Es ist ein Wagnis, heute aus der freien Welt über Kurdistan und Kurden zu schreiben. Das ist so, weil seit langer Zeit der Verrat der westlichen Welt am kurdischen Volk fast zur Staatsraison geworden ist. Diese bittere Erkenntnis teilt Tobias Huch und er teilt sie mit – kenntnisreich und sachlich, differenziert wie emotional bewegt.
Der Publizist und Journalist, der Deutschland wegen massiver Anfeindungen durch türkische Nationalisten verlassen hat, macht keine neue Volk-ohne-Raum-Theorie auf. Aber er beschreibt das Alltagsdilemma eines zerrissenen Rumpfstaates mit seinen Menschen, Schwächen, Stärken und Träumen aus dem Raum der Wiege unserer Zivilisation. Dabei ruft er uns die Bedeutung Kurdistans als Stabilisator und Verpflichtung eindringlich in Erinnerung. ‚Kurdistan‘ ist eines der beiden neben ‚Die Islamische Eroberung der Welt‘ von Fazel Gheybi in diesem Jahr neu erschienenen Bücher zum Nahen Osten.
Wir schauen uns das erste genauer an.
Nun hat er aus seiner Erfahrung und sachlicher Analyse ein Buch zum Nahen Osten gemacht, das in jeder Weise als neu anzusehen ist. Es ist ein politisches Buch.
Damit unterscheidet sich ‚Kurdistan‘ deutlich angenehm von dem bisher als Standardwerk geltenden ‚Die Kurden‘ vom mittlerweile 77-jährigen Günther Deschner (Herbig, 2003, München) oder dem renommierten Band ‚Die Kurden‘ von Strohmeier/Yalcin-Heckmann (Beck 2000-2016, München). So wird Huchs ‚Kurdistan‘ heute und zu unserer Zeit erforderlich, denn es ist an Aktualität kaum zu überbieten.
Tobias Huch bringt Licht in historische und familiäre Zusammenhänge, die zur heutigen Politik wurden. Aber im Gegensatz zu seinen Vorreitern wertet er weniger persönlich, analysiert mehr und vermittelt die aktuelle politische Sachlage über ein Gebiet, das über 50 Millionen Kurden ihre Heimat nennen.
Das macht dieses Buch mit dem Untertitel deutlich: ‚Wie ein unterdrücktes Volk den Mittleren Osten stabilisiert‘. Das ist kein Programm, das ist ein Sachverhalt. Damit hebt er die Bedeutung Kurdistans als Pufferstaat ohne vollständige eigene Staatlichkeit hervor. Auch das macht diesen Band wichtig.
Nein es ist gar nicht einfach, über etwas so vielfältiges und so differenziertes zu schreiben, was doch eines ist und bis heute immer wieder schafft, sich als Eins zu sehen. Von Syrien bis nach Armenien reicht Kurdistan, vom der Mitte der Türkei über den Irak bis in den Iran. Alewiten, chaldäische Christen, Êzîden, Muslime und selbst Juden sehen sich als Kurden und leben ihre Tradition. Das so zu beschreiben, benötigt einen wirklich guten Chronisten. Tobias Huch zeigt, dass er dieser Mammutaufgabe gut gewachsen ist.
Zu lesen ist aber dieser geschichtliche Abschnitt auch für den Kundigen mit Gewinn, denn wie das übrige Buch ist der Sprachstil bestechend klar und immer gibt es noch etwas Neues, das der Autor für uns entdeckt.
Besonders sympathisch ist dem Rezensenten eine bezeichnende Passage bei Huch:
„Mir persönlich ist bei der Vorstellung, die Kurden seien das Ergebnis von so vielen Einflüssen bedeutender Völker, besonders der Gedanke sympathisch, dass das kurdische Volk gewissermaßen der natürliche Erbe der höchsten kulturellen Eigenschaften der Menschheitsgeschichte ist. Die reichhaltige Kultur der Kurden, ihre Traditionen und all das, was ihre Identität ausmacht, sind wie ein Fingerabdruck der Historie und zugleich das Spiegelbild unserer eigenen Vergangenheit.“
Das ist die Dimension, die Hoffnung auch in weiterer Zukunft verspricht und unsere so nahe Verwandtschaft mit diesem Volk aus dem Herzen der Menschwerdung illustriert.
Das ist auch das Bild, was viele gern sehen würden, und auf der Reise durch Huchs Kurdistan werden wir sehen, wie vieles davon nur allzu wahr, aber auch in welch traurige und blutige Gewänder es gehüllt ist. Das Infragestellen des Kurdischen Volk wird von jedem zumeist ungeliebten Nachbarn anders begründet. Der Volksbegriff, den uns der Autor mit auf den Weg gibt, ist kein definierter, sondern ein selbstbezüglicher, der sich quasi aus der puren Existenz seines Gegenstandes selbst heraus begründet. Das wird vom Autor sehr überzeugend vermittelt. Am Ende wird der Leser die Evidenz des Kurdischen kaum in Zweifel ziehen, da er tief in die Einheit, in dessen Farbenreichtum und seine Einzigartigkeit eingetaucht ist.
Die Brücke dorthin baut uns der Autor mit intensiven Erlebnisberichten von Menschen, Ereignissen und Orten, besonderen und ganz normalen im Spektrum des Menschlichen. Das braucht es auch, um Kurdistan verstehen zu können – mindestens.
Der rasche Sprung von der Vorzeit in das Mittelalter verwundert, war doch der berühmte Sultan Saladin (1138-1193 nc), Gegenspieler von Richard Löwenherz, selbst ein Kurde. Da hätte man sich einen anderen Übergang gewünscht und muss selbst andernorts nachschlagen.
Deshalb nehmen Geschichte, Politik und Struktur im noch bewusst free floatenden Begriff ‚Kurdistan‘ sofort den wesentlichen Raum ein, und der gilt dann in der Regel für alle kurdischen Regionen. Das zieht sich durch alle Abschnitte hindurch. Da fallen dann die großen Namen: Barzani, Talabani und selbstverständlich der von „Apo“ Öcalan.
Parteien, Mächte und Kräfte werden identifiziert, ihre Konflikte, Ziele und Auseinandersetzungen – und nicht nur die innerhalb Kurdistans. Das gibt es in dieser gegenwartspolitischen Schärfe nur in „Kurdistan“.
Besonderes Augenmerk sollte auch hier auf dem Kapitel Minderheiten liegen. Das zeigt umso mehr das Inhomogene dieses Volkes. Warum aber etwa Êzîden, hier Jesiden genannt, oder Aleviten oder die sufistischen Kakeye, oder die assyrisch-chaldäischen Christen – alles urkurdische, identitätsstiftende Volksgruppen – offensichtlich mit Minderheiten gemeint sind, erschließt sich dem Rezensenten nicht, da damit letztlich die sunnitische Deutungshoheit über das Kurdische anerkannt wird. Diese Kritik muss stehen bleiben. Das kann auch durch die mehr als eindeutigen Sympathiebekundungen Huchs zu diesen Minderheiten nicht relativiert werden.
Drei dieser Nachbarn bedürfen eines besonderen Augenmerks. Das ist der Beitrag ‚Beziehungen zur Türkei‘, mit der besonders kritischen Intention der türkischen Nationalstaates. Dieses vorletzte Kapitel greift noch einmal tief in die Geschichte und erklärt anfangs angedeutete und umrissene Probleme umfassender. Diese werden nun nach der Lektüre besser verständlich und mit anderen Augen erfahrbar. Selbstverständlich geht es hier um Hass, Macht und die Wut der Nationaltürken, den Widerstandswillen der Kurden weder brechen noch erkaufen zu können. Es ist eine Geschichte von Fort- und Rückschritten, zumeist aber die von zerstörten Hoffnungen. Spaß macht es nicht, das zu lesen, aber es ist unverzichtbar.
Das trifft ebenso auf den südöstlichen, hochaggressiven Nachbarn Iran zu. „Die Rolle des Iran“ wächst stetig im Irak und der gesamten Region. Der weit reichende militärische Arm der ehemaligen Perser zwingt zu einer Beschäftigung mit Rück- und Ausblicken. Das ist (über-)lebenswichtig für eine Volksgemeinschaft umgeben von tödlichen Interessen und Gewalt.
Ein weiterer Aspekt ist der in Kurdistan an westlichen Werten orientierte Umgang mit Freiheit. Freiheit macht der erfahrene Journalist Huch zu einem guten Teil an der Pressefreiheit fest. Das trifft. Hier erklärt Huch auch das Orientalische und räumt mit der untauglichen Romantik eines West-Östlichen-Divans auf. Er spart er auch nicht mit Kritik an den kurdischen Freunden.
Ähnliches dokumentiert er auch bei der „Situation der Frauen“ . Dieser Abschnitt ist rundherum gelungen, denn auch er schwingt zwischen Würdigung, Verständnis und Kritik. Hier wird der Einfluss des arabischen Islam scharf angegriffen – und das mit Recht. Das Ideologieproblem des Islam wird nicht beschönigt, aber es wird auch nicht übertrieben, sondern als Teil dessen begriffen, mit dem man sich als Kurde auseinander zu setzen und herum zu schlagen hat.
Kurdistan auf dem Weg in eine westlich orientierte Wirtschaftsgemeinschaft
Letztlich ist Kurdistan, in welchen Teilen oder mit welchen Volksstämmen auch immer, auf dem Weg in eine westlich orientierte Wirtschaftsgemeinschaft – damit wird es wohl beginnen müssen, weil es bis zur Wertegemeinschaft noch ein langer Weg ist. Die Internationalisierung aber, so hofft der Autor mit seinen kurdischen Freunden, wird das Beste in Kurdistan bewirken, denn damit scheint ein Rückfall in quasi-mittelalterliche Gesellschaftsbilder nicht denkbar. Das liest man am deutlichsten im Kapitel über die ‚Wirtschaftliche Situation‘. Hier ist von den reichen Ressourcen die Rede, von dem fruchtbaren Land, von Öl, von Partnerschaften, von Aufschwung, Krise und neuer gut verdienenden Mittel- und Oberschicht, von Korruption und schwankender Energieversorgung, notwendig auch von enormen, nicht genutzten Potentialen. Das alles lässt insgesamt positive Erwartungen realistisch erscheinen, sagt aber auch, dass der Westen seine kurdischen Schwestern und Brüder nicht wieder allein lassen darf, wie es sich durch die Ankündigung Trumps, seine militärische Präsenz in Syrien zu beenden, einmal mehr andeutet.
Die zentralen Ziele Kurdistans sind „Unabhängigkeit und Freiheit“. Die Kurden wissen genau, dass es das Ziel aller ihrer Nachbarn mit Ausnahme Israels und Armeniens ist, ihr Land zu unterwerfen und brutal auszubeuten. Deshalb ist eine Unabhängigkeit in Freiheit die einzige Chance für ihr Land, um künftig in Frieden und Wohlstand leben zu können. Euro-amerikanische Kompromisse, etwa um die Türkei nicht zu verärgern, oder im Vertrauen auf Versprechungen anderer Staaten die kurdische Freiheit zu beschneiden, haben sich immer wieder als absolute Dummheit, Feigheit, und für die Kurden als offener Verrat offenbart. Von daher ist das Gerede von Autonomie und eventuellen Sonderzonen nur eine weitere Einladung an alle potentiellen Aggressoren. Das geht, wenn nicht schon aus anderen Textteilen, spätestens hier hervor als die Erkenntnis des Faktischen.
Überall im Buch werden Zusammenhänge entwickelt. Der Leser wird auf vielen Pfaden an die mehr als vielschichtige und sich oft widersprechende Materie aus Geschichte, Religion, Politik und Medien, wie von Feinden und Freunden herangeführt.
Jemand, der Antworten sucht, findet zumindest verlässliche Problembeschreibungen. Wo es für Optimismus noch lange keinen Raum gibt und jemand nur einfach eine Übersicht erwartet, wird er sicher mit gewecktem Interesse weiterdenken. Bundeskanzler, Außenminister nebst ihren Beraterstäben sowie alle Parteistrategen sollten es zwingend lesen. Journalisten auch.
Torsten A. Kurschus