaltbereiten Extremisten, Clan-Mitgliedern und dem linken Milieu - weil er die Missstände offen anspricht.

Die High-Deck-Siedlung liegt am südlichen Ende der Sonnenallee in Neukölln noch außerhalb des S-Bahn-Ringes, der die Grenzen der Berliner Innenstadt markiert. Hier leben sechstausend Menschen auf einer Fläche von zwanzig Hektar. Die Siedlung ist die Beton gewordene Bausünde des sozialen Wohnungsbaus der Siebziger- und Achtzigerjahre. Das war auch der Grund, warum der Film Sonnenallee von Leander Haußmann nicht hier, in unmittelbarer Nähe des namengebenden Grenzübergangs gedreht wurde, sondern in einer eigens errichteten Filmkulisse in Potsdam-Babelsberg. Die im Film gezeigte typische Berliner Blockbebauung ist hier einfach nicht zu finden.

Die vorherrschende Farbe in der Siedlung ist Grau. Hochgelagerte Gehwege – die für die Siedlung namengebenden »HighDecks«  – verbinden die meist fünf- bis sechsstöckigen Wohnblocks und geben dem gesamten Gelände einen verwinkelten, unübersichtlichen Eindruck. Unter den »High-Decks« parken die Autos. Viele dunkle Ecken, in denen Unrat einfach liegen bleibt und Angsträume entstehen. Dass die Siedlung im November 2020 in weiten Teilen unter Denkmalschutz gestellt wurde, ist ein schlechter Witz und für die Bewohner ein weiterer Nackenschlag. Denn damit sind die bereits geplanten Sanierungen der teilweise maroden Wohnungen, wenn überhaupt, nur eingeschränkt möglich. Was genau an dieser Betonwüste erhaltenswert sein soll, habe ich bis heute nicht verstanden. Eine verkopfte Entscheidung vollkommen an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei.

Mehr als die Hälfte der Bewohner lebt von Hartz IV oder anderen Sozialleistungen. Der Migrationsanteil ist ähnlich hoch wie im tiefsten Norden Neuköllns, die benachbarte Grundschule zählt 98 Prozent Migrationshintergrund. Kaum jemand möchte hier wirklich leben, aber die meisten haben schlicht keine Wahl. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Wer bleibt, findet meist keinen Grund, sich positiv mit seiner Nachbarschaft zu identifizieren. Hier brodelt es schon länger.

Neuköllner Stadtrat im Interview
Falko Liecke: Wir brauchen einen systematischen Zugriff auf die Netzwerke der Clans
2020 ist die Lage explodiert. Bekannt wurde das Viertel auch durch die ersten Szenen der Fernsehserie 4 Blocks, in der ein Polizeieinsatz gegen drogendealende Clans massiv eskaliert. Wie sich innerhalb kürzester Zeit Dutzende Anwohner auf den HighDecks sammeln und unter lautem Geschrei mit Müll und anderen Dingen nach drei einsamen Polizisten werfen, wird heute so manchem Beamten an seine letzte Schicht im Kiez erinnern. Die Fiktion ist selten so nah an der Realität wie in diesen ersten Minuten der Serie. Die Siedlung wird spätestens seitdem immer wieder in der deutschsprachigen Gangster-Rap-Szene zitiert und mystifiziert. Im profitablen Rap-Geschäft lebt es sich gut mit dem Image des Ghettokids, das es geschafft hat.

Die Lage war schon vor 2020  – wie der Neuköllner sagt – beschissen. Während der Corona-Pandemie wurde dann auch noch unter dem grünen Justizsenator Dr. Dirk Behrendt die Entscheidung getroffen, bereits inhaftierte Straftäter vorzeitig aus dem Vollzug zu entlassen. Da die Gefängnisse mit dem Infektionsschutz ihrer Insassen schlicht überfordert waren, sollte Platz geschaffen werden. Die harten Jungs kamen also zurück. Danach eskalierte die Lage in der High-Deck-Siedlung ins Unermessliche. Wir in der Bezirksverwaltung, Polizei und Engagierte vor Ort konnten darüber nur entsetzt den Kopf schütteln. Nie passte das (paraphrasierte) Zitat des preußischen Innenministers Gustav von Rochow († 1847) besser: »Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.«

Wir Neuköllner schütteln also den Kopf, kotzen sinnbildlich in die Ecke, holen tief Luft und machen einfach weiter. In vielen Videokonferenzen zum Austausch über die Lage und denkbare Lösungsansätze. Aber vor allem mit beiden Beinen auf der Straße und im direkten Kontakt mit Kindern und Jugendlichen, die immer mehr und immer früher in die knallharte kriminelle Szene abrutschen. Den Justizsenator, der sich ganz gerne durch Verfassungsklagen gegen Schweinehaltung profiliert  – freilich ohne jemals einen konventionellen Schweinestall, den es in Berlin ohnehin nicht gibt, von innen gesehen zu haben –, interessieren die Zustände auf der Straße offenbar nicht. Seine Ideologie ist durchgesetzt, wir in Neukölln müssen das Schlamassel ausbaden und mit unglaublicher Kraftanstrengung den Scherbenhaufen beseitigen.

2020 gab es allein in der High-Deck-Siedlung 1220 Straftaten. Mehr als dreimal pro Tag wurde irgendwo eingebrochen, härteste Drogen werden gehandelt, Menschen mit Messern und Eisenstangen malträtiert. Und während im Pandemiejahr 2020 berlinweit die Straftaten rückläufig waren, Jugendgruppengewalt sogar um neunzehn Prozent zurückging, stiegen sie hier vor allem seit Oktober 2020 massiv an. Es gab zwei Überfälle mit Schusswaffen auf den letzten verbliebenen Laden im Kiez, regelmäßig wurden Polizeibeamte und Ordnungsamtsmitarbeiter bedroht, attackiert, angespuckt. Es kommt zu Angriffen mit Flaschen und Steinen, wie man es sonst nur aus dem linksalternativen Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg kennt. Jugendliche legen regelrechte Steindepots und Straßensperren mit brennenden Autoreifen an, um Beamte, die sich in »ihren Kiez« wagen, in einen Hinterhalt zu locken und möglichst schwer zu verletzen.

Tichys Einblick Sondersendung
Gewalt in Neukölln - Versagt der Staat? Interview mit Falko Liecke
Solche Straßenschlachten sind nicht an der Tagesordnung. Es sind spektakuläre Taten von Jugendgruppen im Alltag eines Kiezes, der von Kriminalität, Drogen und Gewalt geprägt ist. Aber bei jedem einzelnen Einsatz in der High-Deck-Siedlung müssen die Männer und Frauen der Berliner Polizei mit solchen oder ähnlichen Übergriffen rechnen und hoffen, dass sie am Ende ihrer Schicht wieder gesund zu ihren Partnern und Kindern zurückkehren können. Wenn der Abschnittsleiter der Polizei mir versichert, dass es mit ihm keine »No-go-Areas« geben wird, dann glaube ich ihm das. Allein schon, weil ich die Entschlossenheit in seinem Blick ernst nehme und diese Einstellung genau das ist, was Neukölln braucht. Ich sehe, dass die hochgerüstete Berliner Brennpunkteinheit unterwegs ist. Ich weiß, dass das Landeskriminalamt verdeckt ermittelt. Ich schätze die verstärkten Verkehrskontrollen in der Gegend. Ich sehe aber auch, dass die Realität uns alle einholt. Wenn fast ein ganzer Kiez auf unsere Gesellschaft und ihre Regeln spuckt, wird es schwer.

Der Macht- und Herrschaftsanspruch der dominierenden Jugendgruppen und ihrer Familien wird offen und ins Gesicht der Männer und Frauen in Uniform formuliert: »Das sind unsere Straßen, verpisst euch hier. Ich ficke deine Mutter, du Hurensohn. Allāhu akbar«. Aus Sicherheitskreisen wurde mir berichtet, wie die hasserfüllte Ablehnung und Verachtung unserer Gesellschaft einem Polizisten bei der Festnahme eines mutmaßlichen Straftäters, der gerade einen Paketboten ausrauben wollte, ins Gesicht geschmettert wurde:

Ihr Wichser, ich mache euch alle fertig. Schwanzlutscher, keiner nimmt euch ernst, verpisst euch endlich! Kommt alleine, dann bringe ich euch um, ich werde euch ficken, euch wehtun, ich merke mir eure Gesichter, euch hole ich mir, einen nach dem anderen, ich werde euch Schlimmes antun, das schwöre ich bei Allāh, Gott ist mein Zeuge. Wenn ihr noch mal hierherkommt, werde ich einen Stein auf euch und euer Scheißauto werfen. Für euch nehme ich eine Steinplatte und mache euch kaputt. Glaubt mir, ich werde auf jeden Polizisten einen Stein schmeißen, der in meinen Kiez kommt, ihr habt hier nichts zu suchen. Euch wird ein 40-Tonner überfahren, und wenn ich das machen muss, bei Allāh!

Es ist der pure Hass, die blanke Verachtung und der klare Bezug zu religiösem Terrorismus, der Berlin erst wenige Jahre zuvor erschüttert hatte. Beim Anschlag mit einem Sattelzug auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz starben 2016 dreizehn Menschen, siebenundsechzig wurden teils schwer verletzt. Es war der bis dahin schwerste islamistische Terroranschlag auf deutschem Boden.

In der High-Deck-Siedlung muss selbst bei Rettungseinsätzen der Berliner Feuerwehr regelmäßig die Polizei in Mannschaftsstärke hinzugezogen werden, da die Anwohner grundsätzlich besser wissen, wie Menschen zu retten sind und die Einsatzkräfte behindern, beleidigen und angreifen. Wer das als pure Mentalitätsfrage und überzogene Sorge um geliebte Menschen abtut, ist eher Teil des Problems als der Lösung.

Routineeinsätze für Rettungskräfte gibt es in diesem Kiez nicht mehr. Die ganze menschliche und gesellschaftliche Verkommenheit offenbart sich bei einem Blick auf die Details und stellt selbst mich als wirklich hartgesottenes Neuköllner Original vor ernsthafte Zweifel, warum wir uns eigentlich noch solche Mühe geben. Mir kam zugegebenermaßen der Gedanke: »Da ist jede Mühe vergebens, diese Jugendlichen, diese Familien, dieses Viertel sind verloren.« Irgendwann wurden selbst Jugendklubs angegriffen, Sozialarbeiter öffentlich angefeindet und ihre Autoreifen zerstochen. Nur durch Glück kam es dadurch nicht zu einem schweren Verkehrsunfall, zu Toten und Verletzten. (…)

Es war Anfang 2021, als endlich alle Verantwortlichen, pandemiebedingt in einer Videokonferenz, zusammensaßen. Der sozialdemokratische Bürgermeister Neuköllns sah zu diesem Zeitpunkt erstmals »strukturelle Probleme«. Sein Amtsvorgänger Heinz Buschkowsky wäre explodiert, hätte er diese Naivität und Ahnungslosigkeit miterlebt.

Mit der Mistgabel im rot-rot-grünen Labor
„Aus sozialistischer Sicht ist Berlin eine Erfolgsgeschichte“
Was kann eine Kommune angesichts solcher Probleme tun? Aufgeben ist keine Neuköllner Option, war es nie. Natürlich muss die Strafverfolgung ihre Arbeit machen. Knallhart, robust und ohne Angst vor reflexhaften Relativierungsversuchen. Aber solch einen Kiez dreht man nicht mit dem Tonfa um. Wer das fordert, hat keine Ahnung von der Realität und sitzt meist irgendwo bequem im Sessel, ohne die Absicht, wirklich etwas zu verbessern. Solche notorischen Zündler haben noch nie Probleme gelöst. Der Kiez braucht vor allem eine soziale Stabilisierung, die Jahre dauert und viel Schweiß und Tränen kostet. (…)

Auch Jugendarbeit kann diese Verhältnisse alleine nicht umkehren. Sie ist aber ein Eckpfeiler einer Lösung. Ich möchte nur beispielhaft ein Projekt herausgreifen, das es mir angetan hat, weil es so simpel wie erfolgreich ist: der Mitternachtssport. Hier wird am späten Abend mit den Kindern und Jugendlichen im Kiez gekickt. Mit ausgebildeten sozialpädagogischen Fachkräften, die einen Draht zu ihnen haben. Wer sich nicht an die Regeln hält, fliegt raus. Das klappt nicht nur in Neukölln super, sondern auch im Wedding, in Spandau und anderen Brennpunkten der Hauptstadt.

Die prominenten »großen Brüder« – Bundesligaprofis mit Standing bei den Jugendlichen  – sind wichtige Botschafter. Zu ihnen schauen die Kinder auf. Ein gutes Wort von ihnen macht noch wochenlang die Runde im Kiez. Aber der Star ist der Sport. Und der regelgebundene Kontakt zu den Jugendlichen, die sonst auf der Straße sitzen und Scheiße bauen würden, kann auch langfristig etwas bewirken.

Wenn ich dann in einer Runde mit der verantwortlichen Politikerin für die Vergabe von Hallenzeiten höre, dass der Mitternachtssport im Winter keine Hallenzeiten bekommen kann, »weil es kein Sport ist, sondern Jugendarbeit« und Sporthallen eben nur Sportvereinen zur Verfügung gestellt werden, schwillt mir richtig der Kamm. Nur rot anzulaufen bringt aber nichts. Stattdessen suche ich Mittel und Wege, es doch möglich zu machen. Das Ergebnis zählt. Und zur Ehrenrettung der Kollegen: Ich sehe auch immer wieder die Bereitschaft, Lösungen zu finden. Gut so!

Und doch musste die Jugendarbeit vor Ort letztlich kapitulieren. Am 31. Oktober 2021 – es war Halloween und der halbe Kiez war im abendlichen Halbdunkel unterwegs – rotteten sich in der Spitze bis zu einhundert Jugendliche zusammen. Es wurde verbotene Pyrotechnik gezündet, Steine auf Autos und vorbeifahrende Linienbusse sowie in Richtung der eintreffenden Polizeikräfte geworfen. Erneut wurden brennende Barrikaden errichtet. Nur mit Mühe konnte die Situation beruhigt werden.

Der Zorn des Mobs entlud sich letztlich gegen meine Jugendeinrichtung im Kiez und die Sozialarbeiter, die extra am Sonntagabend vor Ort waren. Steine und Böller prasselten auf sie ein. Als Konsequenz und auch, um die Mitarbeiter zu schützen, blieb der Jugendklub auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Leicht gekürzter Auszug aus:
Falko Liecke, Brennpunkt Deutschland. Armut, Gewalt, Verwahrlosung. Neukölln ist erst der Anfang. Quadriga, Hardcover, 288 Seiten, 20,00 €.


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