Manchmal hat auch ein Popstar recht. Ein Großmaul irrt nicht immer. Insofern muss ich bei dem britischen Staatsbürger Liam Gallagher Abbitte leisten. Die Musik seiner ehemaligen Band »Oasis« habe ich sehr gemocht. Wer könnte »Wonderwall« je vergessen? In Interviews aber fand ich ihn kaum erträglich. Da war meist zu viel kalkulierte Übellaunigkeit, zu viel Posertum. Nun geht der 1972 geborene Liam Gallagher auf die 50 zu, nennt sich »sehr zufrieden und glücklich«, preist die Kochkünste seiner Freundin Debbie, macht mäßig originellen Retrorock und sagt, was wirklich einmal zu sagen war. Angesprochen im September 2019, ob er schon E-Scooter gefahren sei, erklärt der Sänger und Songwriter: »Ich nutze kein Verkehrsmittel, das aussieht wie Spielzeug für Kinder« Thanks, Liam.
Spricht man das E wie den deutschen oder den englischen Buchstaben aus? Sagt man Eeeh- oder Iiih-Scooter? Der Anlaut steht für den Antrieb, denn dieser Roller hat einen Motor. Elektrizität treibt ihn an. Zwar muss sich der solchermaßen rollende Mensch mit einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h und einer Reichweite von rund 20 Kilometern begnügen. Doch darauf kommt es nicht an. Der E-Scooter ist gedacht für die kurze Strecke zwischendurch, die sogenannte letzte Meile. Der E-Scooter ist der Schokoriegel unter den Fortbewegungsmitteln. Er markiert einen weiteren Etappensieg auf den Weg zur durchinfantilisierten Gesellschaft. Große Jungs, gerne mit Schultertasche und Vollbart und buntem Helm, die Füße hintereinander auf dem Brett, die Lenkstange mit beiden Händen umgriffen, lassen sich den Stadtwind um die Nase wehen, überholen die Fußgänger und sind wieder Karlsson vom Dach, Michel aus Lönneberga oder Tommi Settergren oder der, der sie selbst waren, der Michael aus Lüneburg. Platz da, hier kommt kein Mazda.
Die Verleihfirma »Tier« prophezeit bis zum Jahr 2029 komplett autofreie Innenstädte. Dazu leisteten Elektroroller einen wertvollen Beitrag. »Tier Mobility« sorgt in rund 40 Städten weltweit für »rollende Mobilitäts-Alternativen«. Die »Erziehung unserer Kunden«, so »Tier«-Mitgründer Julian Blessin im Dezember 2019, müsse aber verbessert werden. Mit »Fahrschulen« und »Hinweisen in der App, wie man parkt« müsse man einige Kunden »zu besserem Verhalten erziehen«. Eine ehrliche Ansage. Der zahlende Nutzer wird so behandelt, wie er sich gibt, als Kind. Und Kinder müssen erzogen werden. Kinder gehören auf die Schulbank.
Vor dem Licht sind die Schatten der vielen Start-ups schon da. Nicht nur in Berlin, auch in Frankfurt am Main, Köln oder München werden abgelegte E-Roller zu Verkehrshindernissen. Sie hemmen den Fluss, statt ihn sich geschmeidig zunutze zu machen. Erst seit Juni 2019 sind sie in Deutschland zugelassen, schon sorgen sie für Verdruss. Reicht da betreutes Fahren? Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags nimmt die Verleiher in die Pflicht, »dass abgestellte Tretroller, die andere behindern oder gefährden, schnell entfernt werden«. Handelte es sich um persönlichen Besitz, wären solche Flegeleien kaum zu befürchten. Discounter bieten Modelle für weniger als 300 Euro zum Kauf an. Womöglich liegt der Königsweg zu mehr Verantwortung in mehr Eigentum.
Die deutsche »Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung« gibt ein Mindestalter an für die Benutzung der elektrischen Roller: 14 Jahre; auch das wirkliche Kind darf sich aufs Brett schwingen. Eine Versicherungspflicht gibt es und ein Verbot, das Trottoir zu benutzen, woran sich in Berlin nicht alle Mieter – Pardon: Mietenden – halten. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur rechnet neben Tretrollern mit Strom auch Segways zur »Mikromobilität«. Segways lassen die Menschen, die auf ihnen stehen, noch rascher zu Pimpfen schrumpfen. Die knubbeligen Stengel mit Podest, umgedrehten Pilzen gleich, fristen ihr Dasein unter den Füßen gestresster Touristen, die für die Altstadt einer europäischen Metropole 90 Minuten Zeit haben. Da geht man besser nicht zu Fuß. Da macht man sich lieber in der Gruppe zum Affen, zieht den Helm auf und besteigt einen Segway. Holterdiepolter geht sie los, die kindische Fahrt über Stock und Pflasterstein. Am Stengel hält man sich in starr gestreckter Pose fest wie der Ertrinkende am Baumstamm, nur in der Vertikalen. Das Maß an Selbstverleugnung, das Erwachsene aufbringen müssen für eine einzige öffentliche Segway-Fahrt, hätte vor einigen Jahrzehnten als therapiebedürftig gegolten. Sehen wir es positiv: Der Ruf des Einzelnen ist stabiler geworden, Rollenzuschreibungen haben sich verflüssigt, das innere Kind bekommt Ausgang. Dennoch ist es keine nur traurige Nachricht, dass der chinesische Mutterkonzern Mitte Juli 2020 die „Segway“-Produktion einstellte. Der Markt sei übersättigt gewesen.
So könnte sich trotz niederschmetternder Nachrichten aus dem Wunderland der rollenden Kindsköpfe der Scooterboom fortsetzen, wenngleich vermutlich gedämpft durch »Corona«. Die Zahl der Unfälle mit Elektrorollern, diesen motorischen Zwittern, zu schnell für den Gehweg, zu langsam für die Fahrbahn, nahm bereits zu. Parkverbotszonen wurden eingerichtet, weil die Bewegungsgeräte touristische Sehenswürdigkeiten verschandeln oder Fußwege unpassierbar machten. Heitere Neugier auf die neuen Verkehrsteilnehmer geht über in aggressiv geführte Verteilungskämpfe. Wo kindliches Gebaren – der Roller ist ein Fahrzeug für Kinder – auf Dominanzverlangen trifft, schwindet Verständnis. Mein Eindruck: Nachschulung wäre wirklich angesagt, Nachschulung in erwachsenen Umgangsformen zu Lande, zu Wasser und auf dem Brett.
Auch Öko-Ökonomie ist Ökonomie, muss Nachfrage herstellen oder Bedürfnisse aufnehmen, um das jeweilige Angebot profitabel auf den Markt bringen zu können. Nachfrage kann erzeugt werden durch die Leistungsfähigkeit eines Produktes, seine Schönheit, seine Effektivität, durch moralischen Druck, durch Gesetze, durch Appelle an Instinkt und Trieb. Beispielsweise. Das Kind, das in jedem von uns steckt, ist da ein mächtiger Agent. Wer es direkt anspricht, kann sich eine lebenslange Kundenloyalität aufbauen. Hinter mancher Infantilisierung stehen handfeste wirtschaftliche Interessen.
Bereits im November 2012 sah FAZ-Journalist Edo Reents in Deutschland »eine gesellschaftliche Tendenz hin zu einem Verhalten, das man früher als kindisch bezeichnet hätte, das heute aber, weil es so verbreitet ist, kaum noch als solches auffällt: Mitteilungsdrang gegenüber Fremden, Indiskretion; ein gewisser Zeigestolz; der Hang, seinen Spiel- und Zerstreuungsbedürfnissen zu fast jeder Zeit und ohne Rücksicht auf die Umgebung nachzugehen. Diesen Eigenschaften, die auf die fortlaufende Preisgabe des Privaten, Persönlichen hinauslaufen, ist etwas ausgesprochen Übergriffiges gemeinsam; man kann ihren Äußerungen nicht entkommen. Kindern muss man vor allem eines beibringen: Grenzen. Erst sie gewährleisten, über den Schutz nach außen, eine intakte Persönlichkeit. Diese Erziehung wird von einer immer indiskreter werdenden Öffentlichkeit rückgängig gemacht.«
Unverändert gilt Edo Reents’ Beobachtung von 2012, die »fortschreitende Infantilisierung« sei »das Werk der Werbe- und Unterhaltungsindustrie« – zu ergänzen freilich heute um eine nicht minder übergriffige Politik, die Bürger wie Kinder behandelt, um sie erziehen zu können. Der Mensch als Kind ist immer der Mensch in einer Abhängigkeit, die er sich nicht eingestehen will. Nicht ohne Grund emanzipiert sich der Teenager an der Schwelle zum Erwachsenen von denen, die ihm weiterhin Vorschriften machen.
Edo Reents erkennt bitter, »bei vielen Dingen, die heute hergestellt werden, ist es so wie früher nur bei gewissen Ravensburger Spielen: Alter 6 bis 99.« Verschwunden sei die Kategorie »altersgemäß«, verschwunden die »erwachsene, bürgerliche Reserve gegenüber nur für junge Leute bestimmten Konsumgütern«. Belege seien das verspielte Design von Autos, von Google, von Apple, der Retro-Kult in Zeitschriften und auf Schallplatten, »und wir wollen am liebsten alles gleichzeitig machen«. Wie einst Knabe Nimmersatt sitzt der Erwachsene, zumindest in den globalen Konsumgesellschaften, am stets gedeckten Tisch, greift hierhin, patscht dorthin und ist nie zufrieden. Die Firmen, die seine Lüste befeuern, sind’s schon.
Journalist Tobias Haberl gelangt in seinem Buch »Die große Entzauberung« (2019) zu einer vergleichbaren, nun schon zugespitzten Einschätzung. Haberl blickt auf »den Strom der Zalando-Pakete, WhatsApp-Nachrichten und InstagramPosts« und folgert: »Im Grunde werden wir behandelt wie Kinder, die scheinbar vor der Tragik und der Ambivalenz des Lebens beschützt, in Wahrheit permanent bevormundet, moralisch unter Druck gesetzt oder durch eine heitere Wohlfühlatmosphäre zum Kauf von Produkten animiert werden sollen, von denen wir fünf Minuten vorher nicht wussten, dass es sie überhaupt gibt. Gleichzeitig werden wir vom Zeitgeist dazu ermuntert, immer noch empfindlicher gegenüber anderen Meinungen zu werden, was man wunderbar auf Twitter beobachten kann, wo inzwischen jedes Wort, das nicht hundertprozentig besenrein ist, reflexhaft sanktioniert wird.«
Das Wechselspiel von Ermunterung und Bevormundung ist in jenem Bereich der Kultur, den wir Bildung nennen, weitverbreitet. Staatliche Schulen und Hochschulen legen einen Korridor des Erwünschten, jenseits fachlicher Inhalte. Das Korrekte übertrumpft im Zweifel das Wahre. Aus der einen Universitas Litterarum werden die vielen »Safe Spaces« der Sensiblen. Studenten werden beschützt vor den Zumutungen unzeitgemäßer Wissensformen, Dozenten – ich korrigiere: Lehrende – vor falscher Neugier. Ausgangspunkt in beide Richtungen: der Mensch als ewiges Kind.
Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt 2014 in seiner Streitschrift »Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung«: »Die Infantilisierung und selbstgewählte Teilentmündigung junger Erwachsener scheint in vollem Gange. Das (…) entspricht dem Charakter unserer Konsumgesellschaft und der zunehmenden Pädagogisierung des Alltags. In diesem wimmelt es nur so von besorgten Begleitpersonen aller Art.« Hochschullehrer Liessmann sieht »Fresspakete und Nuckelflaschen in den Klassenzimmern, Seminarräumen und Hörsälen« und leitet daraus die Diagnose ab, wir seien »als Kultur in eine orale Phase geschlittert, wir bleiben, individualpsychologisch, in dieser stecken«. Liessmann zufolge infantilisiert »die Welt des Konsums die Menschen in einer umfassenden Weise«. Er spricht vom »infantilistischen Ethos« des gegenwärtigen Kapitalismus.
Letztlich, meine ich, sind es zwei Bewegungen mit einem Ziel. Konsum und Politik, Kapitalismus und Staat nehmen das Individuum in einen infantilisierenden Zangengriff. Statt Erziehung zur Mündigkeit erfolgt das Festhalten in Unmündigkeit. Nur Formen und Felder wechseln, das Streckbett bleibt sich gleich. Wer die anderen verzwergt, der profitiert und herrscht. An Schulen sind die »besorgten Begleitpersonen« (Liessmann) jene »Lernbegleiter«, deren trauriges Wirken die Mutter und Schriftstellerin Katja Oskamp 2016 in einem Aufsatz schilderte. Da Oskamps Tochter die elfte Klasse eines Gymnasiums in Berlin besucht, gibt es Anschauungsmaterial frei Haus. »Häufig«, schreibt die Autorin, »finden Projektwochen statt, was bedeutet, dass der Unterricht ausfällt. In der Projektwoche zum Thema Kinderarbeit musste meine Tochter in der dreckigen Turnhalle unter Bänke robben, um Mitgefühl für das Elend bolivianischer Minenkinder zu entwickeln.« So kann es gehen, wenn die verordnete Anteilnahme, die vermeintliche Einfühlung in fremdes Leid, das eigene Denken verdrängt. Schauspiel ist dann alles, was bleibt. Zynismus wirft sich das Kleid des Mitleids über. (…)
Konrad Paul Liessmann gibt dem »Ethos der Infantilisierung« einen besonderen universitären Nährboden – dort nämlich, wo Klassiker gereinigt oder Bücher mittels »trigger warnings« abgemildert werden. Erwachsene Studenten werden darum der sogenannten »Generation Schneeflocke« zugerechnet, vor allem in den USA und im Vereinigten Königreich. Snowflakes schmelzen bekanntlich schnell und beim ersten Tauwetter. Sie brauchen stabile Kühle, keine Unruhe, keinen Temperaturanstieg. In vergleichbarer Weise soll das Denken vor Irritationen bewahrt werden. Die menschheitsgeschichtliche Erkenntnis, dass jedes Denken eine Irritation ist, geht dabei verloren.
Die besenreine Gesellschaft, das kantenfreie Utopia: Da hat eine Generation ihr Leben unter emotionalen Vorbehalt gestellt. Eine subjektive Wende fand statt, das Ich ersetzt das Argument und bringt jedes Gespräch zum Verstummen. Wie will man Empfindungen widerlegen? Wie Erfahrungen bestreiten? Das Ich in der Arena duldet keine fremden Götter neben sich. Von der falschen Ebene auf die schiefe Bahn gerät eine Gesellschaft, wenn sie Gefühle unter sozialen Bestandsschutz stellt. Es ist nicht nur eine Peter-Pan-, es ist, schlimmer noch, eine Rumpelstilzchen- und Suppenkasper-Gesellschaft geworden. Eine Gesellschaft ohne Erinnerung. Eine Gesellschaft voller Ressentiments, weil Zorn und Wut nicht zu Argumenten sublimiert werden. Jeder steht auf dem Quadratmeter seiner Erregung, bewacht ihn eifersüchtig, stapft trotzig auf und beharrt auf seinem Gefühl. Lächelt, wenn er sich ungestört austoben darf. Wenn man ihm applaudiert, egal, was er tut.
Von solcher Zersplitterung einer Gesellschaft in lauter kleine Ich-Könige profitiert eine Politik, die im Bürger den Konsumenten von Wohltaten sieht, die man ihm zuteilt, um ihn kleinzuhalten und damit er nicht auf unerwünschte Gedanken kommt, und profitiert eine Industrie, die im Ex-und hopp-Modus neue Ablenkungsprodukte auswirft. Auch die staatlicherseits als »emissionsfrei« angepriesenen Elektroroller haben eine bescheidende CO2-Bilanz, müssen doch Rahmen aus Aluminium und Akkus mit Lithium-Ionen produziert werden. Die Dialektik der Aufklärung begräbt ihre Kinder unter sich.
Leicht gekürzter Auszug aus: Alexander Kissler, Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife. HarperCollins, 256 Seiten, 20,- €.