Tichys Einblick
Somewheres und Anywheres

Die Ära der universellen Globalisierung ist am Ende

Die Erkenntnis, dass der Nationalstaat eine weitaus größere Rolle in der Gestaltung der Wirtschaft spielen sollte und es ein Fehler war, so viele Industriejobs nach China auszulagern, wächst. Wahlen werden durch die bis vor Kurzem für obsolet erklärte westliche Arbeiterklasse entschieden und zwar an den Orten, an denen sie lebt.

Gibt es einen deutschen Sozial-Konservatismus? Ist er in Deutschland vielleicht sogar eine maßgebliche politische Kraft, so wie in Skandinavien? Ja, sagen zumindest zwei namhafte britische Kommentatoren, die Deutschland genau dafür bewundern. Der erste ist Maurice Glasman, Abgeordneter für die Labour Party im britischen Oberhaus (House of Lords), Hochschullehrer und politischer Theoretiker.

Glasman, der nach eigener Aussage stark von seinem jüdischen Glauben und dem »katholischen Sozialgedanken« inspiriert ist, prägte 2009 den Begriff Blue Labour (In Großbritannien wird die Farbe Blau mit Konservatismus assoziiert) für eine Sozialdemokratie, die die konservativen Werte, denen viele Menschen aus der Arbeiterklasse anhängen, nicht bekämpft, sondern einbindet.

Inzwischen versteht man unter Blue Labour eine Strömung innerhalb der Labour Party mit festen Organisationsstrukturen und regelmäßig erscheinenden Publikationen. Das Blue-Labour-Lager ist eine heterogene Gruppe, die mal mehr und mal weniger Einfluss auf die Ausrichtung der Partei als Ganzes hatte. Zentral sind Forderungen nach einer Verringerung der Einwanderung und einem harten Vorgehen gegen die Kriminalität sowie die Ablehnung spaltender Identitätspolitik zu Gunsten einer Politik, die den Bürger- und Gemeinsinn fördert. Diese »konservativen« Positionen werden mit einem Einsatz für Arbeitnehmerrechte und einer linken Wirtschaftspolitik verbunden.

Wir hatten die Gelegenheit, mit Maurice Glasman über Blue Labour, Deutschland und das Potenzial einer »konservativen« Sozialdemokratie in Europa zu sprechen. »Deutschland war immer ein sehr, sehr wichtiges Land, ein wichtiger Inspirationspunkt für Blue Labour«, sagt Glasman. Der Politiker hebt insbesondere die betriebliche Mitbestimmung, die Achtung und den rechtlichen Schutz des Handwerks, die duale berufliche Ausbildung sowie die in den Sparkassen verkörperte Tradition der gemeinnützigen, kommunalen Kreditinstitute als vorbildliche deutsche Institutionen hervor, die im Vereinigten Königreich nach 1945 weitgehend abgeschafft wurden oder dort nie existierten.

TICHYS LIEBLINGSBUCH DER WOCHE
Eine Zeitreise durch Deutschlands Wirtschaftspolitik
Glasman ist bestürzt darüber, dass Deutschland seinen beträchtlichen Einfluss in der EU nicht nutzt, um sein eigenes Modell mit Betriebsräten, Handwerk und Co. als »Grundlage für die EU «durchzusetzen. Stattdessen sei mit deutscher Billigung und Beteiligung eine EU der »unverwässerten Märkte« entstanden, welche »die Institutionen, die das Fundament der deutschen Nachkriegsgesellschaft bilden«, aktiv bekämpfe.

Dennoch ist der linkskonservative Denker optimistisch, denn ab 2016 habe eine Reihe von Ereignissen, gipfelnd in der Pandemie, gezeigt, dass »die Ära der universellen Globalisierung« am Ende ist. Zunehmend setze sich in der britischen Politik und anderswo die Erkenntnis durch, dass der Nationalstaat eine weitaus größere Rolle in der Gestaltung der Wirtschaft spielen sollte und dass es ein Fehler war, so viele Industriejobs nach China auszulagern.

Wahlen würden zunehmend durch die bis vor Kurzem für obsolet erklärte westliche Arbeiterklasse entschieden und an den Orten, an denen diese lebt. In Großbritannien habe sich die seit 2019 regierende Conservative Party mit der »Levelling-up«-Politik den Kampf gegen soziale Ungleichheit und für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Landesteilen auf die Fahnen geschrieben, lobt der Labour-Abgeordnete den politischen Konkurrenten.

Die westliche Tradition der bürgerlichen Freiheiten ist eine Stärke und hat eine Zukunft, sagte Glasman den Autoren, nicht aber der Liberalismus, wenn damit eine »metaphysische Position« gemeint ist, die »die individuelle Selbstbefreiung von den Zwängen der Gesellschaft« propagiert und »Solidarität, gemeinsame Ziele, politische Demokratie und das Gemeinwohl« verachtet. Die westliche »Woke«-Bewegung ist für Glasman Ausdruck einer fragwürdigen Vorstellung im Liberalismus, wonach das Individuum von der Tradition und »allen sozialen Bindungen« befreit werden müsse.

Diese Vorstellung habe dazu geführt, »dass der Liberalismus antidemokratisch und in vielerlei Hinsicht autoritär geworden ist«. In der von einschlägigen Kreisen propagierten Transgender-Ideologie, der »verrückten« Idee, »dass man sich aussuchen kann, welches Geschlecht man hat«, sieht Glasman auch eine Verbindung zum »Hyper-Konsum«.

Narrativkapitalismus
Jenseits des Links-Rechts-Rasters
Noch überschwänglicher in seinem Lob für Deutschland als ein Land, dessen politische und gesellschaftliche Ordnung konservative und linke Elemente erfolgreich miteinander verbindet, ist David Goodhart. Der britische Publizist galt als linksliberaler Kommentator, bevor er wegen seiner unverblümten Kritik an der Masseneinwanderung in diesen Kreisen mehr oder weniger in Ungnade fiel.

Mit »The Road to Somewhere« landete Goodhart 2017 einen Bestseller-Erfolg. Das Sachbuch behandelt den Konflikt zwischen gebildeteren, wohlhabenderen, mobileren Überall-Menschen (Anywheres) und weniger gebildeten, tendenziell ärmeren, lokal oder regional verwurzelten Irgendwo-Menschen (Somewheres) im Vereinigten Königreich, wobei dieser fundamentale politische und normative Konflikt laut dem Autor auch andere westliche Demokratien prägt und neben dem Brexit-Votum zum Beispiel auch die Trump-Wahl erklärt.

Goodhart sieht Deutschland, insbesondere das CSU-regierte Bayern, als den Ort in Europa, der die beste Balance zwischen den Interessen und Prioritäten der Anywheres und denen der Somewheres gefunden hat. Wie Glasman lobt Goodhart, der von 1988 bis 1991 als Korrespondent der Financial Times in Deutschland lebte, die betriebliche Mitbestimmung und das duale Ausbildungssystem. Im Gegensatz zu Großbritannien sei Deutschland viel lokaler und föderaler strukturiert, es gäbe dort keine übermächtige Hauptstadt wie London und keine »globalen Universitäten«, die der Autor als Inkubatoren des zunehmend abgehobenen Anywhere-Weltbilds ausmacht.

Zwar habe die Flüchtlingskrise 2015 gezeigt, dass es auch in der deutschen Politik und Medienwelt viele Anywheres gebe, die »einem normalen Nationalgefühl misstrauen und zu postnationaler politischer Korrektheit neigen«. Aber insbesondere Bayern habe es geschafft, sich teilweise von diesem Trend zu isolieren. Laut Goodhart zeigt das prosperierende Bundesland, ähnlich wie die Schweiz und Österreich, dass sich Wertekonservatismus und wirtschaftliche Dynamik nicht ausschließen.

Fazit

Der Sozial-Konservatismus in seinen vielfältigen Formen ist nach unserer Einschätzung die Reaktion auf die Krise des Liberalismus, die sich, neben der inneren Emigration (…), in Europa langfristig am ehesten durchsetzen wird. Er spricht Menschen im Westen sowie im postkommunistischen Osten des Kontinents an. Auf den fruchtbarsten Boden ist er bisher dort gefallen, wo Menschen mit konservativer Grundhaltung Verteilungskonflikte, Lohndumping und/oder einen Verlust an Lebensqualität durch Masseneinwanderung befürchten, und die die vor allem vom westeuropäischen Establishment vorangetriebene »woke« Kulturrevolution als Angriff auf ihre Werte sehen. Manchmal geht es den Wählern sozial-konservativer Parteien auch darum, Wohlstandsverluste durch eine als übertrieben angesehene Klima- und Öko-Politik zu verhindern. (…)

Im Würgegriff der Demagogen
Die Lage ist bedrohlicher, als viele Menschen wahrhaben wollen
In Deutschland ist die AfD derzeit als einzige populistische Kraft in der Lage, eine bedeutende Anzahl von Wählern zu mobilisieren. Zu der rechtspopulistischen Partei gesellt sich seit Kurzem das linkspopulistische Bündnis Sahra Wagenknecht, dessen Potenzial noch schwer einzuschätzen ist. Die beliebte Linkspartei-Abtrünnige und Co-Vorsitzende der im Aufbau befindlichen Partei bezeichnet ihr wirtschaftspolitisch linkes, gegen Masseneinwanderung und Identitätspolitik gerichtetes Programm selbst als »linkskonservativ«. (…) Die Wagenknecht-Partei dürfte für den politischen Mainstream etwas satisfaktionsfähiger sein, wobei auch hier kein auf Anhieb geeigneter Koalitionspartner in Sicht ist. Dass die AfD oder eine linkspopulistische Partei allein die absolute Mehrheit im Bundestag erringen wird, erscheint sehr unwahrscheinlich.

Auf Landesebene ist es aber, besonders im Osten, durchaus denkbar. Für den »dänischen Weg« eines vom Establishment getragenen Sozial-Konservatismus kommen derzeit nur CDU, CSU und Freie Wähler in Frage. Der Einfluss der beiden letztgenannten Parteien ist de jure beziehungsweise de facto auf Bayern beschränkt. Die Union müsste, um eine echte sozialkonservative Kraft zu werden, mit einer deutlich restriktiveren Haltung in Migrationsfragen überzeugen und wohl auch (wie in den letzten Jahren die britischen Tories) wirtschaftspolitisch nach links rücken. Immerhin scheint dies viel wahrscheinlicher, als dass die SPD den dänischen Weg einschlägt. Trotz der aktuell auch aus dieser Partei zu vernehmenden Lippenbekenntnissen zu einer reduzierten und besser gesteuerten Migration würden die erwoketen deutschen Sozialdemokraten wohl eher das Willy-Brandt-Haus in Brand setzen, als wirklich etwas von der dänischen Schwesterpartei zu lernen.

Die oben zitierten Ausführungen der britischen Denker Maurice Glasman und David Goodhart zeigen, dass Deutschland sehr gute institutionelle Voraussetzungen für eine sozial-konservative Politik hat. Kann es dem deutschen Establishment-Konservatismus gelingen, auf dieser Basis einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schmieden, der die Arbeiter- und untere Mittelschicht »mitnimmt«?

Kann er gleichzeitig dem großen Druck widerstehen, der von Teilen der Eliten aufgebaut wird, sich zu einer Vielzahl von als alternativlos deklarierten »progressiven« Dogmen zu bekennen? Dogmen, die wohlgemerkt von einer großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden. Die Zukunft des sozialen Friedens in Deutschland könnte davon abhängen.

Leicht gekürzter Auszug aus:
Kolja Zydatiss / Mark Feldon, Interregnum. Was kommt nach der liberalen Demokratie? LMV, Klappenbroschur, 392 Seiten, 24,00 €.


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