Es ist eine eher banale Feststellung, dass die repräsentative Demokratie sich in vielen westlichen Ländern in einer Krise befindet. Wähler misstrauen mehr denn je den traditionellen Parteien und wenden sich von ihnen ab, links wie rechts. Die Volksparteien erleben einen beispiellosen Niedergang, weil die Milieus, die ihre Basis gebildet hatten, erodieren. Ja mehr noch, wir nähern uns zum Teil einem Zustand an, wo radikale Gruppierungen von Links und von Rechts mit der Idee zu liebäugeln beginnen, mit außerparlamentarischen Mitteln ihre Ziele durchzusetzen. Gerade auch in Deutschland, das noch vor 10 Jahren ein Land mit einer durch und durch stabilen politischen Ordnung zu sein schien, gerät vieles ins Wanken. Die Hysterie, mit der viele Politiker aber auch weite Teile der Medien auf die Krise reagieren, ist mit Sicherheit nicht die richtige Antwort auf diese Herausforderungen, auch wenn manche stark emotional gefärbte Reaktion verständlich sein mag. Was wir benötigen, ist eine kühle Analyse der Lage, nicht zum Beispiel der Ruf nach Zensurmaßnahmen, die die Diskussion über unerfreuliche Fakten unmöglich machen sollen, weil die „falschen“ Leute solche Fakten instrumentalisieren könnten.
Das Buch das hier besprochen werden soll, setzt sich freilich nicht mit der Situation in Deutschland, sondern primär in Großbritannien auseinander, das im Zuge des Kampfes um den Brexit seine eigene fundamentale Krise erlebt hat, auch wenn am Ende die Auseinandersetzung auf ganz klassische Weise entscheiden wurde: durch eine Parlamentswahl, die dann auch ein eindeutiges Ergebnis erbrachte, obwohl diese Eindeutigkeit vor allem dem englischen Mehrheitswahlrecht geschuldet war. Lord Sumption, ein früherer Richter des Supreme Court und Law Lord setzte sich in den BBC Reith Lectures, deren Text jetzt vorliegt, freilich nicht mit dem Brexit auseinander, sondern mit dem Verhältnis von Rechtsprechung und Politik. Unter Politik versteht er hier in erster Linie die Möglichkeit, mit Hilfe demokratischer Prozesse einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen zu erzielen und durch den Vorgang der Diskussion selber und die Möglichkeit der politischen Partizipation Legitimität für Entscheidungen zu generieren.
In der Rechtsprechung – und hier geht es in erster Linie um Urteile, die politische Bedeutung haben und im weitesten Sinne des Worte zur verfassungsrichterlichen Jurisdiktion gehören – steht anderes im Vordergrund. Eine vorgegebene Verfassungsordnung soll gegen eine Regierung oder Parlamentsmehrheit geschützt werden, die die Grundprinzipien dieser Ordnung nicht respektiert oder zumindest mit ihnen ein frivoles Spiel treibt und die Rechte von Minderheiten jeder Art sollen gegen eine potentiell tyrannische Mehrheit verteidigt werden. Darüber hinaus geht es vor allem in Bundesstaaten darum, Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bundesregierung und Gliedstaaten zu entscheiden oder beizulegen. Aus diesem Grund besitzen Bundesstaaten wie die USA und Deutschland in der Regel starke Verfassungsgerichte mit weitgehenden Möglichkeiten zur Intervention. Das Gleiche gilt für die EU, in der der EuGH sich freilich weniger als Schiedsrichter zwischen Brüssel und den Einzelstaaten versteht, sondern als Motor der Integration Europas.
Auf dem Weg zu uneingeschränkten Richterherrschaft?
Sumption geht von der Feststellung aus, dass in den letzten Jahrzehnten in der westlichen Welt, auch in Ländern wie England oder Frankreich, in denen noch in den 1960er und -70er Jahren ein Eingriff von Gerichten in die Gesetzgebung fast undenkbar gewesen wäre, Gerichte, und zwar sowohl nationale wie internationale, einen zunehmenden Einfluss auf politische Fragen gewonnen haben. Auf europäischer Ebene blickt er dabei vor allem auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der namentlich in den letzten 20 Jahren seine Kompetenzen stillschweigend immer weiter ausgeweitet hat. Aus relativ vage formulierten Artikeln der europäischen Menschenrechtskonvention wie etwa dem Artikel 8 (Schutz des Privat- und Familienlebens) werden immer weitergehende Individualrechte abgeleitet. Materien, zu denen der Gerichtshof in Straßburg Stellung genommen hat, reichen vom Mietrecht über das Arbeitsrecht und die mögliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten bis hin zum Rechtsanspruch auf künstliche Befruchtung.
Wir Deutschen haben dennoch bis in die jüngste Vergangenheit mit unserem Verfassungsgericht eher positive Erfahrungen gemacht – ob das in der jetzigen Krise des Parteiensystems noch so bleiben wird, ist freilich unklar. Aber gerade wenn man den politischen Parteien und ihren Vertretern mit Grund misstraut, wird man ein starkes Verfassungsgericht als Gegengewicht vermutlich zu schätzen wissen. Sumption, der freilich auch vor dem Hintergrund einer ganz anderen Verfassungstradition argumentiert, sieht das jedoch anders. Er sieht die Gefahr, dass individuelle Ansprüche etwa auf staatliche Leistungen oder auf umfassenden Schutz zum Beispiel gegen eine vermeintliche Diskriminierung, die politisch in Wirklichkeit umstritten sind, durch Gerichtsurteile der politischen Diskussion entzogen werden. Der Gesellschaft werden damit – potentiell – Werte aufgezwungen, die möglicherweise eine Mehrheit der Bürger gar nicht teilt. Selbst wenn es nur eine substantielle Minderheit ist, die andere Wertvorstellungen hat, verliert diese durch die Art der Entscheidung – durch einen Prozess vor Gericht – die Möglichkeit, ihre Argumente in die Debatte wirksam einzubringen und die Gegenseite durch ihre Opposition zu Zugeständnissen zu nötigen.
Die USA als Negativbeispiel
Nirgendwo werden die Gefahren einer allzu ausgeprägten Richterherrschaft, so Sumption, deutlicher als in den USA. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die amerikanische Verfassung sich nur sehr schwer auf dem Weg der Gesetzgebung verändern lässt. Ihre Fortentwicklung durch die Rechtsprechung ist daher fast schon alternativlos. Allerdings wird in den USA auch deutlich, wir stark die politische Einstellung von Richtern die Rechtsprechung beeinflussen kann. Im Zeitraum zwischen ca. 1895 und 1940 wurde das Gericht z. B. von Gegnern jeder Einschränkung der Vertragsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt dominiert. Als Ideal galt das freie Spiel der Kräfte in einer rein kapitalistischen Wirtschaftsordnung. An die 150 Gesetze und Verordnungen, die Arbeitnehmern mehr Schutz gewähren sollten, etwa durch eine Beschränkung der Arbeitszeit oder durch gesundheitliche Mindeststandards am Arbeitsplatz wurden vom Gericht als illegal verworfen. Später, vor allem seit den 1970er Jahre setzte dann eine stark Gegenbewegung ein; das Gericht wurde von eher linksliberalen Juristen dominiert. Es leitete aus der Verfassung nun sukzessive sowohl das Recht auf Abtreibung wie auch – in jüngster Zeit – auf eine gleichgeschlechtliche Ehe ab. Der Text der amerikanischen Verfassung, der nach 1870 nur durch insgesamt 11 Zusatzartikel verändert wurde (zuletzt 1992), bietet für solche Urteile eigentlich wenig Anhaltspunkte, aber allgemeine Prinzipien wie „due process“ (individuelle Rechte dürfen nur im Kontext eines rechtsstaatlichen Verfahrens eingeschränkt werden), die Menschenwürde und der Anspruch auf den Schutz der Privatsphäre, können fast beliebig ausgedehnt werden, so dass sich fast jedes Individualrecht aus solchen Maximen ableiten lässt, wenn bei den Richtern der politische Wille vorhanden ist, das zu tun.
Dass unter solchen Umständen die verfeindeten politischen Lager jeweils versuchen, möglichst viele Parteigänger auf den Richterstühlen des Supreme Court zu platzieren, um so die Rechtsprechung zu lenken, wundert einen dann nicht. In Deutschland dominiert bei der Ernennung von Verfassungsrichtern eher ein Proporz- und Konsenssystem, das Auswüchse wie in den USA bislang eher verhindert hat, aber dass es hier keine Versuche gäbe, Entscheidungen des Gerichtes personalpolitisch zu steuern, wird man wohl kaum behaupten können. Man denke an die jüngste Nominierung eines CDU-Bundestagsabgeordneten zum Verfassungsrichter (und zum designierten Präsidenten des Gerichtes) oder an die durchaus ansatzweise erfolgreichen Bemühungen der Grünen, möglichst viele Juristinnen mit einem klar feministischen politischen Programm in Karlsruhe unterzubringen. Auch in England werden seit den jüngsten Interventionen des Supreme Court in die Auseinandersetzungen über den Brexit die Rufe lauter, dem Parlament – sprich der Regierung und den Parteien – Einfluss auf die Ernennung der höchsten Richter zu gewähren, einen Einfluss, den es so in England anders als in Deutschland bislang nicht gibt.
Solche Manöver können auf die Dauer dazu führen, dass die Richter nicht mehr als wirklich unabhängig gelten, sondern nur noch als juristische Vertreter eines bestimmten ideologischen Lagers, wie das in den USA schon weitgehend der Fall ist.
Das Ende der klassischen Form der Demokratie?
Ob die Tendenz zur Juridifizierung von Wertkonflikten wirklich schon so weit fortgeschritten ist in der westlichen Welt – außerhalb der USA – wie Sumption meint, darüber kann man streiten. Aber nicht wirklich strittig ist, dass gerade in Europa die Fähigkeit von Regierungen und Parlamenten, eigenständig Entscheidungen zu treffen, heute viel stärker als vor 30 oder 40 Jahren eingeschränkt ist durch die Möglichkeit von Gerichten, sowohl nationalen wie supranationalen, unter Berufung auf allgemeine Menschenrechte oder abstrakte Verfassungsprinzipien wie die Würde des Menschen Gesetze in ihrer Geltung zu begrenzen oder gar aufzuheben.
Darin kann man durchaus auch einen Fortschritt sehen, aber dieser Fortschritt hat einen Preis. Er besteht im Extremfall darin, dass man Ende die Demokratie zur bloßen Fassade wird, weil die eigentlichen Entscheidungen von Richtern getroffen werden. Die Gefahr einer Schwächung der Demokratie wird noch größer, wenn gleichzeitig politische Kompetenzen zu intransparent agierenden supranationalen Gremien, die einer demokratischen Kontrolle nicht mehr wirklich zugänglich sind, hin verlagert werden wie in der EU. Verstärken sich solche Tendenzen, dann, so Sumption, würde man am Ende gar nicht mehr merken, dass die Demokratie als Staatsform nicht mehr existiert; die demokratischen Institutionen gäbe es ja noch, auch wenn sie ihre ursprünglichen Kompetenzen weitgehend verloren haben und die demokratische Rhetorik auch noch. Aber diese demokratische Rhetorik sei dann nur noch ein leeres Wortspiel. Es gäbe noch eine Fassade, dahinter aber nur noch ein Vakuum.
Die Gefahr einer solchen Entwicklung besteht nicht zuletzt darin, so kann man Sumptions Ausführungen ergänzen, dass eine solche Fassadendemokratie nicht mehr genug Legitimität für politische Entscheidungen generieren kann. Der Bürger würde die Herrschaft staatlicher Organe zunehmend als eine Art Fremdherrschaft empfinden. Wie gefährlich eine solche Entwicklung ist, muss kaum in Einzelnen erörtert werden. Im besten Fall ziehen sich Bürger ins Private zurück und suchen in Patronagenetzwerken, die staatliche Regeln wirksam unterlaufen, oder im Verbund der erweiterten Familie Schutz vor einem Staat, den sie als fremd, wenn nicht gar als ihren Feind an sehen, im schlimmsten Fall kommt es zu einer politischen Radikalisierung mit einer Tendenz zur Gewalt. Sicherlich gibt es auch ganz andere Ursachen für eine solche Entwicklung als eine allzu anmaßende Gängelung der Politik durch die Rechtsprechung, aber wir sollten uns dennoch bewusst bleiben, dass der ständige Ausbau der Kompetenzen von Gerichten gegenüber der Politik seine Gefahren mit sich bringt. Er kann die Integrationskraft demokratischer Institutionen schwächen. Hier muss man Sumption grundsätzlich zustimmen, auch wenn schwer zu sehen ist, wie die Entwicklung der letzten ca. 50 Jahre gänzlich zurückgedreht werden könnte, auch in Großbritannien nicht.
Was Deutschland betrifft, sind hier freilich die Gefahren, die von den europäischen Gerichten (EuGH und Gerichtshof für Menschenrechte) ausgehen, ungleich deutlich größer als die potentiell negativen Entwicklungen, für die man Karlsruhe eventuell verantwortlich manchen könnte, selbst wenn man geneigt ist, einige Urteile der jüngsten Zeit als Fehlurteile zu betrachten. Die europäischen Gerichte haben kaum politische Bodenhaftung. Weil es keine echte europäische Öffentlichkeit gibt, bewegen sich die Richter viel eher in einem abgeschotteten Raum, in dem nur ihre persönlichen juristischen Leitideen dominieren, und sind eher geneigt, die disruptiven gesellschaftlichen und eventuell auch wirtschaftlichen Folgen ihrer Urteile vollständig zu ignorieren. Man denke an das EuGH-Urteil vom 2011 zu Einheitstarifen bei Versicherungen, ohne Differenzierung nach dem Geschlecht. Dazu kommt, dass die dominanten Wertvorstellungen in Europa auch national weiterhin recht heterogen sind. Versucht man hier auf dem Wege der Rechtsprechung eine Homogeniserung der Wertesysteme zu erreichen, kann das auch zur Implosion des gesamten Systems führe, wie es sich zur Zeit in Polen und Ungarn andeutet, wo die Revolte gegen Brüssel, Straßburg und Luxemburg ihrerseits zu einer starken Radikalisierung geführt hat.
Noch wäre es Zeit, traditionelle demokratische Institutionen im Rahmen des Nationalstaates wieder zu stärken und den Machtanspruch der Gerichte einzudämmen. Aber auf dem Kontinent scheint anders als in Großbritannien in den maßgeblichen politischen und intellektuellen Kreisen das Gespür für die Probleme, mit denen wir auf diesem Gebiet konfrontiert sind, weitgehend zu fehlen. Jede neue Krise wird nur mit der Parole beantwortet, dass man auf dem bisherigen Weg umso energischer und rascher fortschreiten müsse, ohne zurückzublicken. Und wenn doch etwas schief läuft, sind dafür die bösen „Populisten“ verantwortlich – natürlich nur die von rechts, nicht die von links. Dass der eingeschlagene Weg falsch sein könnte, darüber nachzudenken ist tabu. Zumindest diese Art von Blindheit scheint die politische Kultur in Großbritannien, mag sie auch ihre eigenen Defizite aufweisen, nicht in gleichem Maße zu prägen.
Jonathan Sumption. Trials of the State: Law and the Decline of Politics, London 2019, 112 S.