Die Verkettung von Krisen ballt sich zu einer einzigen überlebensgroßen Krise. Sie hat sich eingenistet, ist gekommen um zu bleiben. Die Politik hat ihr Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Als gäbe es ein Asylrecht für Krisen. Was Krise genannt wird, ist der neue Normalzustand. In gewisser Weise ein Gleichgewicht des Schreckens, verursacht durch schrecklich viele Verfehlungen. Die Berliner Republik steckt nicht in einer Krise, so wie viele andere Länder auch. Sie ist eine Krise.
An der großen Krise laben sich viele: Besserwisser, Moralisten, Idealisten, Ideologen, Bürokraten, Populisten, Gesundbeter, Prediger, Paniker, Hysteriker, das Panoptikum der Volltrottel im öffentlichen und öffentlich-rechtlichen Dienst. Die Diensthabenden auf der Brücke verweisen auf ihre goldenen Streifen an den Ärmeln. Fürchtet euch nicht, wir sind ganz bei uns. Je größer die Krise, für desto unverzichtbarer halten sie sich. »Haltet euch fest!«, sagen sie. Nur woran? Notfallpläne treten in Kraft. Von der Krise überfordert, erklären sie diese für unausweichlich. Mit der großen Krise rechtfertigt das Personal seine Tyrannei über die Passagiere.
»Wir schaffen das«: In der gröbsten der selbst gestrickten Krisen versuchte es Angela Merkel mit diesem Slogan Der Satz steht für immer als Menetekel an der Wand. Niemand glaubt mehr an die Macht des guten Willens. Da muss schon noch etwas dazukommen: Verstand, Vernunft, Augenmaß. Wir schaffen die große Krise nicht. Wir machen es uns allenfalls vor.
Die Grünen wollen die große Krise nicht bewältigen. Mit voller Kraft sollen unfreie Gutbürger geschaffen werden und sich an eine neue Lebensform gewöhnen. Das ist für sie der tiefere Sinn der großen Krise.
Es sind die zwei schönsten Sommertage des Jahres 2022, herrlich warm, fast mediterran. Doch scheint etwas Schreckliches vorgefallen zu sein. Die Straßen fast leer, sogar die Münchner Biergärten gähnen in der Mittagsbrise. Hat der Kapitän des Teams Vorsicht schon wieder eine Ausgangssperre verhängt, diesmal wegen mörderischer Außentemperaturen? Darum muss sich Markus Söder diesmal nicht auch noch kümmern. Das Volk hat sich ganz von allein in Sicherheit gebracht.
Die Rauchmelder leicht entflammbarer Wissenschaftler schlagen Alarm, nach den Virologen die Klimaforscher. Der lodernde Bundesgesundheitsminister gibt bekannt: Dieser Sommer ist »lebensgefährlich«. Die Wetterberichte vermeiden das Wort Wärme, selbst Hitze kommt nur noch als »Gluthitze« vor. Zwei hochsommerliche Tage in Folge sind bereits eine »Hitzewelle«. Sie wird mit Bildern von Waldbränden illustriert, die damit gar nichts zu tun haben. Wie bei Corona folgt eine Welle der nächsten. Ein echter Sommer – eine echte Katastrophe.
Das Volk ist leicht zu ängstigen. Von den tödlichen Folgen dessen, was nicht mehr Sommer heißen darf, sondern Klimakatastrophe heißen muss, leben Nachrichten- und Sondersendungen (die Talkshows befinden sich in Sommerfrische). Notfallmediziner geben Tipps und mahnen unmündige Bürger, das Trinken nicht zu vergessen. Unter freiem Himmel breite sich quasi eine Todeszone aus.
Ja, die Sommer sind wärmer geworden, einer der wenigen Gründe, weshalb man es in diesen Breiten unter all den Irren noch aushält. So lange, bis im Herbst wieder alle frieren, aber nicht heizen – für den Frieden oder für das Klima oder für beide. Die Deutschen sind das einzige Volk, das es schafft, gleichzeitig zu verbrennen und zu erfrieren.
Die schöne, neue Normalität hat einiges für sich. In ihr vermeint der grüne Spießbürger den Atem der Geschichte zu verspüren. Ein feines Beben. »Ein kristallenes Zittern« (Enzensberger, Der Untergang der Titanic). Krise prickelt. Krise berauscht. Die große Krise riecht nach Sinn. Man könnte von Transformationssucht sprechen. Sie wäre ein Fall für Psychologen. Kollektiv erfasst sind davon die Grünen. Ihre Politiker glauben, Fortschritt komme nicht ohne Krise aus. Jedenfalls das, was sie für Fortschritt halten.
Über die große Krise wölbt sich die Krise des Krisenmanagements. Überforderung, Unvermögen, Selbstzufriedenheit, Schönfärberei, all das und dazu die neudeutsche Eigenart des Scheißegalismus. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass die traditionelle Sehnsucht nach Führung, von der bis zuletzt Angela Merkel profitierte, einer neuen Angst weicht, der Angst vor dem Versagen der Führung.
Die meisten Deutschen wollen von Politik nicht behelligt werden. Lieber akzeptieren sie, was über ihren Köpfen hinweg ausgehandelt wird. Nichts ist schneller und zuverlässiger zu vernehmen als der Ruf nach Schluss der Debatte, selbst wenn die noch gar nicht richtig begonnen hat. Zwar ist »klare Kante« durchaus erwünscht, aber wehe, jemand eckt damit an. Eine oder einer an der Spitze muss und soll das Ganze regeln, selbst wenn es sich nicht regeln lässt, weil man sich noch nicht einmal über die Regel verständigt hat.
Eine gern genommene Regel lautet: Folge der Stimmung. Stimmungen sind flüchtig, weil sie Illusionen sind. Nicht alle Illusionen können demoskopisch gemessen werden. Manche Illusion schöpfen die Regierenden aus sich selbst, was die Sache nicht besser macht. Führen müsste bedeuten, die Dissonanz zwischen Wirklichkeit und Illusion zu managen.
Das Einzige, worauf man sich leicht verständigen kann, ist das finanzielle Abfedern von Krisenfolgen. Man überlässt einen Teil der Kosten denen, die noch nichts zu sagen haben, den Steuerzahlern von morgen.
Das große WIR ist schwer in Mode. Beim sogenannten Debattenkonvent der Kanzlerpartei SPD wurde der »Transformationssoli« erfunden. Soli! Soli-darität. Das Wort zergeht zunächst angenehm auf der Zunge. Solidarität gibt es nur freiwillig, ein Soli aber ist purer Zwang. Nach diesem Muster könnte man auch die Fernsehgebühren Soli nennen. Demokratiesoli.
Anderen Ländern geht es noch schlechter als Deutschland. Soll das ein Trost sein? Sie sind schwächer. Deutschland bleibt unter seinen Möglichkeiten. Das Argument, Putin sei an allem schuld, zieht auch nicht. Gas wird »einzig und allein deshalb knapp und unbezahlbar, weil Russland es so will – und nicht wegen irgendetwas, das
Scholz, Habeck, Baerbock, die Grünen, die SPD, die Bundesregierung oder irgendein westlicher Staatschef getan, gesagt oder beschlossen haben.« So steht es tatsächlich im woken Amtsblatt Die Zeit. Unsinn. Die falsche, riskante, ideologisch motivierte Energiewende hat lange vor Russlands Angriff begonnen.
Wo bleiben die großen Zukunftsdebatten im Parlament? Ausgerechnet dessen Präsidentin, die SPD-Politikerin Bärbel Bas forderte Ende 2022 Schluss der Diskussion um die Kernenergie. Damit schadet sie nicht nur der Energieversorgung, sondern auch der Demokratie.
Das Trilemma der falschen Energiepolitik: Es gibt außer der Atomenergie keine Energiequelle, die alles zugleich wäre: sicher, preiswert und klimafreundlich. Die Regierung muss sich entscheiden, welche der drei Eigenschaften ihr wichtiger und dringlicher ist als die anderen beiden. Was preiswert ist, ist nicht klimafreundlich. Was klimafreundlich ist, ist nicht sicher. Die große Lüge der grünen Wirtschaftspolitik steckt in der Behauptung, sie stehe für »sichere, saubere, bezahlbare« Energie. In dieser vorgetäuschten oder – nicht besser – echten Weltfremdheit steckt der Kern der Krise. In Wahrheit interessieren sich die Grünen nur für ihre Energiewende. Bezahlbare und sichere Energie, das war einmal.
Auf Energiemangel und Teuerung arbeiten die Klima-Fundamentalisten schon lange hin. Mit Putins Krieg haben sie nicht gerechnet, nun kommt er ihnen unverhofft entgegen. Auf den Krieg können sie vieles schieben, auch die selbst verschuldete Krise. Wenn die grüne Vorsitzende Ricarda Lang feststellt, »Die Grünen sind dabei, die neue Wirtschaftspartei zu werden«, ist das keine Ankündigung, es ist eine schwere Drohung.
Leicht gekürzter Auszug aus:
Wolfgang Herles, Mehr Anarchie, die Herrschaften! Eine Anstiftung. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, ca. 160 Seiten, 22,00 €