Wie Deutschland mit Kanzlerin Merkel so hatte auch Frankreich mit seinen Präsidenten nach Nicolas Sarkozy auf die Schlummertaste gedrückt. Sein Bild war der gallische Hahn, der sich wie ein Vogel Strauß verhält und den Kopf in den Sand steckt. Der Kapitalismus hatte sich quasi zu Tode gesiegt, der Liberalismus hatte es mit der Öffnung in die Welt übertrieben Es gab kein Gefühl mehr für das richtige Maß. Linke und Rechte entwickelten in dieser Situation unter für sie gewissermaßen optimalen Bedingungen neue Extreme aus. Insbesondere der Front National, seit 2015 Rassemblement National, gedieh prächtig – so wie in Deutschland die AfD. Die Sehnsucht nach kultureller und damit politischer Autorität war groß – auf rechter wie auf linker Seite. Die »Normalen«, die keiner wirklich oder vermeintlich unterdrückten Minderheit angehörten, begannen sich zu fragen, welche Rolle sie in ihrem eigenen Land eigentlich noch spielen würden. Dieses Phänomen ist nicht auf Frankreich beschränkt.
Ein wesentliches Fazit der Diskussion unter Frankreichs Intellektuellen war wohl auch, dass wir in einer Zeit leben, die ohne dominante kohärente Ideologie sei: Die Gemeinschaft zerfiele und ignoriere dabei, dass Europa in seiner Größe und Bedeutung in der Welt sehr schnell schrumpfe. Es soll eine wachsende Zahl von Parallelgesellschaften geben, die ihr Zusammenleben immer wieder neu verhandeln sollen. Das ist die neue Zukunftsvision nach Vorstellung der politischen Enthusiasten einer solchen Globalisierung: Nation, Staatsvolk, Staatsgrenzen und nationale Kultur werden egal gemacht. Damit wird übrigens auch unsere Verfassung egalisiert.
Links, rechts oder geradeaus?
Auch in Deutschland wird inzwischen öffentlich diskutiert, wie die Übernahme von Verantwortung aussehen muss und dass wir als moderne Nation an einem Scheideweg stehen. Welche Richtung wir einschlagen werden, ist noch völlig offen. Andreas Reckwitz sprach in den letzten Jahren davon, dass das Paradigma des öffnenden Liberalismus (Linke meinen damit Emanzipation und Liberale Marktliberalismus) in eine Krise geraten ist, wie ein Pendel, das zu weit ausschlägt. Den Menschen wird schlichtweg schlecht. Illiberale Bewegungen sind eine natürliche Reaktion auf diese übertriebenen Pendelausschläge in der Gesellschaft, also Krisensymptome einer Überdynamisierung der Gesellschaft. Sie braucht nicht noch mehr und neuen Schwung, sondern mehr Stabilität und Maß.
Gehen die Übertreibungen weiter, weil die liberalen Kräfte in Gesellschaft und Wirtschaft nicht zur Besinnung kommen, könnte auch das Illiberale gewinnen, meint Reckwitz, sozusagen als Notbremse, die von der Bevölkerung betätigt wird. Denn diese überdynamisierenden Kräfte bei Grünen und Liberalen schaffen inzwischen mehr Probleme mit der bunten Gesellschaft und dem entfesselten Marktkapitalismus, als sie lösen. So ist zum Beispiel die Ehe für alle emanzipatorisch eine Öffnung der Gesellschaft hin zur Diversität von Lebensstilen, aber sie ist auf der anderen Seite auch eine Egalisierung.
Es ist nicht egal, ob man die Ehe rein romantisch begreift oder als gesellschaftliche Institution zum Fortbestand der Gesellschaft durch Kinder, die deshalb auch zu Recht im Grundgesetz unter besonderem Schutz steht. Die Verfassung dient dem Volk, seinem Schutz und seinem Bestand. Das mag in den Ohren derer, die das offensichtlich immer absichtlich falsch verstehen wollen, völkisch und rassistisch klingen, ist es aber nicht, denn die Ehen der Zuwanderer und deren Kinder sind genauso gemeint. Die Bevölkerung in Deutschland ist inzwischen genetisch sehr vielfältig, insbesondere unter jungen Leuten.
Am Ende verlieren beide den früher gemeinsamen Boden unter den Füßen – wahrscheinlich, weil man noch vor zwei Jahrzehnten die Globalisierung dachte, ohne die Auswirkungen der Digitalisierung in die Szenarien für die Zukunft irgendwie einzuarbeiten. Befürworter sahen immer nur Gewinner – vor allem sich selbst. Wie werden sie sich sehen, wenn auch ihre Jobs nicht mehr gebraucht werden, weil die Künstliche Intelligenz (KI) unterrichtet, Versicherungen makelt, dolmetscht, programmiert und die Steuererklärung macht?
Plus und Minus der Globalisierung
In den letzten zwei Jahrzehnten ist dieses Thema unter Stichwörtern wie »Modernisierungsverlierer und -gewinner« diskutiert worden: an dieser Linie hat sich tiefsitzender Zorn aufgebaut. Olaf Scholz scheint das im letzten Jahr erkannt zu haben. Mit seiner Parole »Respekt« hat er das im Bundestagswahlkampf aufgegriffen und fand dafür deutliche Unterstützung beim Wähler.
Dieser Verlust des gemeinsamen Bodens in Form von Respekt in der Gesellschaft ist schmerzhaft: Aggressive Kommunikation, abgrenzende Kommunikation, tätliche Übergriffe und nun seit zwei Jahren auch noch ein zunehmend übergriffiger Staat machen einem das Leben schwer.
Meinhard Miegel hat das vor längerer Zeit schon einmal in seinem Buch Epochenwende herausgearbeitet: Ohne den globalen Austausch von Waren und Dienstleistungen wäre hier und weltweit vieles teurer. Unser Wohlstand beruhe auf dieser Arbeitsteilung. Miegel formuliert die Konsequenz expliziert: »Die Menschen in den frühindustrialisierten Ländern sind verstört […]. Sie versuchen erfolglos, das, was um sie herum geschieht, mit ihren überkommenen Denk- und Begriffsschablonen zu erfassen.« (S. 80).
Hilflosigkeit und Ohnmacht – nicht nur bei den Regierten, sondern auch bei den Regierenden – bringen alle in die Defensive, weil der Lebensstandard gefährdet ist. Angela Merkel war die personifizierte Schlummertaste, die viele allzu gern noch einmal drückten, um nicht in diesen realen Alptraum raus zu müssen, der sich vor der Tür breitmacht. Vielleicht ist Herr Scholz auch nur eine Schlummertaste. Das wird die Zukunft zeigen.
Wer hetzt wen auf und warum?
Seit der Forschung von Gustave Le Bon und seinem Buch »Psychologie der Massen« ist man in Europa mit der Theorie zu massenpsychologischen Phänomenen und der Steuerung der Massen durch Emotionen vertraut. Das wurde im 20. Jahrhundert vielfältig durchgespielt. Wir müssten eigentlich historisch wissen, dass die Impfung keine Erlösung von unserem allgemeinen Elend ist, sondern hier auch ein Konflikt politisch geschickt genutzt werden kann, um einen Bruderzwist in der Bevölkerung auszulösen, damit sie abgelenkt ist von den Zukunftsbedrohungen, auf die die Regierung keine Antwort hat. Ein Feind wird gebraucht, dem man das gesamte eigene Seelenleid aufbürden kann.
Da kommen »Sozialschädlinge«, »Covidioten« und Schlimmeres gerade recht. Und es gibt Politiker, die diese Begriffe verwenden und die Bevölkerungsteile weiter aufeinanderhetzen. Da wurde seit 1933 nichts gelernt – übrigens links und rechts nicht, wenn man sich ansieht, wer sich alles auf welche Weise öffentlich äußert. Schande. Und Chuzpe, wer sich hinterher noch öffentlich hinstellt und sich über Hass und Hetze anderer auslässt. Aber dergestalt ist die Regierung davor geschützt, dass alle gemeinsam die Regierungspolitik bzw. eher deren Fehlen kritisieren. Der Linken dämmert, dass sie ihre Gleichheitsversprechen bei Wohlstandsverlusten in der Globalisierung nicht mehr wird einhalten können. Der Schmerz ist gewaltig. Die Verleugnung ist es auch. (…)
Hans-Olaf Henkel verweist darauf, dass dem Abschied von den Bürgerlichen der Abschied von der Wirtschaftsmacht folgen werde. Das erleben wir gerade. Bürgertum sei ein Erfolgsmodell: selbstbestimmt für sich und seine Mitbürger einzustehen. Was man heute abschätzig »heile Welt« nenne, hätte im Wesentlichen aus der Anstrengung, sich ein gewisses Niveau an Moral und Kultiviertheit zu erarbeiten und an seine Kinder weiterzugeben, bestanden. Statt sich gehen zu lassen, was heute als besonders erstrebenswert gilt, bemühte man sich, ein Vorbild abzugeben.
Da all diese Entscheidungen inzwischen mehr und mehr der europäischen Kollektivverwaltung in Brüssel zu Füßen gelegt werden und somit immer mehr Entscheidungsmacht an etwas sehr Unübersichtliches abgegeben wird, haben die Parlamente immer weniger zu melden. Auch das stärkt Jaspers’ Idee der direkten Demokratie. Grundlegende Fragen muss das Volk selbst entscheiden. (…)
Die anstehende Lernkurve für die Regierung
Es ist klar, was das bedeutet: eine restriktive Migrationspolitik, wie sie bereits in vielen europäischen Staaten in Angriff genommen wurde, um vor allem das Niveau der Integration zu verbessern und um die Sozialhaushalte zu schonen, ist nötig. Dafür braucht es ein gemeinsames, klares Grenzregime. Eine vernünftige Energiepolitik, die sich neben der CO2-Reduktion auf Bezahlbarkeit und Netzstabilität innerhalb eines gemeinsamen europäischen Energieportfolios ausrichtet, wird dringend gebraucht. Auch eine positive, bejahende Familienpolitik ist nötig. Und, last but not least, brauchen wir eine Kehrtwende in der verlotterten Finanzpolitik.
Die Menschen erkennen zusehends, was passiert. Sie werden unruhig, weil sie nicht die Absicht haben, sich und ihr Leben einer gedankenlosen Überdynamisierung zu opfern, nur um nicht als »gestrig«, als »dumm« oder (ganz beliebt) als »Nazi« diffamiert zu werden. Jetzt geht es ans Eingemachte und da sind Worte Schall und Rauch. Bertolt Brecht hatte da schon recht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Die ersten Versorgungsengpässe wurden in den Medien bereits angekündigt. Die Leute, auch die einfachen, lesen mehr und machen sich kundig – im Internet.
Jaspers hätte vielleicht seine Freude daran gehabt, obwohl da nicht alles hochwertig bildend ist. Das bekommt das öffentliche-rechtliche Fernsehen aber auch nicht mehr hin: ist also inzwischen egal. Die offenbar über Jahrzehnten aufgebaute und nun real existierende linke und grüne »Staatspropaganda« haben viele lange nicht wahrgenommen. Jetzt liegen die Propaganda und die Realität so weit auseinander, dass man es von Tag zu Tag mehr wahrnehmen kann. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich selbst zum öko-sozialen Erziehungsfernsehen verzwergt. Junge Menschen informieren sich online. Die Blase platzt – langsam und lautlos, aber sie platzt. Mehr Popcorn, bitte! (…)
Gekürzter Auszug aus:
Antje Hermenau, Das große Egal. Essay. Reihe EXIL, Edition Buchhaus Loschwitz, Englische Broschur, 112 Seiten, 17,- €