Tichys Einblick
50 Jahre Umerziehung

Die Linke und ihre Utopien – eine ideologiekritische Auseinandersetzung ist überfällig

Der 50. Geburtstag von »68« wurde mit viel Weihrauch und Heiligsprechung begangen, doch praktisch ohne Kritik und Selbstkritik. Dabei haben die 68er eine höchst ambivalente Vor- und Wirkungsgeschichte.

August 1968, Berlin

© Keystone/Getty Images

Die Linke will Eindeutigkeit, weil sie nicht fähig ist zur Ambiguitätstoleranz – das heißt: zur Toleranz von Unterschieden und Antagonismen. Im Grunde genommen ist dies eine Sehnsucht nach einem toten Zustand. Die Linke hat ein Ur-Misstrauen gegen Struktur. Strukturen gelten ihr als etwas, das es »aufzubrechen« gelte. Dass diese Ur-Sehnsüchte die »conditio humana« nicht ändern werden und dass jede Utopie etwas Totalitäres an sich hat, soll die Linke nicht stören. Missionarisch bastelt sie dort, wo Menschen formbar sind – im Bereich von Erziehung und Bildung – an der Verwirklichung ihres Bildes von Gesellschaft und vom Menschen. Resistent gegen reale Erfahrung verfolgt die Linke ihr Ziel: die Formung eines uniform-harmonischen Menschen und uniform-harmonischer Gesellschaften.

Ersatzreligiöse Sehnsucht

Maßgebliche Koordinaten linker Politik bleiben also die Gleichheits-Utopie, der Machbarkeits-Wahn und das Lust-Prinzip. Sie sind Ausdruck einer Ur-Sehnsucht nach dem Un-Strukturierten und Un-Gegliederten ohne Ordnung, einer Sehnsucht nach Harmonie, nach Homogenität, nach einem herrschafts- und spannungsfreien Zustand, nach einer »klassenlosen« und »gender«-gerechten/geschlechterlosen Gesellschaft, nach romantischer Weltidylle sowie nach Überwindung aller Gegensätze und aller Unterschiede, die zwischen Kulturen, Religionen, Nationen, Gesellschaften, Geschlechtern und Individuen bestehen.

Mitte der Neunziger Jahre schockierte Samuel P. Huntington die Linke mit seinem Artikel und Buch The Clash of Civilizations auf. Seine Grundthese: Die Konfliktlinien verlaufen seit 1989 nicht mehr entlang ideologischer, sondern kultureller Grenzen.

Dabei ist der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied die Religion. Der mit Abstand aggressivste Kulturkreis sei der islamische, weil er auf Eroberung ausgerichtet sei. Dem Westen stehe ein Niedergang bevor, weil die Kraft seiner Kultur verblasse. Die Anzeichen der »inneren Fäulnis« des Westens sind für Huntington unübersehbar: Geburtenrückgang, Überalterung, Zunahme der Asozialität, Auflösung der Familienbande, Zunahme egomanischer Attitüden, Schwinden der Autorität von Institutionen, Hedonismus, Nachlassen des Arbeitsethos und zunehmender Egoismus, abnehmendes Interesse an Bildung und geistiger Betätigung. Ähnlich hatte es der spätere Papst Benedikt XVI. im Jahr 2000 beschrieben: »Europa scheint in der Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden (…) Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft (…) Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart gesehen (…) Sie werden als Grenze der Gegenwart gesehen.«

Alexander Demandt (Historiker der Antike mit Werken wie Das Ende der Weltreiche und Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt) schreibt: Karthago und Rom seien untergegangen, weil deren Bürger nicht mehr zur Selbstverteidigung bereit waren. Dekadenz ist für ihn »die Verbindung verfeinerten Lebensstils mit sinkender Lebenskraft, ein Zuviel an Subtilität mit einem Zuwenig an Vitalität.« Man suche Unsterblichkeit in sich selbst und nicht in der nachwachsenden Generation eigener Kinder, wie auch der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio formulierte.

Demandt verfasste auf Bitte der Konrad-Adenauer-Stiftung für deren Zeitschrift Die politische Meinung Ende 2015 einen Beitrag zur Geschichte der Völkerwanderung. Nach Fertigstellung des Beitrags lehnte der Auftraggeber die Veröffentlichung mit der Begründung ab, der Text könne in der aktuellen politischen Situation missinterpretiert werden. Da Demandt einen großen Namen hat, gelang es ihm, den Text in der FAZ vom 22. Januar 2016 zu veröffentlichen (Titel: »Untergang des Römischen Reiches: Das Ende der alten Ordnung«). In einem nachfolgenden Interview sagte er, wir dürften unsere Souveränität nicht aufgeben. Frau Merkel dürfe nicht zum Wohle fremder Regierungen und auf Kosten des deutschen Volkes handeln. Ihr Amtseid sehe das Gegenteil vor. Hier schwinge bei ihr ein moralisches Überheblichkeitsgefühl mit.

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Auch Imre Kertész, der Holocaust-Überlebende und Literaturnobelpreisträger von 2002, sieht die frühere europäische Vitalität von Dekadenz angefressen. Kertész spricht von einem »selbstmörderischen« Liberalismus, der am Ende seinen eigenen Feind anbete. Das hat der Autor noch vor dem großen Zustrom an Flüchtlingen geschrieben. Ähnlich argumentiert Rolf Peter Sieferle: In seinem 2017 posthum erschienenen Band Das Migrationsproblem kritisiert er die Vision einer Welt von »no borders, no nations«, die zugleich eine Welt von »no welfare« sein solle. Es ist dies das Testament des 2016 freiwillig aus dem Leben geschiedenen Historikers, der in seinem Abschiedsbrief mit Blick auf Europa und Deutschland von einem »gesinnungsethischen Rausch in den Untergang« schreibt. Die Geschichte jedenfalls belegt: Jeder Abstieg beginnt mit Selbstverleugnung und Überangepasstheit. Oder noch deutlicher: Der Verlust der Selbstachtung ist der Beginn des Verfalls, der Dekadenz. Das gilt für jede Einzelperson, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur.

Geschichtsblinde wollen das nicht sehen. In ihren Augen – so Alexander Demandt – sind die Opfer etwa des Kommunismus allenfalls Kinderkrankheiten auf dem Weg zu einer wunderbaren Zukunft. Wer aber die Vergangenheit ignoriert, der muss damit rechnen, sie zu wiederholen – mitsamt ihren Fehlern. Deshalb muss Schluss sein mit dem deutschen und europäischen Masochismus einer ständigen Selbstbezichtigung. Es stimmt nicht, was Jean-Paul Sartre behauptete: dass »der Europäer nur dadurch sich zum Menschen hat machen können, dass er Sklaven und Monstren hervorbrachte« (J.P. Sartre in seinem Vorwort zu Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde. Anm. d. Red.) Solche Betrachtungsweisen sind zwar beliebt in Kreisen von Intellektuellen, aber ihnen allen gemeinsam ist der Hass auf die westliche Moderne und die Parteinahme für die Feinde des Westens. »Die ganze Welt hasst uns, und wir haben es verdient: Dies ist die feste Überzeugung der meisten Europäer, zumindest im Westen.« Diesen Satz schrieb der französische Philosoph Pascal Bruckner 2008. Die Paradoxie des sich schuldig fühlenden Europas bestehe darin, so Bruckner, dass es genauso arrogant sei wie das einstige imperiale Europa, indem es sich rühmt, für alle Leiden der Menschheit verantwortlich zu sein. Europa sei geprägt von der »Eitelkeit des Selbsthasses«. Auch Joseph Kardinal Ratzinger sprach im Jahr 2000 vom »Selbsthass des Abendlandes«.

Für eine europäische Leitkultur

Deutschland und Europa sind heute nicht mehr vom Sowjetkommunismus bedroht, sondern von innen. Sie sind bedroht vom Nachlassen biologischer Vitalität, von einem überdehnten Toleranzverständnis, von Werterelativismus, von Selbstzweifeln, ja von Selbsthass und dem Irrglauben, ein Bürokratie-Wasserkopf könne Identität vermitteln. Die Behauptung, wenn der Euro scheitere, dann scheitere Europa, ist eine völlig unhistorische Aussage. Deutschland und Europa fehlt ein Kompass. Statt Prinzipien gibt es Situations-Ethik. Aus Sorge, die kritischen Kommentare von »Gutmenschen« auf sich zu ziehen, beugt man sich dem Mainstream. Europa sollte aber wissen, was es zu verlieren hat. Hier scheint Ernst Wolfgang Böckenfördes Satz von 1967 zu gelten: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«

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Dies gilt auch für das Grundgesetz, das sich zur abendländischen Leitkultur wie Wirkung zu Ursache verhält. So gesehen muss auch der Atheist um die Grundlagen des Abendlandes wissen. Richard Wagner hat es 2008 auf die Formel gebracht: Das Paradoxe bestehe darin, dass der Atheist zunächst einmal das Christentum verteidigen müsse, um Atheist bleiben zu können. Und mit Verlaub: Der Satz von Böckenförde ist halb richtig und halb falsch. Natürlich kann und muss eine freiheitlich-demokratische, rechtsstaatliche Gesellschaft ihre Voraussetzungen verteidigen, und zwar durch Nichtduldung von Intoleranz. Begegnen sich nämlich Toleranz und Intoleranz, so siegt die Intoleranz. Thomas Mann wird im »Zauberberg« noch deutlicher: »Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.«

Vergessen wir nicht: Ohne eine europäische Leitkultur gäbe es keine universell geltenden Bürger- und Menschenrechte. Die Erde sähe anders aus, hätte es europäisches Denken nicht gegeben. Das hat mit dem agonalen Charakter des europäischen Geistes zu tun – dem Geist des Wettbewerbs, des Wettstreits und der Bereitschaft zur Anstrengung.

Konsens müsste zumindest dasjenige sein, was der frühere griechische Staatspräsident Konstantinos Karamanlis (1907–1998) im Jahr 1978 als »europäisches Gemeingut« beschrieben hat: »Europäische Kultur ist die Synthese des griechischen, römischen und christlichen Geistes. Zu dieser Synthese hat der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen, der römische Geist die Idee des Staates und des Rechts und das Christentum den Glauben und die Liebe.« Man könnte auch sagen: Europäischer Geist zeigt sich in der Trias aus Ratio, Libertas und Humanitas. Er zeigt sich in einer »Ökumene« aus Judentum, griechischer und römischer Antike sowie Christentum. Oder, geographisch verortet, in einer »Ökumene« aus Jerusalem, Athen, und Rom beziehungsweise Golgatha, Akropolis und Kapitol. Nennen wir es europäische Leitkultur!


Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung. Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Manuscriptum. 190 Seiten, 19,90 €.

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