Tichys Einblick
Texte aus Notwehr

Die Aufrichtigkeit des Werks. Zur Essaysammlung »Habe Mut« von Jörg Bernig

Aufgabe eines Künstlers, der den Namen verdient, ist es, sich um Aufrichtigkeit, im weiteren Sinn Wahrhaftigkeit des Werks zu bemühen, in diesem Bemühen so etwas wie Wahrheit wenigstens näherzukommen, trotz der eigenen Mängel, zu denen der Irrtum ebenso zählt wie Bequemlichkeit und ererbtes Vor- als Welturteil.
Von Uwe Tellkamp

Nach seinem bedeutenden Roman »Eschenhaus« legt Jörg Bernig nun eine Sammlung bislang verstreut veröffentlichter Aufsätze vor. Der Aufsatz ist für einen Schriftsteller keine ungefährliche Gattung. Die Stimme, mit der er hier spricht, scheint ganz ungeschützt seine eigene zu sein, er verhält sich unmittelbar zu den behandelten Gegenständen, er setzt sich aus, auch dem Irrtum – der Autor wird als Mensch sichtbar.

»Begleitschreiben« lautet der Untertitel des Buchs: Liest man die Texte in ihrer zeitlichen Folge, ergibt sich eine Autobiographie in Umrissen, ein geistiger Lebenslauf in ausgewählten Stationen. Einer Momentaufnahme von der Jahrhundertflut in Sachsen 2002 folgt eine Erinnerung an die Studienzeit im Leipzig der späten achtziger Jahre, als die Häuser von Taubenzecken besetzt waren, Ausreisewelle und Resignation auf dem Höhepunkt, und manche Straße einer Kriegszone glich mit Ruinen, an die heute kaum noch jemand glaubt.

»Als wir nicht erschossen wurden«, ein Bericht aus der ostdeutschen Revolution, als jene Demokratie erkämpft wurde, die dem Osten heute mit der Mahnung, die Diktatur habe in den Ostdeutschen kein Bewußtsein für Demokratie aufkommen lassen, abgesprochen wird. Bernig schreibt über Eichendorff und Hanns Cibulka, Verwandte im Geist, im Beharren auf Herkunft, Maßstäben, Überlieferung, die mit billigen Parolen nicht zu erledigen sind.

Dann ändert sich das Klima des Buchs. »Klemperer und die Dissidenten« untersucht die Rezeption von Klemperers »LTI«, das sich mit der Sprache des Dritten Reichs beschäftigt, in der nachfolgenden deutschen Diktatur, die kommod nur für Einverstandene war; auch wer nichts sieht, hört oder wissen will, ist einverstanden.

Inzwischen bekommt Klemperers »LTI« wieder Resonanz, es genügt, sich mit dem Gebrauch von Wörtern wie »krude«, »schwurbeln« oder »-leugner« zu beschäftigen.

Die Texte werden bedrängter, das Zeitgeschehen mischt sich ein, es sind – spürbar – Äußerungen eines Menschen, der angesichts dessen, was vor sich geht, nicht mehr schweigen kann. »Habe Mut«, die Rede in St. Annen zu Kamenz 2016, »Zorn« zur Flüchtlingskrise 2015, »Was zu sagen ist« nach der auf Druck der sogenannten Zivilgesellschaft rückgängig gemachten Wahl Jörg Bernigs zum Kulturamtsleiter von Radebeul: Texte aus Notwehr, das Wort fällt in der Einleitung.

Sternstunden des Lesens
Zwischen Realismus und surrealer Parabel: ein Meisterstück
Notwehr wogegen? Gegen die Sprache und die Maßnahmen der Macht. Der Charakter einer Gesellschaft bemißt sich an ihren Tätern und am Schweigen, und beides mündet in den Umgang mit Kritikern, Gegnern, Feinden. Wie geht unsere Gesellschaft mit Jörg Bernig um? Ein Kritiker und mutiger Intellektueller, ohne Furcht vor Denkverboten: Er müßte, der Selbsterzählung des Kulturbetriebs nach, doch willkommen sein, im Schauspielhaus müßte er längst eine der kaum noch zählbaren Dresdner Reden halten, in unseren Qualitätsblättern eine Kolumne haben, in Stadtrat und Parlament sprechen, man wäre interessiert am anderen Blick, am Blasendurchstich hin zu einer umfassenderen Sicht auf die Welt, in Talkshows wäre er ein geschätzter Gast. Wenn die Verhältnisse und die Gesellschaft tatsächlich liberal wären und Meinungsgeber in den sogenannten Qualitätsmedien nicht im Kampf gegen rechts stünden, der im ernstgemeinten Fall oft mehr gegen die eigenen nach außen projizierten Phobien als gegen wirkliche Nazis gerichtet ist, im zynischen Fall auf Meinungsherrschaft.

Bernig beschreibt die Mechanismen sehr genau, mit denen denunziert, verdreht, vertuscht, mit Teilwahrheiten im Ganzen gelogen, projiziert und hütchenspielhaft abgelenkt wird. Es sind die Instrumente, die Manöver des Totalitären und der Propaganda, die seit spätestens 2015, der Migrationskrise (die anhält), der sogenannten Energiewende, Corona, von seiten unserer nicht gleichgeschalteten, aber in wesentlichen Themen gleichgestimmten Hauptmedien unablässig gebraucht worden sind und gebraucht werden; allerdings gibt es, unter dem Druck der Realität, inzwischen Absetzbewegungen. Es ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die irre an sich selbst geworden ist, Wohlstandsprobleme und deren Lösung für die der ganzen Welt hält und glaubt, die Welt müsse wieder einmal am deutschen Wesen genesen.

Diesmal offenbart es sich in einer angeblich besonders dringlichen, wissenschaftlich eindeutigen und unaufschieblichen Angelegenheit, der Klimarettung, für die Demokratie und Freiheit notfalls aufgegeben werden müssen. Der Bund deutscher Mädel hielt sich auch nicht für verblendet, wollte auch nur Gutes, und so das »Neue Deutschland«. (Wie kann man das nur ernsthaft miteinander vergleichen?! Weil sich die Methoden und die Heilsversprechen so sehr ähneln.) Das Alte neu: Heute ist es, in woker Verkleidung, die  Sprache der ›ZEIT‹, die zu den verlogensten und oberlehrerhaft spießigsten Kulturprodukten dieses Lands gehört. Die Wahrheit dieses Zentralorgans des deutschen Moralismus zeigt sich, als Fratze, im Kommentariat der Onlineausgabe. Dort kann man Nazimentalität, die selbstverständlich überzeugt ist, keine zu sein, in zeitgemäßer Entpuppung studieren.

Jörg Bernig
„Ich werde mehr Zeit für mein Schreiben haben. Das wird einigen auch wieder nicht gefallen“
Es ist der Haltungsjournalismus im ›Spiegel‹ und im Fernsehen, die Arroganz der als Witzemacher getarnten Moralgerichtshöflinge und Staatsclowns, es ist die Sprache der ›Sächsischen Zeitung‹, die inzwischen von Madsack gekauft wurde, so daß in Dresden mit drei Zeitungen, die zum gleichen Konzern gehören, ein wahrer Monopolist der Vielfalt entsteht. Dort vermag man Gesinnungskorridore auch im Jahr 2024 nicht zu erblicken und lügt den Pranger, an den jeder Kritiker der herrschenden Verhältnisse gestellt wird, zum Widerspruch um, den aushalten müsse, wer sich öffentlich äußert. Wohlmeinende, rechtschaffene Anzinker in Funktionärssesseln neuer alter Art.

Für die Ausgesonderten, die sogenannten Umstrittenen stellt sich die Frage, ob sie dahin zurückwollen, selbst wenn das Angebot käme. Zurück zur FAZ auf der Suche nach einer Staatsorgantreue, die sich nicht entblödet, die gegenwärtigen Proteste mit Brunnenvergiftung in Zusammenhang zu bringen, Coronakritik mit dem Wort Covidioten? In eine ›Süddeutsche Zeitung‹, die ihren Spitznamen ›Süddeutscher Beobachter‹ jeden Tag aufs neue aushandelt?

Wollen die Umstrittenen gelobt werden wie eine Juli Zeh, die in ihrem letzten Roman eine dunkelgrüne mit einer hellgrünen Position streiten läßt und dies mit fundamentaler Gesellschaftskritik verwechselt? Gelobt wie ein Kehlmann, der im Roman »Lichtspiel« Nazis so beschreibt, wie Nazis Juden beschrieben? Und keinem einzigen Kritiker, soweit mir bekannt, wurde es zum Problem, daß hier einer den ›Stürmer‹ einfach umklappt, im Gegenteil lagen diese Kritiker kompaniemäßig auf dem Bauche? Gehätschelt wie ein Ingo Schulze, der, auf der sicheren Seite der publizistischen Macht, sich öffentlich pseudo-besorgt, der Folgen seines samtenen Tadels wohl bewußt, über den Gebrauch der Begriffe Exil und Charta beugt und das BuchHaus Loschwitz als eines markiert, das den Falschen eine Bühne bietet?

Bernig ist nicht bereit, mit dem Wichtigsten und Unverhandelbarsten zu zahlen, der Aufrichtigkeit des Werks. Es ist mit den vorliegenden Essays, Einmischungen ins Zeitgeschehen, nicht im Eigentlichen erfaßt, auch wenn eine auf Skandal und Bezichtigung erpichte Öffentlichkeit den Dichter Jörg Bernig gern darauf verkürzt.

Das Eigentliche ist die Literatur, Werke wie die Romane »Dahinter die Stille«, »Niemandszeit«, »Weder Ebbe noch Flut«, »Anders«, »Eschenhaus«, die Erzählung vom »Wehrläufer«, Gedichtbände wie »Winterkinder«, »wüten gegen die stunden«, »in untergegangenen reichen«, »reise reise«, die behutsam-wunderbaren Betrachtungen in den Bänden »Der Gablonzer Glasknopf« und »An der Allerweltsecke«, die neben dem Wiener und Berliner Feuilleton ein drittes, eine Art böhmisches Feuilleton pflegen, bestes ›Prager Tagblatt‹, und jeder Zeitung, die noch ästhetische und nicht nur Gesinnungsansprüche hat, zur Ehre gereichen würden.

Reminiszenz an Thomas Manns Tod in Venedig
Die Flucht vor dem Leben
Die Aufrichtigkeit des Werks – sie äußert sich im Mißtrauen gegen die herrschende Sprache, die Erzählungen der Macht, dem Mut zur Abweichung und zum Widerspruch, der die soziale Existenz kosten kann. Für diesen Widerspruch haben früher Intellektuelle gestanden, so hat man sie und so haben sie sich verstanden. Heute sind einige als Gesinnungswächter dabei, viele schweigen, manche weichen aus, bekommen als Literaturpreise ausgegebene Wohlverhaltensprämien.

Bernig, ein Mensch der Stille, des Worts gibt seine Haut ins üble Spiel – weil er nicht anders kann. Du kannst nicht ruhig dichten, wenn die uns aufgegebenen Nullen zu zerstören versuchen, was du bist, was dir etwas wert und wichtig ist. Sein Werk wird von außen beschädigt, das Werk der Mitläufer, Mitmacher, der Mitschweiger aber von innen, im Kern. Unaufrichtig ist es, die Probleme unserer Gesellschaft auf Schlagetotwörter wie »rechts« oder gar »rechtsextrem« zu reduzieren, dagegen vom kulturellen Problem, das eine ungehemmte Migration mit sich bringt, von grüner und linker Ideologie zu schweigen; die manches Kennzeichen von Hysterie aufweisende Erzählung der sogenannten Klimakatastrophe als Dogma zu behandeln, das jeglichem Einwand enthoben ist. Wer einen Kritiker der Migrations- und Coronapolitik, der Energiewende, der achtlosen, nicht selten sogar bewußten Beseitigung unserer überlieferten Kultur als »rechtsextrem«, gar »Nazi« bezeichnet, wie es Jörg Bernig widerfuhr, hat nicht nur jeden Maßstab, sondern den Verstand verloren.

Wenn es nicht um Interessen, um Beseitigung unbequemer Meinung geht. Von der mit Lächeln betriebenen Ausgrenzung, dem Verrat in der Nachbarschaft, den Aufkündigungen von Freundschaft, gern von denen vorgenommen, die wortreich über Risse in unserer Gesellschaft klagen und von Haß und Hetze plärren, vom Zynismus, der Niedertracht angeblicher Schöngeister und Kollegen in Akademien und Verbänden wie dem PEN kann man in Bernigs Essaysammlung lesen. Er schlägt, wie einst Hermann Hesse, den Weg nach innen vor, in eine Gegenkultur zum herrschenden Zeitgeist. Als Aufgabe für den Schriftsteller die Beobachtung und genaue Registrierung aller Formen und Sprachen der Macht – um einer anderen Sprache willen, des Humanums, in einer anderen Öffentlichkeit.

Jürgen Fuchs schrieb anläßlich der Lektüre von Klemperers »LTI«: »Ich wagte mich vor zur Wirklichkeit, zur eigenen, zu der, die mich umgab. ›Beobachte, präge dir ein, was geschieht.‹« Aufgabe eines Künstlers, der den Namen verdient, ist es, sich um Aufrichtigkeit, im weiteren Sinn Wahrhaftigkeit des Werks zu bemühen, in diesem Bemühen so etwas wie Wahrheit wenigstens näherzukommen, trotz der eigenen Mängel, zu denen der Irrtum ebenso zählt wie Bequemlichkeit und ererbtes Vor- als Welturteil. Wie es der Dichter Franz Fühmann einst sagte: »Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens die Wahrheit erwählt haben.«

Alles Gute zum runden Geburtstag, lieber Jörg. Auf der Gegenseite des Kulturverlusts wächst Kulturvertrauen. »Habe Mut«!

Jörg Bernig, Habe Mut! Begleitschreiben. Texte aus zwei Jahrzehnten. Edition EXIL im BuchHaus Loschwitz, Klappenbroschur, 212 Seiten, 22,00 €.


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