Tichys Einblick
Der Deutschen Unbehagen an der Freiheit

Die neurotische Nation

Im kommenden Jahr begehen wir den 70. Geburtstag der Bundesrepublik. Wer die Zeichen des Wandels zu lesen versteht und sich mit der Geschichte dieser Republik befasst, wird nicht umhinkönnen, sich mit ihren Neurosen zu befassen.

"Grenzen überwinden": Installation von Ottmar Hörl in Wiesbaden und Frankfurt zum Tag der Deutschen Einheit

Ich wurde am 8. Mai geboren, dem Tag der Befreiung (unbestreitbar meiner Mutter), ein knappes Jahr nach Gründung der Bundesrepublik. Ein Kind dieser Bonner Republik. Nicht bloß kalendarisch. Ihre Geschichte ist Teil meiner Biografie.

Der erste Bundespräsident, den ich als junger Journalist kennenlernte, war Gustav Heinemann, der auf die Frage, ob er sein Land liebe, antwortete, er liebe seine Frau. Es gab keinen Skandal. Die Entspanntheit der Bonner Republik kam auch davon, dass es keinen Nationalstaat mehr gab. Wir waren damals alle nur Verfassungspatrioten und hatten nach Berlin bloß Sehnsucht, weil es dort im Westen keine Sperrstunde gab und im Osten billige Schallplatten und gute Theateraufführungen.

Mein erster Kanzler als Bonner Korrespondent war Helmut Schmidt. Jedermann konnte ihm am Rheinufer sonntags beim Spazierengehen begegnen – vor dem deutschen Herbst, dann nicht mehr. In den Stunden der Landshut-Entführung hatte ich Dienst im ARD-Radio-Nachtprogramm. Nachrichtensperre in Bonn, aber es gab ja noch den israelischen Geheimdienst als zuverlässige Quelle. Schmidts Sturz durch Kohl und Genscher unter gar nicht klammheimlicher Mithilfe des linken SPD-Flügels war das erste Machtspiel, das ich aus unmittelbarer Nähe mitbekam. Ich habe auch die großen Debattenredner, die Streitgiganten erlebt: Herbert Wehner und Franz Josef Strauß, den beinahe heiliggesprochenen Melancholiker Willy Brandt und den schon fast zur Ehre der Nation kanonisierten Helmut Kohl, unversehens berührt vom „Mantel der Gechichte“.

Vom Streit zur Hofberichterstattung

Das Land war im Streit um den richtigen Weg vereint, nicht wie heute gespalten in Wahrheitsbesitzer und Populisten. Der öffentlich geäußerte Wunsch, den Kanzler abzusägen, galt als Teil des Spiels, nicht als moralisch verwerflicher Angriff auf die Demokratie. Die Medien, auch die öffentlich-rechtlichen, stritten mit, rechte wie linke befeuerten den Diskurs. Heute zählt Hofberichterstattung zum guten Ton. Und es gilt als nicht mehr ganz normal, wer die Kanzlerin für unfähig hält. Er muss zusehen, dass er vom Mainstream nicht ausgebürgert wird.

Kennst Du das Land, wo die Neurosen blühen?
Die Deutschen brauchen mehr Vernunft dringender als mehr Vaterlandsliebe!
Ja, die in früher Kindheit von Hamburg in die DDR verschleppte Pastorentochter kenne ich auch, seit sie dem letzten DDR-Regierungschef, Lothar de Maizière, den Bratscher mit der nassen Aussprache, als stellvertretende Regierungssprecherin diente und danach unaufhaltsam durch die Institutionen pflügte wie kein Achtundsechziger zuvor – und die Republik veränderte wie kein Kanzler vor ihr.

Mir fällt auf, dass die gegenwärtige Kanzlerin, wann immer sie über Adenauer schwadroniert oder Ludwig Erhard missversteht, sich als Erbin aufspielt, aber dabei über die Bonner Republik redet wie die Blinde von der Farbe. Noch nicht einmal richtig angelesen hat sie sich das, was Erhard unter sozialer Marktwirtschaft verstand. Dennoch maßt sie sich die Deutungshoheit an. Die alten Eliten machen es ihr leicht. Sie widersprechen nicht einmal.

Ein spießiges kleines Provisorium

Doch ist die Kanzlerin und Vorsitzende dessen, was einmal Adenauers Christlich Demokratische Union gewesen ist, mit ihrer Geschichtsklitterung nicht allein. Ob in den Broschüren der Zentralen für Politische Bildung, ob in Dokumentationen des Gebührenfernsehens, ob in Feierstunden: Es wird stets so getan, als sei die Geschichte der Bundesrepublik vor dem Mauerfall bloß Vorgeschichte gewesen. Nichts als ein spießiges kleines Provisorium, das auf der Weltbühne nicht viel zu melden hatte. Nicht viel anders als die DDR, nur eben besser weggekommen.

Also musste ich mir die Geschichte meiner, der Bonner Republik, notgedrungen selbst schreiben, so wie ich sie persönlich erlebt hatte. Meine Version der Geschichte schwelgt nicht in Nostalgie. Ich weiß, dass die Bonner Republik zwar kein Nationalstaat, dafür aber das Beste gewesen ist, was die deutsche Geschichte für ein selbstbestimmtes Leben seiner Bürger jemals hervorgebracht hat.

Die Bonner Republik ist einmal mein Land gewesen, ich musste keine Minute nachdenken über das, was Identität genannt wird. Heute bin ich eher auf Distanz zur real existierenden Bundesrepublik. Mir passte damals auch nicht alles, aber jetzt kommen mir Zweifel an der Richtung, die das Land nimmt. Doch ist mir klar, dass diese Fehlentwicklung nicht erst mit Merkel begonnen hat. Die Kanzlerin ist eher Symptom als Ursache. Warum ist Angela Merkel Kanzlerin geworden und kann sich in diesem Amt so lange halten? Es hat mit der Mentalität der deutschen Wähler zu tun. Mit ihren Ängsten und Wünschen.

Der Titel meiner kleinen Geschichte der Bundesrepublik spielt darauf an: „Die neurotische Nation“. Das ist alles andere als polemisch gemeint. Schließlich ist es in der Psychologie unbestritten, dass die Persönlichkeit aller Individuen auch von neurotischen Stilen bestimmt wird. Sie sind unterschiedlich stark ausgeprägt und gemischt. In der Regel balancieren sie sich aus. Neurotiker dagegen sind ängstlich, erregbar, verletzlich, unsicher.

Minderwertigkeitsgefühl prägt

Neurosen – nicht zu verwechseln mit krankhaften Psychosen – sind die Folge schlecht verarbeiteter traumatischer Erlebnisse. Die gibt es im individuellen Leben ebenso wie in der Geschichte von Gemeinschaften (wie Familien, Firmen, Gesellschaften), also auch von Nationen. Es ist ganz klar, dass die Katastrophe der Naziherrschaft das Trauma ist, das Deutschland als neurotische Nation bis heute prägt, sie ist der Dreh- und Angelpunkt der jüngeren deutschen Geschichte.

Das Minderwertigkeitsgefühl der Schuld wird durch ein moralisches Überlegenheitsgefühl kompensiert. Egal, wo die Deutschen stehen, sie stehen nur noch auf der richtigen Seite. Sie machen sich keine Feinde mehr. Sie haben alle Lektionen musterhaft gelernt.

Gespräch
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Mal erscheinen die Deutschen niedergedrückt von „German Angst“, mal wie besinnungslos vor Begeisterung von sich selbst wie im Jubel ihrer Willkommenskultur und übernehmen sich. Mal steigern sie sich in Verdrossenheit über Politik und Parteien hinein, mal besingen sie die Großartigkeit ihrer Kanzlerin. Stets wollen sie mehr, als sie kriegen können, und haben am Ende immer weniger, als sie bekommen könnten. Denn ihr Missvergnügen resultiert aus dem Missverhältnis zwischen Realismus und Wunschdenken, zwischen Pragmatismus und Moral.

Die Deutschen werden von zwei dominanten neurotischen Stilen gepeinigt, sie sind hin- und hergerissen und wissen nie, für welchen Weg sie sich entscheiden sollen (sie sind schizoid), und sie sind zwanghaft.

Politik ist neurotisch, wenn sie aus Angst auf bestimmte Gefahren fixiert ist und dabei andere, gravierendere Bedrohungen verkennt. Die Angst vor „rechts“ führt dazu, dass die Folgen unkontrollierter islamischer Zuwanderung unterschätzt werden, auch die Gefährdungen des Sozialstaats. Mangelnder Realismus bei der Einschätzung von Risiken ist neurotisch.

Vor allem ein neurotischer Stil prägt die deutsche Politik. Sie ist zwanghaft. In einer zwanghaften Organisation wird alles bis ins letzte Detail geplant, selbst das, was nicht planbar ist. In Deutschland wird nichts dem Zufall überlassen. Beherrschbar ist der Lauf der Dinge trotzdem nicht. Alle Seiten bedauern die Überregulierung des Staates, halten aber zugleich die Abschaffung jeder einzelnen Vorschrift für nicht angebracht, ungerecht oder unzumutbar. Eine neurotische Strategie besteht darin, innere Zwänge zu Sachzwängen zu erklären.

Utopien und Konformismusfalle

Ewig sucht der deutsche Mensch nach dem Perpetuum mobile, nach dem Erdklumpen, aus dem sich Gold machen lässt, nach der eisfreien Passage zwischen den Kontinenten der Freiheit und der Gleichheit. Er träumt von einer Gesellschaft in vollkommener Harmonie und Gerechtigkeit. Gelegentlich hat diese romantische Utopie totalitären Ideologien das Terrain bereitet. Nur haben die Deutschen diese Ursache des Verhängnisses niemals begriffen: Es ist ihr Unbehagen an der Freiheit.

Der Sozialstaat, der Steuerstaat reduzieren die Freiheit des Einzelnen. Nur empfinden es die meisten Deutschen nicht so. Der Freiheit des Individuums haben sie immer misstraut und ihr einen geringeren Wert zugemessen als dem Kollektiv. Zwar sind sie immer wieder Opfer kollektivistischer Ideologien geworden, haben aber daraus nichts gelernt. Sie glauben noch immer an das Heil in der Gemeinschaft. Die Deutschen stecken in der Konformismusfalle. Das individuelle Streben nach Glück, „pursuit of happiness“, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung steht, bedeutet hierzulande wenig. Das individuelle Glück hat sich in Deutschland stets dem kollektiven Glück unterzuordnen.

Auch deshalb gilt Zivilcourage in Deutschland traditionell nur dann etwas, wo sie dem Mainstream folgt. Viele in der DDR sozialisierte Bundesbürger haben nach der Wende in Westdeutschland vertraute Verhaltensweisen wiedererkannt. Duckmäusertum in den Redaktionskonferenzen ebenso wie in Parteigremien.

Gleichheit wichtiger als Freiheit

Es ist der Nanny-Staat, der von der Mehrheit klaglos akzeptiert wird. Die Deutschen verlangen auch mehr als gewöhnliche Gerechtigkeit, nämlich „gefühlte Gerechtigkeit“. Auch ist ihnen Gleichheit wichtiger als Freiheit. Das kommt daher, dass in Deutschland die negative Freiheit mehr zählt als die positive. Nicht Freiheit zu etwas, sondern Freiheit von allen Übeln, in der Regel mittels staatlichem Zwang.

Höchste Zeit zur Entbürokratisierung
Gerechtigkeit treibt Komplexität, die der Wohlfahrt schadet
Sozialpolitik aber taugt wenig, wenn sie nur dafür sorgt, die Hoffnungslosigkeit materiell erträglicher zu machen. Die Gerechtigkeitsdiskussion ist sinnlos, solange der Staat soziale Benachteiligung nicht mit Aufstiegschancen beantwortet. Ein moderner Staat steckt sein Geld in Fahrstühle. Die Deutschen bauen stattdessen die Keller aus. Sie sind keine Aufstiegsgesellschaft mehr.

In den Untergeschossen der deutschen Gesellschaft steckt auch das eigentliche Zuwanderungsproblem. Jahrzehntelang führte die Weigerung, Migration zum Nutzen des Landes zu gestalten, zu einer ungeregelten Form der Einwanderung.

Auch die Einheit ist den Deutschen von jeher wichtiger als die Freiheit. Sie verehren den Konsens. Eine demokratische Gesellschaft zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie weniger Konflikte produziert, sondern dadurch, dass sie diese Konflikte offen austrägt. Nichts ist alternativlos. Nur wer streiten kann, ist frei; nur wer frei ist, kann streiten. Die Deutschen aber lieben Geschlossenheit. Das erklärt auch die Degenerationserscheinungen der parlamentarischen Demokratie, wie sie gegenwärtig zu beobachten sind. Diese aber sind wiederum die Hauptursache der Politikverdrossenheit. Sie hat sich weitgehend in Resignation verwandelt. Aber auch Resignation kann Freiheit zerstören.

Im kommenden Jahr begehen wir den 70. Geburtstag der Bundesrepublik. Wer die Zeichen des Wandels zu lesen versteht und sich mit der Geschichte dieser Republik befasst, wird nicht umhinkönnen, sich mit den Neurosen der deutschen Nation zu befassen. Sie sind heilbar. Mentalitäten sind langfristig änderbar. So war es auch schon in der Vergangenheit. Aus den militaristischen Reichsdeutschen sind Pazifisten geworden. Aus Nationalisten Europäer. So wie sich Flugangst verhaltenstherapeutisch abbauen lässt, sind auch andere Ängste überwindbar. Ich habe Adenauer in diesem Sinne als Therapeuten im Kanzleramt beschrieben.

Dieser Staat ist auch heute überfrachtet mit Gefühlen und Erwartungen. Deshalb bin ich überzeugt: Die Deutschen haben praktische Vernunft nötiger als mehr Vaterlandsliebe. Vermutlich provoziert schon dieser einfache Satz auch viele Leser dieses Beitrags. Genau dies ist meine Absicht. Frei sein kann nur der, der auch frei ist von Neurosen. Darüber sollten wir streiten. 

Weiterlesen: Wolfgang Herles, Die neurotische Nation. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Adenauer bis Merkel. Edition Tichys Einblick, 320 Seiten, 22,99 €.


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