Tichys Einblick
Notizen aus der Ampel-Republik

Deutschland – Vom Exportweltmeister zur moralischen Weltspitze

In einem Land, in dem Minderleister wie Claudia Roth, Frank-Walter Steinmeier und Manuela Schwesig politische Karrieren machen konnten, Richard David Precht als Philosoph gilt und Robert Habeck den Ludwig-Börne-Preis bekommt, in einem solchen Land ist etwas schiefgelaufen, irreversibel.

In jedem Land gibt es ein gewisses Quantum an Bereitschaft, seinen eigenen Illusionen zu verfallen, sich zu überschätzen und so zu tun, als könnte man das Rad der Geschichte dorthin lenken, wo eine »gerechte Gesellschaft« hinter dem Horizont aufscheint. Man müsse sich nur verbünden, vernetzen, einander unterhaken, fair gehandelten Maracujasaft trinken und mindestens einen längeren Text von Achille Mbembe über Kolonialismus und Postkolonialismus gelesen haben.

Einfacher formuliert: In einem Land, in dem Minderleister wie Claudia Roth, Frank-Walter Steinmeier und Manuela Schwesig politische Karrieren machen konnten, Richard David Precht als Philosoph gilt und Robert Habeck den Ludwig-Börne-Preis bekommt, in einem solchen Land ist etwas schiefgelaufen, irreversibel. Es macht keinen Unterschied, ob der Bundespräsident den iranischen Ayatollahs zum Jahrestag der Islamischen Revolution gratuliert oder einer Holocaustüberlebenden, die sich »gegen das Vergessen« engagiert, zu ihrem 100. Geburtstag. Glückwunsch ist Glückwunsch.

Genau genommen, macht überhaupt nichts mehr einen Unterschied. Jede und jeder kann alles. Würde Lisa Paus, die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, mit Steffi Lemke, der Ministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, tauschen, fiele das nicht auf. Es fragt auch keiner, wozu Deutschland eine Ministerin für nukleare Sicherheit braucht, obwohl kein Atommeiler mehr in Betrieb ist.

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Svenja Schulze, ihrerseits »Münsteranerin, Sozialdemokratin, MdB und Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung«, könnte die Jobs von Lisa Paus und Steffi Lemke übernehmen, ohne ihr Amt aufzugeben, sie ist eine echte Multitaskerin. Ihre 38 960 Follower hält sie via Twitter auf dem Laufenden. Von einer Dienstreise nach Indien twitterte sie heim: »Ein großer Teil der indischen Bevölkerung lebt vom Ganges & seinen Zuflüssen. Wir unterstützen die indische Regierung dabei, die Flüsse wieder sauber zu kriegen. Das ist gut für Indien, aber auch für die ganze Welt. Denn durch die Weltmeere sind wir alle miteinander verbunden.«

Diese Erfahrung musste schon Christoph Kolumbus machen, als er im Oktober 1492 die Bahamas erreichte, obwohl er eigentlich nach Indien wollte. Durch die Weltmeere sind wir alle miteinander verbunden. Die Flüsse wieder sauber zu kriegen ist allerdings nur eines der vielen Projekte, die »wir« im Rahmen der »bilateralen Entwicklungszusammenarbeit« mit Indien unterstützen. Wie das BMZ Anfang Februar 2023 als Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD erklärte, hat das von Svenja Schulze geführte Haus allein im Jahre 2022 Indien 987,52 Millionen Euro zugesagt, also fast eine Milliarde Euro.

Was die künftige Zusammenarbeit bis 2030 angeht, so wolle »Deutschland im Zuge der mit Indien vereinbarten Partnerschaft für grüne und nachhaltige Entwicklung mindestens zehn Milliarden Euro bereitstellen, unter anderem für den Ausbau agrarökologischer Ansätze im Umfang von 300 Millionen Euro bis 2025 und für den Ausbau erneuerbarer Energien bis 2025 im Umfang von einer Milliarde Euro«. Deutschland unterstütze »Indiens Bemühungen, Armut, Hunger und Ungleichheit mit Blick auf die Verwundbarsten zu überwinden sowie die soziale und wirtschaftliche Transformation hin zu Klimaneutralität und Klimaresilienz in die eigene Hand zu nehmen und weitere Reformen voranzubringen, etwa im Energie-, Stadt- und Transportsektor, der Landwirtschaft und der nachhaltigen Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen«.

Dass der Boden der deutschen Geschichte bis nach Palästina reicht und die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wird, das ist schon eine Weile bekannt und hat in der politischen Praxis zu etlichen »Verwerfungen« geführt. Jetzt kommt die deutsche Verantwortung für die soziale und wirtschaftliche Transformation hin zu Klimaneutralität und Klimaresilienz in Indien dazu. Diese Aufgabe sollen die Inder zwar »in die eigene Hand« nehmen, aber die Anschubfinanzierung würde aus Deutschland kommen. Wie sonst sollen die Einheimischen mit der nachhaltigen Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen zurechtkommen?

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Kurz zuvor, im Januar 2023, flog Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze nach Brasilien, mit 200 Millionen Euro im Handgepäck, eine Art Gastgeschenk, mit dem das BMZ »die neue brasilianische Regierung in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit« unterstützen wollte. So wie es auch in der Eifel und im Westerwald der Brauch ist, wenn neue Nachbarn in das Haus gegenüber einziehen – man geht rüber, stellt sich vor und bringt einen gedeckten Apfelkuchen mit. Sie sei nach Brasilien gekommen, gab Ministerin Schulze bekannt, »um Gespräche zu führen und zuzuhören«. – »Wo können wir unterstützen, was erwarten die Menschen hier von Deutschland? Dabei geht es immer wieder um die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft und die enormen Aufgaben, vor denen die neue Regierung steht.«

Wobei sie offen ließ, ob die deutsche Regierung bei der Spaltung der brasilianischen Gesellschaft hilfreich sein könnte oder eher verhindern sollte, dass es so weit kommt. So rum oder andersrum, der »Strukturwandel« werde »nur gelingen, wenn er gleichzeitig sozial ist, wenn es gerecht zugeht und wenn nicht einzelne Regionen oder Bevölkerungsgruppen zurückgelassen werden«, wenn er also so gemanagt wird wie in der Lausitz und in den rheinischen Braunkohlegebieten. Vom Erfolg des Strukturwandels hänge viel ab, »für uns alle«. Denn: »Der Wald im Amazonas ist die grüne Lunge der ganzen Welt. Ohne Brasilien wird Klimaschutz nicht funktionieren.«

Ohne Kolumbien auch nicht. Mitte Juni gab das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit bekannt, Deutschland und Kolumbien wollten »beim Klimaschutz künftig eng zusammenarbeiten«. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Bundesumweltministerin Steffi Lemke und die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Anna Lührmann hätten gemeinsam mit dem kolumbianischen Außenminister Álvaro Leyva Durán »eine Partnerschaft für Klima und eine gerechte Energiewende« vereinbart. Aus diesem Anlass stellte Ministerin Schulze »eine zusätzliche finanzielle Unterstützung von bis zu 200 Millionen Euro für die Umsetzung der nationalen Klimaziele Kolumbiens in Aussicht«. Im Klartext: Der deutsche Michel kommt für die Kosten der nationalen Klimaziele Kolumbiens auf.

Wenn es aber eine »Zusammenarbeit« sein soll, dann müsste man sich die Unkosten eigentlich teilen, oder? Alternativ dazu könnte die Bundesregierung die Kollegen und Kolleginnen in Bogotá bitten, einen Teil der Ausgaben für die Behandlung und Betreuung drogenkranker Menschen zu übernehmen, die Kokain, Kolumbiens wichtigsten Exportartikel, konsumiert haben. Seltsam, dass keiner der an dem Partnerschaftsabkommen beteiligten deutschen Minister auf diese Idee gekommen ist.

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Es könnte damit zu tun haben, dass es eine Entwicklungszusammenarbeit nicht nur mit befreundeten Großabnehmern deutscher Hilfsangebote gibt, sondern auch mit Ländern, die nicht einmal den geringsten Ansprüchen an rechtsstaatliche Prozeduren genügen, Afghanistan zum Beispiel. 2021 hat Deutschland dem Land »600 Millionen Euro für humanitäre Hilfe, strukturbildende Übergangshilfe und Basisversorgung zur Verfügung gestellt«. Dabei wies die Bundesregierung jeden Verdacht, das Geld oder ein Teil davon könnte in den Kassen der Taliban landen, als unbegründet zurück.

»Schwerpunkte« der deutschen »Entwicklungszusammenarbeit« mit Afghanistan seien »die Förderung von Grund- und Berufsbildung sowie nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung, ein verbesserter Zugang zu Energie und Trinkwasser, ein leistungsfähigeres Gesundheitswesen und die Förderung guter Regierungsführung«. Zumindest was den letzten TOP der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan angeht, muss man zugeben, dass sich die Mühen gelohnt haben. Effektiver als nach der Rückkehr der Taliban ist das Land noch nie regiert worden.

Wenn Milliardenschulden zu »Sondervermögen« umetikettiert werden, wenn die Regierung verspricht, die Bürokratie zu verschlanken und die Abläufe zu vereinfachen, während die Zahl der Regierungsmitarbeiter alle Rekorde bricht, wenn sich der Kanzler und seine 16 Minister eine steuerfreie Inflationsprämie von 3000 Euro pro Kopf »zur Abmilderung der Folgen der gestiegenen Verbraucherpreise« genehmigen, wenn die Inflation so lange geleugnet wird, bis sie zweistellig geworden ist, und wenn darüber debattiert wird, ob Geiselnahme, Freiheitsberaubung und Nötigung unvermeidliche Kollateralschäden im Kampf gegen die Klimakatastrophe sind, die hingenommen werden müssen, weil sie einem guten Zweck dienen; wenn dementsprechend ein Berliner Landgericht den Tatbestand der Nötigung nicht verwirklicht sieht, da den Autofahrern »ein Umsteigen auf den öffentlichen Nahverkehr … generell möglich« sei; wenn demnächst ein Gesetz verabschiedet wird, das es jedem Mann erlaubt, sich zur Frau zu erklären, weil er sich »als Frau fühlt«, wie es Familien- und Frauenministerin Lisa Paus erklärt hat – dann ist es zu spät, um »den Anfängen zu wehren«!

Dann muss man sich mit der Rolle des Protokollanten bescheiden und versuchen, nicht verrückt zu werden. Keine leichte Aufgabe, aber von allen möglichen Optionen immer noch die beste.


Auszug aus:
Henryk M. Broder / Reinhard Mohr, Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik. Europa Verlag, Klappenbroschur, 224 Seiten, 20,00 €.


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