Tichys Einblick
Notizen eines Unangepaßten

Die Kneipe als Zeigerpflanze oder wie Max Otte die Welt sieht

Bestseller-Autor, Crashprophet, Vermögensverwalter und jetzt umstrittener Vorsitzender der Werte-Union: Bunt, umtriebig, patriotisch und immer für eine Überraschung gut. Ein Interview zu seinem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Deutschland“ zeigt eine facettenreiche Persönlichkeit, die sich nicht ins Schema pressen läßt.

Dieser umstrittene Max Otte, der seine Gegner auf die Palme und in den höchsten Erregungszustand treibt hat ein leises, nachdenkliches, fast lyrisches Buch geschrieben mit dem schönen Titel „Auf der Suche nach dem verlorenen Deutschland“.

Tichys Einblick: Was ist in Deutschland verloren gegangen? Was bedeutet der Titel Ihres neuen Buches?

Max Otte: Ich suche das Deutschland meiner Kindheit, meiner Jugend, das Land der öffentlichen Sicherheit, das vielleicht ein bisschen langweilig war. Ich suche die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, ich suche die Kultur, ich suche die Zeit, die mich geprägt hat, und erinnere mich daran, um zu sehen: Was haben wir davon heute noch? Wie können wir es vielleicht weiterentwickeln? Was können wir bewahren? Was kann uns davon Kraft geben?

TE: Ist es besser geworden oder schlechter?

Max Otte: Früher war alles besser. Das hört man dann immer. Natürlich ist es ein komplexer Prozess, aber wir haben unglaublich viel soziales Kapital verloren. Wir haben unglaublich viel an Anstand und Moral verloren. Es gibt andere Dinge, die sind besser geworden. Da ist vielleicht noch ein Drittel übrig oder ein Viertel. Also da ist ganz, ganz viel weg.

TE: Sie sprechen in Ihrem Buch von Zeigerpflanzen. Zeigerpflanzen sind in der Biologie Pflanzen, die auf einen bestimmten Zustand der Biologie hinweisen. Aber für Sie ist eine Zeigerpflanze die Kneipe. Wieso die Kneipe?

Auf die Krise, fertig, los!
Max Otte rät: „Investieren Sie in Ihr soziales Kapital!“
Max Otte: Die Kneipe ist Seelentröster. Sie ist Dorfkino. Sie ist Dorftheater. Sie ist Informationsbörse. Sie ist Heiratsmarkt. Sie ist Treffpunkt. Sie ist psychotherapeutische Praxis. Sie ist Komödie. Sie ist alles. Und sie war alles. Und da haben sich dann auch – und das ist auch ein Unterschied zur englischen oder amerikanischen Kultur – Menschen aus allen Schichten getroffen, die sich ausgetauscht haben. Es gibt Kneipenrituale, es gibt Kneipentalk, den heutzutage kaum noch jemand beherrscht. Das ist regional ein bisschen unterschiedlich. Aber die Kneipe in der einen oder anderen Form, ob es das Wirtshaus ist, das schon in den „Buddenbrooks“ vorkommt, oder ob es die Berliner Eckkneipe ist oder die Kölsche Kneipe: Da gibt’s natürlich ein Riesensterben, schon vor Corona. Weil es sich nicht mehr lohnt, weil die Auflagen zu stark waren: die Gesundheitsämter, die Hygiene. Auf der anderen Seite hat sich natürlich auch die Kultur verändert. Menschen sitzen mehr zu Hause, die Jungen machen Computerspiele…

TE: Was bedeutet das für die Gesellschaft? In Bayern ist es das Dorfwirtshaus, dafür gibt es sogar Erhaltungsprogramme. Also was bedeutet das?

Max Otte: Das ist tatsächlich die Informationsbörse für ein Dorf. Ich meine, es gibt verschiedene soziale Verbände. Das eine ist die Familie, das andere ist dann vielleicht der Beruf und die Firma. Aber ein Dorf oder ein Stadtviertel ist auch ein sozialer Verband, und da haben sich klassenübergreifend, schichtenübergreifend Menschen getroffen auf Du und Du und nicht irgendwie mit Status und haben sich ausgetauscht.

TE: Also die Kneipe ist weg. Was denn sonst noch?

Max Otte: Sie ist nicht weg. Vielleicht kommen ja ein paar nach Corona wieder zurück. Aber es gibt Statistiken. Also ich glaube, in den vergangenen 20 Jahren hat die Hälfte aller Kneipen dichtgemacht. Viele sind auch umgewandelt worden in Imbisse.

TE: Dönerbuden.

Max Otte: Ja, ja, das ist auch schön. Auch gern mal zur Dönerbude. Aber es ist natürlich was anderes. Also noch mal zurück zu meinem Eifeldorf. Dort gab es einmal vier Kneipen. Als ich kam, waren es noch zwei. Die sind jetzt auch dicht.

TE: Sie haben zu wenig getrunken.

Max Otte im Gespräch
"Die Mittelschicht verarmt"
Max Otte: Ich hab meinen Beitrag leisten wollen, diese Kneipe zu halten, aber es hat nicht gereicht. Das ist richtig. Aber ich habe da wertvolle Kontakte fürs Dorf im Dorf geknüpft. Ich bin da jetzt seit zehn Jahren, das ist die eine Zeigerpflanze. Das habe ich ja in dem Buch geschrieben. Ich wusste, dass es unserem Land schlecht geht, wenn diese drei Zeigerpflanzen weg sind. Das andere war die Bäckerei um die Ecke in Köln. Ich wohne ja auch in Köln, und da hatten wir eine Bäckerei. Das war eine 100-Jahre-Traditionsbäckerei, und da bedienten Matronen, leicht rundlich, nett, freundlich, aber eben auf ihre Art und nicht irgendwie geskriptet, geschult von Verkaufstrainern. Das Brot war traditionell gebacken, ohne Zusatzstoffe. Die haben selber gebacken. Ich fühlte mich da quasi wie in meiner Jugend.

TE: Man riecht es geradezu noch, diesen Duft des frischen Brotes.

 Max Otte: Ja, man riecht das Brot.

TE: Was ist das? Ein heimeliger Duft? Was ist das Besondere, das Sie vermissen?

Max Otte: Die waren sie selbst. Es hat ihnen keiner gesagt, wie sie zu lächeln hatten, was sie zu sagen hatten. Sie waren trotzdem freundlich. Jede auf ihre Art. Das war ja früher auch im Einzelhandel so. Man hat den Menschen ja nicht gesagt: Jetzt musst du lachen und noch diesen Verkaufsgag anbringen. Natürlich gab’s auch da schon Schulungen, aber das haben die Menschen aus sich selbst heraus entwickelt, hatten ihren eigenen Stil, waren sie selber.

TE: Das Gekünstelte.

Max Otte: Ja, das antrainierte Militärische, kann man sagen – geskriptet, zentral vorgegeben, nicht dezentral. Die Bäckereien stehen für viele andere Mittelstandsbetriebe, auch für den kleinen Einzelhandel, auch für den Metzger. In Köln hat jetzt unser Metzger – auch da gab’s noch einen um die Ecke – im Zuge der Covid-Pandemie dichtgemacht. Solche Leute haben ihr Handwerk gelernt, die waren gut. Und wenn sie einmal Meister waren, hat ihnen keiner mehr reingeredet. Du hast einen Meisterbrief, du beherrschst dein Handwerk, du bist kompetent, du kannst dein Handwerk ausüben.

»Heutzutage machen wir dieselben Auflagen für alle,
vom Großkonzern bis hin zum kleinen Bäcker.
Das ist eine ganz aktive Antimittelstandspolitik.«

Es war Luft zum Atmen da. Da kam das Gesundheitsamt nur bei ganz schweren Verstößen, und es wurden nicht jedes Jahr neue Auflagen gemacht. Heutzutage machen wir dieselben strengen Auflagen für alle, vom Großkonzern mit der Tiefkühlkette bis hin zum kleinen Bäcker. Die kriegen alle dieselben hohen Auflagen, was natürlich sehr viel teurer ist für ein kleines, dezentrales Unternehmen. Dasselbe übrigens bei Banken, Sparkassen, überall. Das ist also eine ganz aktive Antimittelstandspolitik. Und damit steht dieser Bäcker für mich als Prinzip für den kleinen Mittelstand, also für die kleineren mittelständischen Betriebe, die auch zu zwei Dritteln bis drei Vierteln weg sind. Und jetzt gucken wir mal, was noch übrig geblieben sein wird, wenn diese Lockdowns einmal enden sollten.

TE: Wofür steht der Musikverein als Zeigerpflanze?

Max Otte: Der steht für die ursprüngliche Zivilgesellschaft. Denn was heute Zivilgesellschaft ist, sind oftmals gesteuerte Bewegungen, hinter denen Lobbys stehen, die psychologisch aufgebaut werden, wo man irgendeine „Emotion“ nimmt, irgendeinen „Issue“, eine Agenda durchpeitschen will.

TE: NGOs?

Max Otte: NGOs, ja, die stehen dahinter. Oder auch Konzerne, wer auch immer. Die sogenannte Zivilgesellschaft – das sind heute eigentlich gesteuerte Agitationsinstrumente. Früher gab es noch eine echte Zivilgesellschaft: den Verein. Und viele Menschen waren in mehreren Vereinen. Die haben da viel Energie reingesteckt. Ich denke an meinen Onkel, der hat nach seiner Pensionierung 20 Jahre die Bänke des sauerländischen Gebirgsvereins renoviert. Er ist herumgefahren und hat die Bänke in Ordnung gebracht. Das ist nur so ein kleiner Baustein. Man schimpft immer über die deutsche Vereinsmeierei, und das war natürlich ein typisch deutsches Phänomen. Vereine waren Zweckgesellschaften – Gesangsverein, Wanderverein, Gebirgsverein, Archäologieverein, was auch immer –, wo sich Menschen unterschiedlichster Schichten getroffen haben, um einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen.

TE: Das wird jetzt wegkommerzialisiert. Aus dem Sportverein wird jetzt das Fitnesscenter.

Vom wirklichen Leben
Max Ottes Notizen aus einer anderen Zeit
Max Otte: Das Perverse ist, dass man dem Verein die gleichen Regeln zumutet wie einem kommerziellen Unternehmen. Geldwäscheprüfung zum Beispiel. Also man müsste diesen zivilgesellschaftlichen Organisationen doch etwas mehr Luft lassen zum Atmen, etwas mehr Spielraum. Aber sie werden heute fast noch brutaler geprüft und reglementiert. Man will es weghaben, man will es in einen neuen Totalitarismus zwingen. Ich denke da eben an diesen Männergesangverein Ole 1890 in meinem Geburtsort. Wunderschöne Lieder, wunderschöne Stimmen. Und da war der Lehrer, da war der Fabrikant, da war der Arbeiter, da war der Beamte, und die haben da wirklich Arbeit reingesteckt.

TE: Warum verschwinden sie? Die Regulierung ist das eine, das sehe ich ein. Sportverein oder Fitnesscenter?

Max Otte: Das eine ist ja die Zivilgesellschaft. Richtig verstanden ist die eben auch verpflichtend, wenn man sich engagiert. Da ist man natürlich auch irgendwo gebunden und hat seine Pflichten und sagt: „Das nehme ich an.“ Das verschwindet natürlich heute. Vonseiten der Politik, vonseiten der Wirtschaft ist das auch gewollt. Das heißt, man wendet die Regulierung an, um das kleinzumachen. Wie sagte Hayek? Dinge um ihrer selbst willen tun. Das ist in jeder Diktatur nicht so gern gesehen. Das ist im Vereinswesen eben der Fall.

TE: Weil die Menschen sich gewissermaßen vom Staat entkoppeln und vieles machen, unkontrolliert, und damit eine Gefahr darstellen?

Max Otte: Wenn wir einen Staat haben, der schon fast totalitären Anspruch hat, der in Gesinnungskontrolle reingeht, der unliebsame Meinungen abschießt, der Menschen vernichtet, dann sind natürlich solche Dinge wie die Kneipe nicht gern gesehen. Da sammelt man sich ja und tauscht sich aus. Da ist der Verein nicht gern gesehen. Und die kleine Bäckerei, die hat man auch nicht so im Griff. Die Mittelständler, die wir noch haben, sind ja auch diejenigen, die politisch mit am sensibelsten sind, weil sie eben merken, dass ihre Existenz bedroht ist.

TE: Was ist mit der Kirmes?

Max Otte: Wir haben die natürlich im Sauerland gehabt, und in der Eifel gibt’s die selbstverständlich auch. In der Eifeler Kirmes gibt’s sogar noch den Junggesellenverein. Da gibt’s noch Bräuche wie das Hahnenköppen. Das heißt, man hängt einen toten Hahn kopfüber an der Decke auf, und man muss mit verbundenen Augen und Säbel zuschlagen. Und wer den Hahn köpft, der ist dann der Hahnenkönig.

TE: … wenn das der Tierschutzverein erfährt.

Max Otte: Na ja, heute ist der Hahn natürlich aus Gummi. Aber der allmähliche Wandel der Kirmes steht in der Tat für einen Riesenverlust. Wenn ich mich an meine Jugend erinnere, da gab’s einen Dorfpolizisten, der hat dann an dem Abend nicht unbedingt Bier getrunken. Oder doch? Nein, eher nicht. Er hat seine Pflichten da erfüllt oder kam mal vorbei, ansonsten feierten da Jung und Alt. Also ich hab’s eigentlich nicht erlebt, dass es da etwas auf die Glocke gab, wie man so schön sagt. Kirmes wird in der Eifel noch gefeiert, aber da muss heute ein privater Sicherheitsdienst beauftragt werden, das Festzelt abzusichern. Und ich finde das pervers. Früher hatte man ein absolutes Gefühl der Sicherheit. Man fühlte sich sicher, man fühlte sich auf Volksfesten sicher. Aber dieses allmächtige Gefühl der Bedrohung jetzt. Und dann haben wir ja spätestens seit 2015 auch Betonpoller auf Weihnachtsmärkten. Jetzt haben wir keine Weihnachtsmärkte mehr, sondern oftmals nur noch Wintermärkte.

TE: Fehlt Vertrauen?

Die Krise hält sich nicht an Regeln
Max Otte warnt: „Deutschlands Stärke, die Mittelschicht, verarmt“
Max Otte: Die Gesellschaft rutscht auseinander. Die Bevölkerung wird auseinandergerissen in beschützte, wohlhabende Viertel und arme. Wir hatten auch früher villenartige Viertel, aber es war doch stärker vermischt. Gerade in den Kleinstädten war der Fabrikant mittendrin und war Vorbild für die Arbeiter.

TE: Wenn man Sie so kennt als Crash-Prophet, als Finanzinvestor, dann denkt man, Sie müssten eigentlich in Frankfurt wohnen, in einem Penthouse, im Tiefgeschoss den Lamborghini für den Sonntag und unter der Woche den Maserati. Und dann sagen Sie, Sie wohnen in der Eifel. Passt das zusammen? Was ist los mit Ihnen? Sind Sie zufrieden?

 Max Otte: Man kann ja an der Börse sein Geld verdienen. Mein Buch ist einerseits eine Gesellschaftsanalyse, aber auch sehr persönlich. Also mit 16 hab ich gesagt, ich möchte promovieren an einer teuren Ivy-League-Universität in den USA. Das Geld war nicht da, also musste ich da irgendwie selber hinkommen, und, na ja, dann bin ich irgendwann beim Investmenthandwerk gelandet, was mir sehr liegt, weil ich da ein nicht konfrontatives Business betreibe. Ich kämpfe gegen mich selber an der Börse, gegen meinen eigenen Intellekt, gegen die Fehler, die ich vielleicht so mache oder die ich machen könnte. Es geht um intellektuelle Selbstkontrolle. So bin ich an der Börse gelandet, was sehr viel Spaß machte. In den USA habe ich zudem entdeckt, wie sehr diese deutsche Kultur oder was davon noch übrig ist, mich geprägt hat. Die Kindheit und Jugend im Sauerland, die haben mich so stark geprägt, dass ich zurückgekommen bin.

TE: Aber Sie mussten ja erst mal weggehen, nicht? Also offensichtlich ist dieses beschützte Leben zwischen Zeigerpflanzen doch ein bisschen zu eng gewesen für den kleinen Max Otte.

Max Otte: Ja, es war schon eng, richtig. Irgendwo das Gefühl zu haben, dass man sich in Plettenberg doch nicht so richtig entfalten kann. Ich habe die Spannung in gewisser Weise abgelegt. Ich schreibe ja in dem Buch davon, dass das jetzt mein viertes Leben ist, dass ich also so langsam das Unternehmerdasein auch ein Stück zurückfahre. Ich muss nicht wie Warren Buffett mit 90 noch investieren. Das brauche ich nicht. Politisch bewegt mich einiges, aber ich fühle mich da sehr geerdet. Ich fühle mich in meinem Dorf aufgenommen. Ich mag meinen Garten. Ich schreibe über den Garten, übers Gärtnern. Das gibt Kraft, gerade jetzt in der Corona-Zeit.

TE: Ist es falsch, bodenständig zu sein?

Max Otte: Natürlich nicht. Das ganze Buch ist ein Plädoyer für eine solide Bodenständigkeit.

TE: Das sagt aber einer, der viel herumgekommen ist …

Max Otte: …  und dann bewusst die Verwurzelung, die Verbindung zum Land, die mir auch in 20 Jahren erhalten geblieben ist, wieder gesucht hat. Ich würde sagen, gut 20 Jahre war ich in der Welt unterwegs, habe über 25 Wohnsitze gehabt.

TE: Aber das Glück liegt hinterm Gartenzaun. Neben der Kneipe?

Max Otte: Ja. Auch. Aber die ist ja jetzt weg.

TE: Ich versuche Sie ein bisschen zu provozieren, über dieses verlorene Gefühl hinaus. Gibt’s da eine Lehre für die Zukunft?

Max Otte: Sucht da, wo ihr seid, das soziale Kapital, und lasst euch auf eine gewisse Verbindung und Verwurzelung ein, und zwar nicht nur in eurer engen Bezugsgruppe, die ja meistens beruflich ist heutzutage, sondern darüber hinaus: Versucht, soziale Grenzen zu überschreiten.

Max Otte, Auf der Suche nach dem verlorenen Deutschland. Notizen aus einer anderen Zeit. FBV, 288 Seiten, 25,00 €.


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