Tichys Einblick
Weltwirtschaft

Die Neue Seidenstraße

China stünde ohne Globalisierung heute nicht da, wo es steht. Damit es weiter wachsen kann, braucht es neue Handelswege und Handelspartner. China forciert deshalb in der „Belt and Road-Initiative“ die Revitalisierung der alten Seidenstraße

Getty Images | FBV

Der Drache schnaubt laut mitten in Europa. Er macht dabei viel Wind, der uns ins Gesicht weht: Firmenkäufe, Touristenmassen und die „Belt and Road“-Initiative, kurz BRI. Die Neue Seidenstraße ist sozusagen der lange Schwanz des Untiers. Bis nach China zurück reicht er. Dieser Schwanz ist eigentlich gegabelt, denn es sind zwei Systeme von Wegen nach China, insgesamt deutlich länger als der halbe Erdumfang: über Land und durch die Meere. Die Nasenspitze des Drachen liegt in Rotterdam.

Die (alte) Seidenstraße war einst ein Geflecht von Handelsrouten durch Zentralasien zwischen China und Europa. Sie steht für eine Zeit, als das Reich der Mitte sich anschickte, eine aktive Handelsbilanz mit der Welt aufzubauen, dazu noch in einer Region, welche die führenden Kulturen ihrer Zeit umfasste. China, das mongolische Weltreich, die Genese der Türken, die persische Ästhetik einschließlich des Erbes griechischer Expansion unter Alexander dem Großen und schließlich die Römer, ohne die unser Europa heute nicht denkbar wäre: All diese Völker, Kulturen und „Länder“ gehören dazu. Sie waren einst eng verbunden durch jene Straßen. China will dieses Verbindungsnetz revitalisieren.

Der britische Historiker Peter Frankopan spricht von der alten Seidenstraße als „Mediterra in seiner wahren Bedeutung“. Frankopans Mitte der Welt besteht aus einem Netz von Straßen, das über viele Jahrhunderte fast alle Bereiche der menschlichen Zivilisation zum Gegenstand des Austauschs machte: nicht nur Waren, sondern auch Ideen, Glaube und Religion. So etwas kann auch heute nur von Nutzen für alle Beteiligten sein. Doch was wollen die Chinesen genau?

Hier wird bereits das erste Missverständnis offenbar. Während Europäer und Amerikaner gewohnt sind, dass man in einem Vertrag klar beschreibt, worum es geht, glauben die Chinesen, dass man Verträge schließt, um zu handeln, und nicht, um alles Handeln bereits zu definieren. Und entsprechend klingt auch die Lobpreisung von Chinas Außenminister Wang Yi auf seinen Chef: „‚One Belt and One Road‘ ist eine strahlende Initiative, die China formuliert hat. Es gibt dabei keine Familie, die allein groß wird. Es gibt kein Mauscheln in dunklen Kästen. Es gibt keinen Gewinner, der alles auffrisst.“

Immerhin existiert ein Strategiepapier der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission. Es geht einerseits um verbesserte Abstimmung nationaler Politikziele, insbesondere aber um die Infrastruktur. Grenzen, Bürokratien, unterbrochene Straßenverbindungen oder unterschiedliche Eisenbahnspurbreiten sind Problemfelder, die jedem Reisenden sofort auffallen. China arbeitet deshalb mit Hochdruck an neuen, breiteren und schnelleren Straßen, Bahnstrecken, Bahnhöfen, Flughäfen, Logistikknotenpunkten und Häfen. Dass Zollverfahren vereinfacht, Handelsschranken am besten ganz fallen sollen, versteht sich von selbst.

Das alles muss finanziert werden. Dabei wollen die Chinesen und ihre Partner möglichst nicht in die Abhängigkeit des westlichen Finanzsystems geraten. China lädt deshalb dazu ein, der 2015 gegründeten Internationalen Asiatischen Infrastrukturbank und dem Silk Road Fund beizutreten.

Der Reisende betritt oder verlässt China auf dem Landweg immer durch ein Tor – das Guo Men. In Khorgos, wo Ostasien an Chinas Westgrenze endet, ist es besonders wuchtig: aus Beton, steril verklinkert. Hier entsteht nach chinesischen Vorstellungen, vor allem aber in chinesischem Hochgeschwindigkeitstempo das neue Zentrum der (Handels-) Welt. Der gewaltige Containerumschlagplatz für die Waren aus und nach Europa entsteht dabei beiderseits der Grenze, eine binationale Stadt nach dem Vorbild Shenzhens in Südchina.

Nur Verzehr, kein Anbau
Konjunktur: Deutschland im warmen Licht der Abendsonne
Ortswechsel an das andere Ende der Seidenstraße: Wir sind unterwegs auf einer deutschen Autobahn. Ich fahre, Wang und Xu sitzen im Fond des Wagens. Beide sind Geschäftsführer aufstrebender mittelständischer Betriebe in China und auf der Suche nach einem deutschen Partnerunternehmen, mit dem sie gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft meistern können, vor allem den Bereich E-Mobilität.

Xu sieht große Potenziale in Chinas BRI-Konzept. Sein Plan: den gesamten Iran mit E-Lastwagen „made in China“ zu beliefern. Der Markt sei da, die Verbindungen auch, was allein fehle, sei deutsche Präzisionstechnologie für Kupplungs- und Lenksysteme sowie die gute deutsche Logistik. Man könne deutschen Mittelständlern aussichtsreiche Kooperationsperspektiven anbieten.

Sanktionen gegen den Iran? Kein Problem. Wofür gibt es BRI und China als neuen Hub nach Zentralasien? Sanktionen kann man umgehen, und lieferbar ist alles via Schiene. „Dusibao – Duisburg“, sagt Xu – nur ein einziges Wort. Wir fahren weiter auf der A2 Richtung Ruhrgebiet, vor uns eine Baustelle, die dritte in Folge. Die Spur verengt sich in typischer Weise.

Louhou – rückständig

Der Mercedes holpert über die Platten der alten Autobahn. Wang bricht sein Schweigen: „Als ich vor 15 Jahren nach Deutschland kam, war ich begeistert von der Fortschrittlichkeit des Landes – im Vergleich zu China. Ich glaubte, überall rasen die Deutschen mit ihren tollen Autos mit Tempo 200 über perfekt gebaute Autobahnen. Doch was sehe ich jetzt: kaputte Straßen, endlose Baustellen. Mir fällt dazu nur ein Wort ein: „luohou“ – rückständig.“ 

Luohou. Dieses Wort hörte ich in den 90er-Jahren fast täglich in China. Reiste ich durch das Land und kam abends nach zwölf, 13 Stunden Fahrt gerade einmal 300 Kilometer weiter an meinem Zielort im Irgendwo an, begrüßten mich Einheimische mit ungläubigem Staunen und zuweilen mit abweisendem Gesichtsausdruck: „Was treibt dich zu uns, aus deinem entwickelten Deutschland? Willst du dich über uns lustig machen? Wir sind luohou – wir sind rückständig.“

Klingt fast wie ein Witz heute. Das Wort luohou schien aus dem chinesischen Wortschatz verschwunden, bis es in Deutschland wiedergeboren wurde – unterwegs mit Wang und Xu auf dem einstigen Exportschlager der Republik, der Autobahn. Deutschland gilt als wirtschaftlicher Führer Europas. Wenn das Topland der Europäischen Union schon rückständig ist, was soll man dann über den Rest Europas sagen?

Wir nähern uns Duisburg und verlassen die mit Baustellen durchsetzte Autobahn. Duisburg-Rheinhausen ist erreicht. Hier sollen die China-Züge ankommen. Neben uns alte Gleise, auf denen Container aus China mit der Aufschrift „Yangming“ zu sehen sind. Das ist im Grunde alles, was auf BRI und die Zukunft chinesisch-deutschen Handels hinweist.

Sonst typisches Ruhrgebietsgrau. Neu gebaut wurde hier schon lange nichts mehr. Der Bahnhof wie vor 20 Jahren, provinziell. Wang kommentiert das Ganze: „Warum bauen die hier noch keine Hochgeschwindigkeitsbahn mit einem schönen neuen Bahnhof dazu? Das hier ist doch Schrott, alles rostig, dazu ist noch alles schmutzig.“

Er deutet auf die grauen Wände mit den Graffitis gegenüber. Duisburg, Deutschlands Tor nach China, glorioser Endpunkt der Seidenstraße. Im Hintergrund rostige Hochofentürme und Stahlwerkrohre. Schrott in den Augen der potenziellen Investoren. Eine EU-Flagge auf einem Schild, das kaum begonnene Bauarbeiten ankündigt, kontrastiert mit den Graffiti-Mauern nebenan. Die zwölf Sterne auf blauem Grund. Als der Europarat Ende 1955 in Paris beschloss, die Fahne als Symbol für das neue, befriedete Europa zu verwenden, war man stolz auf ihre Symbolik. Das Banner für eine strahlende, gemeinsame Zukunft: „Gegen den blauen Himmel der westlichen Welt repräsentieren die Sterne die Völker Europas in einem Kreis. Das ist das Symbol der Einigkeit. Ihre Zahl soll fest auf zwölf festgesetzt werden. Das ist das Symbol für Vollständigkeit und Perfektion.“

Klingt erneut wie ein Witz. Die Flagge war eine Vision, vielleicht die erste und letzte, die Europa hatte. Den Kontrast bildet die zersplitterte EU des 21. Jahrhunderts. Die Europäer werden immer „kleiner“, wie Jochen Bittner in der „Zeit“ zur Neuen Seidenstraße schreibt, wobei sich der Kolumnist verwundert die Augen reibt, dass dieses China nun wieder so groß – oder größer denn je – auf der Welt ist.

Binnen-Exit?
Die Auflösung der EU könnte schon im Gange sein
Ja, die Europäer hadern, wenn es ihnen gelingt, aus der Kleinheit ihrer tagtäglichen Dauerbeschäftigung mit Flüchtlingsthemen und Ähnlichem einen größeren Blick auf die Welt zu riskieren. Und hilflos klagt manch ein Europäer an, so wie Bittner in seiner Kolumne, wenn er von China als einem „ruchlosen Handelsriesen“ spricht, der im Begriff sei, Europa zu „deklassieren“.

Darin schwingt der Anspruch auf den gewohnten Erfolg mit, der nun auszubleiben droht. Man hat sich eben daran gewöhnt, immer an der Spitze zu spielen, und nicht gemerkt, dass andere mittlerweile besser geworden sind. Deutschland und die WM in Russland 2018 als Gleichnis für das Verhältnis der „alten“ EU zum „neuen“ China. Selbstherrlichkeit, Behäbigkeit, Visionslosigkeit, moralisches Überlegenheitsgefühl und, und, und. Wie nehmen die ambitionierten Chinesen dieses Europa wahr?

EU wird als Problemhaufen gesehen

„Wer von außen auf eine Sache blickt, sieht klarer“, lautet eine viel zitierte chinesische Redewendung. Für chinesische Europa-Experten wie Liu Zuokui von der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, einen jungen und ambitionierten Osteuropa-Kenner, ist die EU eine konzentrierte Problemsammlung: „Die EU steckt in einer Serie von Krisen, die es schwer machen, sich mit der Belt-and-Road-Initiative Chinas wirklich zu beschäftigen. Vor dem Hintergrund von Flüchtlingskrise, Brexit, der Ukraine-Krise und dem Populismus […] besteht die Hauptaufgabe für die EU darin, sich mit dem Problem fehlender innerer Kohäsion zu beschäftigen und die Union davor zu bewahren, auseinanderzubrechen […]. Es ist schwer für die EU, zu jenen Sternstunden einer vereinten und starken Union zurückzufinden, und ihre Einflüsse in der Welt werden schwächer und schwächer. Für jene, die in Europa an der Macht sind, ist es ein Hauptanliegen, die EU zu retten und ihren fortgesetzten Niedergang aufzuhalten“, schreibt Liu Zuokui.

Er ist nicht der Einzige. China hat die Europäer als Mitgestalter von BRI eingeladen. Bei aller Kritik an möglichen chinesischen Versuchen, die Europäische Union zu unterlaufen, sollte eines klar sein: Am Niedergang der Europäischen Union sind nicht die Chinesen und ihre BRI-Politik schuld, sondern einzig und allein die Europäer selbst.

Innovation
Kein Handelskrieg, sondern ein High-Tech-Krieg
Die Risse und Mauern, die sich durch die Union ziehen und sich entlang ihrer Außengrenzen gebildet haben, sind Folgen des europäischen Verhaltens. Wer hier China oder andere Mächte am Werk sehen möchte, die entscheidend dazu beitrügen, dass das wunderschöne gemeinsame Haus Europa aufgrund geheimer chinesischer Abrissarbeiten zusammenkracht, scheint mir doch zu sehr ein Fan beliebter Verschwörungstheorien zu sein.

Chinesen kennen den harten globalen Wettbewerb, dessen Hauptakteur sie selbst sind. Sie fragen sich, wie eine so entscheidungsschwache Institution wie die Europäische Union jemals dem immer schärferen Wind des internationalen Wettbewerbs standhalten soll. Mangelnde Führungsstärke und Unfähigkeit zur wirklichen Vereinigung liege im Wesentlichen auch an den Mentoren europäischer Einigkeit. Das seien eindeutig Deutschland und Frankreich. Doch beide hätten ein schwerwiegendes Problem miteinander. Im Grunde habe nur Deutschland als ökonomisch stärkstes Land der EU die Fähigkeit zu führen, doch dagegen hätten nicht zuletzt die Franzosen etwas.

Zum einen wittert man nicht zu Unrecht historische Gründe, zum andern aber zeige gerade Deutschland in den vergangenen Jahren alles andere als verlässliche, klar erkennbare Verhaltensweisen auf dem europäischen Parkett. Manch ein chinesischer Deutschland-Fan – und davon gibt es einige – rieb sich immer wieder verwundert die Augen, als er im Zuge der europäischen Flüchtlingskrise der Jahre 2014 bis 2016 Deutschland zuerst im Alleingang die Grenzen öffnen und dann wieder schließen sah, als selbst seine politische Elite merkte, dass man da etwas losgetreten hatte, was nicht wieder zu befestigen war.

Die EU wirkt auf China „wie ein Rudel Drachen ohne Kopf“

Die früher bewunderte europäische Führungsnation, die Chinesen in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht als Partner überaus schätzen, ruft bei manchem politischen Beobachter aus dem Reich der Mitte nur noch verächtliches Mundwinkelzucken hervor. Wie kann man als Führungsnation nur so unverantwortlich handeln? Ein weiser Herrscher muss sein gesamtes Staatsgebilde überblicken und mit eindeutigen Prinzipien regieren.

Ding Yuanhong hat eine schöne chinesische Metapher für die EU gefunden: „Sie ist wie ein Rudel Drachen ohne Kopf.“ Und solche Drachen gelten im Reich der Mitte als nutzlos.

Aus politisch-kulturellen Gründen steht China heute den neu beigetretenen mittel- und osteuropäischen Staaten näher. Daher gründete man die 16+1-Plattform mit China und 16 mittel- und osteuropäischen Staaten – und rief den Unmut der EU-Kommission hervor. Ein Punkt der chinesischen Kritik an der EU ist auch, dass man die Bürger der ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas als „Bürger zweiter Klasse“ behandle. Den offensichtlichen kulturellen und ideologischen Graben, der nach so langer Zugehörigkeit zum sozialistischen Block noch existieren muss, kann man nicht so leicht überwinden.

Die Europäische Union wirkt auf chinesische Beobachter wie ein schönes, blau angestrichenes Haus, das beim Näherkommen nicht nur zahlreiche Risse, sondern so viele unterschiedliche Räume in so verschiedenartigen Stilrichtungen aufweist, dass man sich nicht vorzustellen vermag, eine Familie könnte darin wohnen. Eher hat man es mit einer bunt zusammengewürfelten Wohngemeinschaft zu tun, bei der sich die Frage stellt, warum sie überhaupt unter einem Dach lebt. Streitereien sind an der Tagesordnung. Die Ersten haben schon ihre Räume gekündigt, und der Rest streitet sich um ausstehende Mietzahlungen und Begleichung von Schulden sowie natürlich über neue Mitbewohner.

Ein solches Szenario ist eine Horrorvorstellung für eine Gesellschaftskultur wie die chinesische, die dem Prinzip des „großen Gemeinsamen mit kleinen Unterschieden“ („datong xiaoyi“) folgt und einen Staat als „Familie“ bezeichnet.

Für China gibt es zum Projekt BRI keine Alternative. Ohne die Globalisierung wäre diese Nation heute nicht das, was sie ist, und ohne die Neuen Seidenstraßen droht die Globalisierung, an der auch Deutschland hängt, stecken zu bleiben. Die Seidenstraßen-Initiative ist ein offenes Netzwerkmodell, begründet auf bilateralen Beziehungen, die gleichwohl einen globalen Handel ermöglichen. Deutschland sollte sich von dieser Entwicklung nicht abkoppeln.


Beitrag aus: Marcus Hernig, Die Renaissance der Seidenstraße. Der Weg des chinesischen Drachens ins Herz Europas. Edition Tichys Einblick im FinanzBuch Verlag, 256 Seiten, 22,99 €.

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