Diejenigen, die dem Zeitgeist huldigen, schwätzen von Vielfalt und schränken zugleich den akzeptierten Bewegungsspielraum des politischen Diskurses schlimmer ein, als es Traditionalisten je taten, denunzieren Andersdenkende, versuchen Gegenstimmen zum Schweigen zu bringen, denken in Schubladen, entfernen unliebsame Bücher aus Bibliotheken, ebnen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ein, erfinden zwar fünfundsechzig neue Geschlechter, verlangen aber, dass sich all diese Geschlechter identisch verhalten sollen. (…) Im selben Atemzug fordern diese Leute Gleichheit. Nicht Gleichberechtigung – Gleichheit! Als würde man damit nicht Menschen ihrer Kreativität, ihres Strebens nach Höherem, ihres Stolzes auf Erreichtes berauben. Als wüssten wir nicht, wohin Konformismus führt. Als hätten wir in diesem Land nicht genug Erfahrung damit gemacht, was geschieht, wenn Menschen im Gleichschritt marschieren.
Wie kann man überhaupt in einem Atemzug Vielfalt und Gleichheit fordern und nicht merken, dass darin ein Widerspruch liegt? Wie kann man nicht sehen, dass Gleichheit Austauschbarkeit bedeutet? Wie kann man nicht begreifen, dass die Uniformierung des Geistes bedeutet, die Einzigartigkeit eines Menschen zu leugnen?
Und machen wir uns nichts vor, die Politik des Konformismus läuft unweigerlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus. Der Doktrin der Gleichheitsfanatiker zu folgen, führt nie zu einer Bereicherung, sondern immer zu einer Verarmung des Lebens. (…)
Es ist kein Zufall, dass diejenigen, die dem Gott der Gleichheit huldigen, alles tun, um Individualität zu zerstören. Sie propagieren das Hin- und Herwechseln zwischen den Geschlechtern, als sei Geschlechtsidentität lediglich eine Frage der Mode. Sie zerstören die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und nehmen den Kindern damit ihre Wurzeln, während sie gleichzeitig die Provisoriumsfamilie glorifizieren, deren Zusammenhalt auf eher losen Vereinbarungen gründet. Sie verhindern, dass irgendjemand ungebührlich aus der Masse herausragt, indem sie Preise und Ehrungen wie etwa das Bundesverdienstkreuz quotieren.
Ihren Kritikern unterstellen sie, Diversität in der Gesellschaft verhindern zu wollen. Wer ist wohl eher für Vielfalt – derjenige, der dem anderen zubilligt, seinen Lebensweg selbst zu bestimmen, oder derjenige, der ihm vorschreiben will, wie er zu leben hat? Derjenige, der Menschen ermuntert, zu unverwechselbaren Persönlichkeiten heranzureifen, oder derjenige, der sie zu einer gesichtslosen Masse formen will, zu eingeschüchterten Jasagern, die ängstlich darauf bedacht sind, nicht aufzufallen? Es ist kein Zufall, dass diese Bewegung so bereitwillig von Politik und Wirtschaft gefördert wird. Das Ideal der Herrschenden ist der entwurzelte Mensch,denn nur er ist jederzeit ausbeutbar in einer Welt globaler Gleichgültigkeit.
Seit Neuestem wird in vielen Verlagen in vorauseilendem Gehorsam das sogenannte »Sensitivity Reading« durchgeführt. Gesinnungskrieger suchen mit Argusaugen nach verfänglichen Worten, damit das Buch später nirgends aneckt oder gar die Gesellschaft herausfordert. Wäre ja noch schöner, wenn Literatur provozieren würde! Diejenigen, die hier eine lukrative Marktlücke entdeckt haben, behaupten, ihre Arbeit würde zu mehr Vielfalt führen. Wie das? Nachträgliches Herumpfuschen im Text ermuntert keinen Autor zu ungewöhnlicheren Figurenkonstellationen oder einer vielschichtigeren Sprache, denn das »Sensitivity Reading« wird ja lediglich auf bereits fertige oder zumindest halbfertige Manuskripte angewendet, deren Inhalt dann auf die politisch korrekte Linie zurechtgesäbelt wird. Und nicht nur, dass die »Sensitivity«-Aktivisten für Gruppen sprechen, die nicht darum gebeten haben und häufig auch anderer Meinung sind, perfider ist, dass diese Aktivisten den Autoren, indem sie deren Texte auf »Sexismus« und »Rassismus« untersuchen, charakterliche Defizite unterstellen und so eine Unkultur des Misstrauens schaffen.
Wie kann überhaupt jemand an Identitätspolitik glauben? Wie kann jemand überzeugt sein, dass wir Sklaven unserer Gene sind, Gefangene des Kollektivs, in das wir zufällig hineingeboren wurden, dass wir ausschließlich die Interessen von Unseresgleichen vertreten, nie die Perspektive wechseln, nie dazulernen? Und warum glauben diese selben Leute dann, dass man seine sexuelle Identität nach Tageslaune wechseln könnte? Warum heißt es eigentlich Identitätspolitik, wo sich deren Verfechter doch gerade dadurch auszeichnen, dass sie über keine eigene Identität verfügen, sondern sich ausschließlich durch ihre Zugehörigkeit zu Gruppen definieren?
Absurderweise setzen die Gesinnungskrieger gleichzeitig alles daran, jeden einzuschüchtern, der sich durch die Begegnung mit dem Fremden inspirieren lässt. Weiße, die Dreadlocks tragen, Karnevalsteilnehmer, die sich indianischen Federschmuck ins Haar stecken, Westeuropäer, die Yoga praktizieren, Musiker, die Crossovermusik komponieren, sie alle betreiben angeblich eine Form von Imperialismus. Traditionelle Gerichte, traditionelle Tänze, traditionelle Begriffe – nichts davon darf man übernehmen, will man sich nicht dem Vorwurf der »kulturellen Aneignung« aussetzen. Als würde man Kulturen etwas stehlen, wenn man sich durch sie bereichern lässt.
Eine solche Vorstellung entlarvt die Kaltherzigkeit dieser kulturellen Geizhälse. Menschen, die keine Liebe in sich tragen, können eben nicht begreifen, dass etwas mehr werden kann, wenn man es teilt. Ihr Ideal sind keine offenen Räume der Begegnung, sondern viele kleine Gefängnisse, durch deren vergitterte Fenster sich die voneinander getrennten Gruppen zuwinken können. Uniformzwang und kulturelle Apartheid, das ist die neue Vielfalt. (…)
In welchem Ausmaß muss jemand seine Angst vor allem, was anders ist, verinnerlicht haben, damit er Menschen, die sich offen und interessiert auf fremde Kulturen einlassen, der »kulturellen Aneignung« bezichtigt? Und ist überhaupt eine üblere »kulturelle Aneignung« denkbar als die von Privilegierten, die das Anliegen von Benachteiligten und deren Kampfparolen instrumentalisieren, um sich selbst als Kämpfer für Gerechtigkeit zu stilisieren? (…)
Die Feministin Luise Pusch sprach einst von »kompensatorischer Gerechtigkeit« und meinte damit offenbar das Privileg, im Namen der Gerechtigkeit und ohne Schuldgefühle Unrecht begehen zu dürfen. Heutige Gesinnungskrieger behaupten, Weiße und Männer könne man nicht diskriminieren, Rassismus gegenüber Weißen und Sexismus gegenüber Männern gebe es nicht. So einfach ist der moderne Ablasshandel, so einfach kann es sein, sich jeder Rücksichtnahme, jeder Verantwortung für seine Taten zu entziehen und sich selbst von jeder Schuld freizusprechen. Es genügt zu behaupten, dass es diese Schuld nicht gebe.
Rassismus ist, wenn sich jemand rassistisch beleidigt fühlt. Jedenfalls solange es sich dabei nicht um einen weißen heterosexuellen Mann handelt. Eine Belästigung ist, was eine Frau als Belästigung empfindet. »Wenn Jackies Geschichte teilweise oder ganz unwahr sein sollte, ist das kein Grund, ihr nicht zu glauben«, twittert eine Aktivistin über eine Falschbeschuldigerin. »Mit dem Präfix ›trans-‹ verwandelt man jede neurotische Exzentrizität in einen alternativen Lebensstil, und mit dem Suffix ›-phob‹ verwandelt man jede abweichende Meinung in eine Geisteskrankheit.«
Wer die richtige Betroffenheitslyrik absondert, hat die Deutungshoheit inne. Wer überall -ismen am Werk sieht, zählt sich zu den Bessermenschen. Wer vegan lebt, darf sich einbilden, tugendhafter zu sein als jemand, der Fleisch isst. Wer sich als Erster empört, hat gewonnen.
Dazu muss man nicht einmal mit dem Finger auf andere zeigen. Es genügt, als Weißer die historischen Untaten der Weißen zu beklagen. Oder als Mann die »toxische Männlichkeit« zu beschwören. »Man kann andere anklagen, indem man sich selbst schuldig bekennt. Mit dem öffentlichen Bekenntnisritual setzt man nämlich diejenigen unter Druck, die weniger bußfertig sind. (…) Man bekennt die Schuld an Untaten, die man nicht begangen hat, um andere für ihre Folgen haften zu lassen. (…) Keiner der Moralapostel meint sich wirklich selbst, wenn er ›wir‹ sagt. Gemeint sind immer die anderen. (…) Hier gilt nämlich die großartige Erkenntnis von Manès Sperber, ›dass die Selbstanklage Rechtfertigung, Freispruch und unausgesprochenes Selbstlob verhüllt‹.« (…)
Dass es sich lohnen kann, gelegentlich Andersdenkenden zuzuhören, um seinen Horizont zu erweitern, ist im Weltbild von Gesinnungskriegern nicht vorgesehen. Lieber beschimpfen sie Menschen mit einer anderen Meinung als Nazis. Die politische Korrektheit, ihr Herrschaftsinstrument, ist nichts anderes als ein Denkverbot. Bessermenschen sind davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen und deshalb das Recht zu haben, auf Abweichler einzudreschen. Im übertragenen Sinne und wortwörtlich.
In früheren Zeiten hatten wir die Arroganz des Blutes. Dann folgte die Arroganz der Rasse. Schließlich die Arroganz des Geldes. Jetzt haben wir die Arroganz der Gesinnung. Offenbar brauchen manche Menschen einen Vorwand, um sich anderen überlegen zu fühlen.
Die Bewegung der Politischen Korrektheit wird von Fanatikern getragen, von Menschen, die freudlos, humorlos, unduldsam, intolerant und selbstgerecht sind. Und mit ihren verqueren Vorstellungen sind sie auf dem besten Weg, die Demokratie in Schutt und Asche zu legen.
Stark gekürzter und um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Gunnar Kunz, Achtung, Sie verlassen den demokratischen Sektor. Das Ende der Freiheit in Deutschland? Solibro Verlag, Paperback, 224 Seiten, 18,00 €.