Dies ist eines der wichtigsten Bücher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Der Autor kennt die Grünen aus nächster Nähe: Er hat mit allen wichtigen Politikern dieser Partei gesprochen, ihre Parteitage besucht und historische Dokumente gesichtet und analysiert. Er ist seit vielen Jahren bei der Welt für die Berichterstattung zu den Grünen zuständig.
Das Buch analysiert die heutigen Grünen, die man jedoch nicht verstehen kann, ohne ihre historische Entwicklung zu kennen – und auch darüber weiß der Autor bestens Bescheid. Es geht jedoch nicht nur um die Partei der Grünen, sondern um den grünen Zeitgeist. Denn, so Graw, in Deutschland herrsche ein „grüner Konformismus“, der politische Entscheidungen vorantreibe, sich aber nicht auf die Politik beschränke. „Nach der politischen Korrektheit hat sich eine ökologische Korrektheit entwickelt, die keinen geringeren Anspruch erhebt, als die Welt zu retten.“ (S. 9).
Ökomoralismus als Ersatzreligion
Graw kritisiert den „Ökomoralismus“, der „ersatzreligiöse Züge“ trage. „Abweichler“ werden aus der Gemeinde als „Leugner“ ausgeschlossen. „Er bietet gar ein ‚jüngstes Gericht’, nämlich den Klimawandel, der uns durch verheerende Unwetter, steigende Meeresspiegel und eine letztlich unbewohnbare Welt für unsere Sünden, den Konsumismus und die Gier bestrafen wird. Die Endzeit kommt!“ (S. 40).
Vor allem: Es geht darum, wie man dem Problem beikommt. Graw räumt mit der Legende auf, die Grünen seien eine liberale oder marktwirtschaftlich orientierte Partei. Es gab einmal eine Phase, in der es einige Marktwirtschaftler bei den Grünen gab (Oswald Metzger zum Beispiel), doch diese Zeit ist lange vorbei. Echte Marktwirtschaftler, so Graw, gebe es heute kaum noch bei den Grünen (S. 175). Die verbalen Bekenntnisse der Grünen zum Markt erinnerten an Touristen am schroffen Atlantik, die einander sagten: „Sieht interessant aus – aber wir gehen erst schwimmen, wenn die Wellen weg sind.“ (S. 176).
Vorbild Deutschland?
Der Autor ist sich mit den Grünen einig, dass Deutschland international ein Vorbild sein solle, obwohl wir mit nur 2,1 Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß beitragen. „Aber eine Zerstörung der deutschen Wirtschaft durch noch höhere Energiepreise im Namen des Klimaschutzes samt Firmenpleiten, Massenarbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen würde international eben nicht nachgeahmt, sondern als abschreckendes Beispiel dienen. Dann hätte Deutschland beim Klimaschutz mutig Tempo gemacht, und andere schauen eingeschüchtert zu, wie eine mächtige Wirtschaftsnation die Automobilbranche als ihren Motorblock ins Stottern bringt und letztlich abwürgt. Dem Beispiel würde niemand folgen.“ (S. 18)
Was die Grünen alles verbieten woll(t)en
Die Grünen setzen auf den Staat, und wenn vom Markt die Rede ist, dann meist in einem negativen Kontext. Und dass die Grünen eine Verbotspartei sind, ist keine Legende, wie Graw zeigt. Die Grünen forderten in den ersten beiden Jahren nach der Bundestagswahl 2017, also zur Halbzeit, in 26 Anträgen im Bundestag explizit Verbote, so etwa des Einsatzes gentechnisch veränderter Bäume. Nur die Linkspartei überbot sie mit noch mehr Verbotsanträgen (34), während die FDP im gleichen Zeitraum drei, die SPD zwei und die Union einen Verbotantrag einbrachten (S.96). Die Grünen wollten in ihrer Geschichte etliches verbieten, haben entsprechende Initiativen zumindest diskutiert oder fordern sie bis heute – vieles auf Bundes-, manches auf Landesebene. Es würde den Platz sprengen, all diese Ideen aufzuführen, von denen sicher nicht alle falsch sind – aber die Summe macht es. Verboten werden sollten: Atomkraft, Nachrüstung, Volkszählung, Privatfernsehen, Kabelausbau, Kasernierung von Wehrpflichtigen, Flughafenprojekte, Nachtflüge, Kurzflüge, Transrapid, Autos in Innenstädten, Verbrennungsmotoren (ab 2030), Fracking, Plastiktüten, Plastikstrohhalme, Kohle, Schweröl, Werbung für E-Zigaretten, öffentlich zugängliche Zigarettenautomaten, Limonadenverkäufe an Schulen, Onlineshopping am Sonntag, Zero-Rating beim Mobilfunk, Heizpilze, Paintball, Ponyreiten auf Jahrmärkten, Erste-Klasse-Abteilungen in der Bahn usw.usf. (S. 95).
„Hurra, die Grünen sind da“
Die Grünen sind deshalb so einflussreich, weil sie besonders viele Sympathien bei Journalisten genießen – und weil sich die anderen Parteien oft eher nach der veröffentlichten als nach der öffentlichen Meinung ausrichten. „Hurra, die Grünen sind da“, titelte „Die Zeit“ am 18. Januar 1980 anlässlich des Gründungskongresses der Grünen. „So wurde nie zuvor oder danach eine Partei in Deutschland begrüßt“, so Graw. Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo konstatierte 2016 die „Allmacht der Grünen“ und ihre „Hegemonie“ (S. 64).
Graw zeigt auf, dass zeitweise Angehörige von K-Gruppen (KBW, KB, KPD/ML) und anderen Linksextremisten (Revolutionärer Kampf) die entscheidende Rolle bei den Grünen spielten (S. 85 ff.). So sagte ein entgeisterter Otto Schily nach der Gründungsversammlung des Berliner Grünen-Vorläufers AL (Alternative Liste) 1978, er habe „den Eindruck, dass hier ein Parteitag der KPD stattgefunden hat.“ (S. 87)
1984 schickten die Grünen die Schriftstellerin Luise Rinser als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten ins Rennen. Sie hatte nicht nur in den 30er-Jahren ein Huldigungsgedicht für Adolf Hitler geschrieben, sondern später RAF-Terroristen als ihre Freunde bezeichnet und über den koreanischen Diktator Kim Jong-un gesagt: „Bei Ihnen zählt nicht Geld oder Besitz, sondern der menschliche Wert und das Maß an Opferbereitschaft. Ich erlebe zum ersten Mal, was Sozialismus ist … Ich flehe Sie an, Ihren Weg nicht zu verlassen.“ Und Kims „Augen leuchten jetzt…“ (S. 155).
Doch anders als bei der AfD, wo Journalisten sehr kritisch den Einfluss von Rechtsextremen thematisieren, fand die veröffentlichte Meinung im Allgemeinen weder Sympathiebekundungen aus den Reihen der Grünen für RAF-Terroristen (S. 140 ff.) noch den starken Einfluss von Kadern der maoistischen K-Gruppen kritikwürdig, sondern eher „bunt“ und ein Zeichen von Vielfalt. Dadurch gaben sie den Grünen die Chance, sich langsam zu parlamentarisieren. „Die Partei- und Parlamentsarbeit, gerade auch in den Kommunen, in denen es nicht um Weltrevolution ging, sondern um Zebrastreifen und das Für und Wider einer Ortsumgehung, hatte manche ideologischen Flausen verwehen lassen.“ (S. 89) Dennoch blieben sie bis heute eine im Kern antikapitalistische Partei, wie Graw zeigt.
Fake-Zitate von Claudia Roth und Joschka Fischer
Der Autor steht den Grünen kritisch gegenüber, aber er bemüht sich um Fairness und Sachlichkeit. So entlarvt er manche im Internet kursierenden Zitate und Geschichten über die Grünen als Fake. Beispielsweise gebe es keinen Beleg, dass Claudia Roth hinter einem Plakat „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ hinterhergelaufen sei (S. 99). Und das angebliche Zitat von Joschka Fischer „Deutschland muss von außen eingehegt und von innen durch Zustrom heterogenisiert, quasi verdünnt werden“, ist eben in Wahrheit kein Zitat von ihm, sondern stammt aus einer Rezension über ein Buch, das er geschrieben hat (S. 100 f.). So führt Graw mehrere Belege an, wie Politikern wie Renate Künast, Claudia Roth oder Jürgen Trittin Zitate in den Mund gelegt werden, die sie so nie gesagt haben. Leider, auch dies fügt der Autor hinzu, wird ähnliches auch mit Politikern anderer Parteien gemacht.
Graws Buch ist nicht nur sehr kenntnisreich, sondern es besticht auch durch sprachliche Brillanz. Kostprobe zu Robert Habeck: „Der schenkelklopfende Humor ist nicht sein Metier. Sorgenumkräuselt blickt er skeptisch auf die Weltenläufe, das Problem und mögliche Lösungen verständnisvoll abwägend. Habeck, ein Gesprächskreis auf zwei Beinen.“
Ansgar Graw, Die Grünen an der Macht. Eine kritische Bilanz. FBV, 304 Seiten, 22,99 €.
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