Mathieu Bock-Côté, dessen jüngstes Werk hier besprochen werden soll, ist Kanadier und ein leidenschaftlicher Verteidiger der Autonomie der französischsprachigen Bürger der Provinz Quebec, also, wenn man so will, ein französischer Nationalist in Nordamerika. Die Figuren, die ihn inspiriert haben, sind nach eigenem Bekenntnis Raymond Aron, der große Widersacher der französischen Linken nach dem Zweiten Weltkrieg, und General de Gaulle. Bock-Côté, von Haus aus Soziologe, ist aber auch seit einigen Jahren in Debatten in Frankreich selbst sehr präsent; er schreibt unter anderem für den Figaro respektive dessen Ableger Figaro-Vox und gilt dort als wichtige Stimme eines konservativen Widerstandes gegen den Zeitgeist.
Was begann als der legitime Versuch, diskriminierende verbale Angriffe auf Minderheiten zu unterbinden, hat mittlerweile eine ganz andere Gestalt angenommen. Heute kann man einen Job als Angestellter bei einer Supermarktkette verlieren, weil man auf dem privaten Facebookaccount einen Sketch eines vielleicht nicht sehr subtilen, aber eher harmlosen Komödianten teilt, der die großen Religionen der Welt, darunter, und das ist der entscheidende Punkt, auch den Islam durch den Kakao zieht (so geschehen jüngst in Großbritannien). Oder man kann – auch dies ein Vorfall aus England – als Student zwangsexmatrikuliert werden, weil man sich im Netz dabei ertappen lässt, dass man als konservativer Christ afrikanischer Herkunft nicht viel von der Ehe für alle hält. Mittlerweile ist es soweit, dass schon das Bekenntnis zur Überzeugung, dass der Mensch biologisch ein zweigeschlechtliches Wesen und Geschlecht eben nicht nur eine kulturelle Konstruktion sei, zu erheblichen Schwierigkeiten führen kann. Schlimmstenfalls droht auch hier der Verlust des Jobs. Hier wird der Irrationalismus gewissermaßen zur moralischen Verpflichtung. Dies mögen alles Beispiele aus Großbritannien sein, aber dass die Entwicklung auf dem Kontinent in eine ähnliche Richtung geht, ist kaum zu bezweifeln.
Eine Kulturrevolution, um den Neuen Menschen zu schaffen
Was steht hinter diesem Versuch unser Denken und Sprechen umfassend im Sinne einer vermeintlich allein tugendhaften Gesinnung zu regulieren? Der heutige Linke hat nach Bock-Côté als Ideal einen Menschen vor Augen, der keine Geschichte hat und ganz und gar sein eigener Schöpfer ist. Keine biologische Natur grenzt die Optionen seiner Selbstverwirklichung ein. Jede Form von Identität ist nur das Produkt kultureller Setzungen und Normen, die ihrerseits durch individuelle Entscheidungen jederzeit vollständig verändert werden können. Allerdings nicht jede kulturelle Tradition ist gleichermaßen abzulehnen. Verderblich sind vor allem die Traditionen des Westens, die durch Kolonialismus und Rassismus, aber auch durch das Patriarchat vermeintlich für immer diskreditiert wurden. Der Multikulturalismus, die grenzenlose Liebe zum Fremden und die Bejahung der Diversität, der „Buntheit“ sind für viele Linke heute vor allem Werkzeuge, um diese westlichen Traditionen durch die Konfrontation mit fremden Kulturen zu zerstören und eine Tabula Rasa herzustellen, auf der etwas ganz Neues geschaffen werden kann, ein gänzlich neuer, durch und durch egalitärer Mensch – so jedenfalls sieht Bock-Côté die Dinge.
Dieses ganz Programm wird, so der Autor, mit einem beispiellosen Fanatismus vertreten, auch deshalb, weil die von unbegrenzter Diversität träumende Linke ahnt, dass sie gegen einen höchst gefährlichen Gegner kämpft: die Realität. Vertreter dieser linken Ideologie sehen es als Provokation an, wenn Kritiker darauf hinweisen, dass der Mensch sich in Wirklichkeit selber nicht kenne, sich selber ein Geheimnis sei. Eine solche Aussage wird, wie schon der polnische Dichter Czesław Miłosz vor vielen Jahren geschrieben hat, als unerträgliche Beleidigung empfunden (S. 200).
Vorangetrieben wird diese ganze Bewegung von einem humanitären Messianismus, der keine Staaten und keine Nationen mehr kennt, sondern nur noch eine homogene Menschheit. Das Problem ist, so Bock-Côté, dass die Politik dort beginne, wo eine begrenzte politische Gemeinschaft sich als autonom definiere. Wird diese Autonomie etwa des Nationalstaates abgelehnt, führt das zum Ende jeder Politik, an deren Stelle die reine, eigentlich unpolitische Moral tritt (S. 205). Und so sieht das Programm der postnationalen Linken ja heute in der Tat aus. Damit geht aber auch der Sinn für das Mögliche und Machbare verloren.
Ist eine Umkehr noch möglich?
Wie freilich konnte es soweit kommen? Bock-Coté sieht die Schuld wesentlich auch bei den bürgerlich-konservativen Parteien. Sie haben es seit der Wende zum 21. Jahrhundert weitgehend aufgegeben, eigene ideologische Positionen zu entwickeln, sie stellen nur noch eine blassere, gemäßigte Linke dar, wie das ja in der Tat zum Beispiel auch auf weite Teile der CDU in Deutschland zutrifft. Aus Angst, reaktionär zu erscheinen oder als Verbündeter der radikalen Rechten, der bösen Populisten, passt man sich der Linken immer weiter an. Nur ein Privileg nimmt man noch für sich in Anspruch: mehr von Wirtschaft zu verstehen als die Linke. Die bürgerlichen Parteien vertreten den Bürger nur noch als „homo oeconomicus“. Wirtschaftliches Wachstum ist das einzige Ziel; sich mit Fragen der Identität, der Kultur, der gesellschaftlichen Werte zu beschäftigen, würde dieses Wachstum nur unnötig bremsen, daher überlässt man diese Dinge ganz der Linken (S. 104). Aus der vermeintlichen wirtschaftlichen Kompetenz des eigenen Lagers leitet man freilich immer noch den Anspruch ab, den radikalen gesellschaftlichen Wandel zu verwalten und die Regierung zu stellen, auch wenn diese in weiten Bereich faktisch das Programm der postnationalen und oft auch antiwestlichen Linken in die Tat umsetzt (S. 104-06).
Was Bock-Coté hier für Frankreich konstatiert, kann man eigentlich auch Eins zu Eins auf Deutschland übertragen. In Frankreich tritt freilich noch das Problem hinzu, dass es Macron durch rein rhetorische Zugeständnisse an das bürgerliche, moderat-konservative Lager gelungen ist, dessen Wähler zu einem großen Teil zu sich hinüber zu ziehen. Seine wirkliche Politik bleibt in Identitätsfragen dennoch eher eine Politik der Linken, wenn er sich auch, allerdings recht zaghaft und mit begrenztem Erfolg, um Reformen im Sinne eines wirtschaftsliberalen Programms bemüht. Ist die Lage also für das konservative Lager aussichtslos? Auf Le Pen und das Rassemblement National setzt Bock-Coté jedenfalls hier keine erkennbaren Hoffnungen, sicher zurecht.
Die Linke fühlt, dass sie die Hoheit über die Debatten, die uneingeschränkte kulturelle Hegemonie, die sie seit den späten 1990er Jahren erlangt hatte, zu verlieren droht. Entsprechend fällt die Abwehrreaktion aus, hysterisch und intolerant. Aber wofür kann in der heutigen Welt ein möglicher Konservativismus eintreten? Zunächst ist sich der Konservative bewusst, dass ein Gemeinwesen sich nicht nur über Verfahren definieren und legitimieren lässt oder über absolut gesetzte individuelle Rechte. Es braucht ein gemeinsames Erbe, eine Geschichte, eine Kultur, mag auch jede Generation sich dieses Erbe neu und anders aneignen, man ist angewiesen auf ein geteiltes historisches Schicksal, auf das man sich besinnen kann. Vor allem aber ist die Vorstellungswelt des Konservativen bestimmt durch einen Sinn für die notwendige Verwurzelung des Menschen in der Vergangenheit, für den Sinn der Grenze im weitesten Sinne des Wortes und für die Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen selbst. („Le renouveau conservateur est à la recherche de limites, il cultive le sens de la finitude.“ 246).
Damit werden aber nicht nur die Utopien der Linken in ihre Schranken verwiesen, sondern auch eine wirtschaftsliberale Fortschrittsbegeisterung, die alles technisch Machbare auch für wünschenswert hält, wenn es kurzfristig ein Mehr an Wohlstand und materiellem Wohlgefühl verspricht, mag es auch langfristig, wie wir ja heute sehen, unter Umständen die Grundlagen der menschlichen Existenz selber in Frage stellen.
Bock-Côté leugnet nicht die grundsätzliche Legitimität eines progressiven Programms, das die Überlieferung und das Bestehende kritisiert. Aber man benötigt in Sinne einer gesunden Balance Gegengewichte und diese Gegengewichte kann nur ein wiedererwachter Konservativismus – und eben nicht der Wirtschaftsliberalismus – liefern, der einen Sinne für das Tragische der Geschichte besitzt und eine Anthropologie vertritt, die Raum lässt für die Widersprüche des Menschen, seine sehr unterschiedlichen Bedürfnisse, die sich eben nicht einfach harmonisieren lassen.
Aber ist diese wenig günstige tagespolitische Ausgangssituation das Entscheidende? Die heutige kulturelle Hegemonie der anti-westlichen Linken zeigt, dass bloße Gedanken die politische Landschaft eben doch verändern können, denn diese Hegemonie beruht wesentlich auch auf dem Siegeszug des radikalen Konstruktivismus und einer postmodernen Kritik der westlichen Tradition, wie sie seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schrittweise die Universitäten erobert hat und für die zum Beispiel Namen wie Michel Foucault (gest. 1984) oder Judith Butler (geb. 1956) stehen.
Von daher kann ein konservatives Denken mittelfristig vielleicht doch wieder politisches Gewicht erlangen – und darauf scheint Bock-Côté zu setzen. Es geht also zunächst um eine andere, offenere Diskussion, erst danach um Veränderungen in der praktischen Politik, die unter den jetzigen, die Debatte einengenden Regeln, nicht einmal angedacht werden können. Ob dieses Vorhaben erfolgversprechend ist, wird man in den nächsten Jahren sehen, aber Bock-Côté ist zuzustimmen, dass die Zukunft einer Demokratie düster aussieht, in der der politische Gegner automatisch zum Feind wird, wenn er nicht bereit ist, sich auf das Vokabular und die immer strikteren Sprachregelungen der eigenen Seite, das heißt hier der postmodernen Linken, einzulassen. Dann nämlich könnten es am Ende wirklich diejenigen sein, die sich an gar keine Regeln des zivilisierten Diskurses mehr halten, die nach der Macht greifen und sich durch ihre Radikalität gegen jede Kritik immunisieren, wie es in den USA Trump und seinen Anhängern gelungen ist.
Mathieu Bock-Côté, L’empire du politiquement correct. Essai sur la respectabilité politico-médiatique (Les Éditions du Cerf), Paris 2019, 300 S.